(Karpatentour September/Oktober 2011 – Rumänien)
Leider konnte ich nicht alle Etappen der Wanderung auf der Karte rekonstruieren.
Meine letzte Bergwanderung, wo ich abends mein Zelt aufbaute und mich vom mitgeschleppten Essen aus dem Rucksack verpflegte, lag rund 5 Jahre zurück. Jetzt wollte ich endlich wieder mal zu einer klassischen Bergtour aufbrechen. Mit Zelt und Rucksack durch die Karpaten laufen. Der westliche Teil der Südkarpaten schien mir dafür gut geeignet.
Im Retezat stand der Felsengrat der Porțile Închise sowie der Tibetanerweg schon lang auf meinem Wunschzettel. Das Godeanu-Gebirge musste ich mit meinem Wanderfreund Uli 1997 fluchtartig verlassen, als Ende Mai fast ein Meter Neuschnee gefallen war. Jetzt wollte ich einen neuen Versuch wagen und dem Hauptkamm folgen bis hinüber ins Țarcu-Gebirge. Einem Massiv, dessen kahle Kuppen ich vom Stausee Gura Apei jedes Mal sehnsüchtig betrachtete und mir vorstellte, dort mal entlang zu wandern, wenn ich von Touren im Retezat heimkehrte. Nun war sie fällig – eine Runde durch die Südkarpaten in den Massiven Retezat, Godeanu und Țarcu.
Der Nachtzug aus Wien erreicht Deva fast pünktlich. Es ist 7 Uhr, als ich aus dem Zug klettere. Der Morgen ist kühl. Răzvan wartet auf dem Bahnsteig. Seit meinem letzten Rumänienbesuch sind mehr als drei Jahre vergangen. Damals paddelten wir gemeinsam auf den Flüssen Goldene Bistritz und Nera. Jetzt wollen wir die erste Hälfte der Bergtour gemeinsam wandern.
Doch bevor es in Richtung Berge geht, haben wir noch Zeit für ein typisch rumänisches Frühstück mit frischem Weißbrot, Tomaten, Schafskäse und – klar ein Gläschen Țuica. Răzvan hatte schon im Vorfeld die Anfahrt ins Gebirge organisiert. Petre, ein Arbeitskollege, wird uns bis Pui bringen, einem Dörfchen am Fuße der Retezat-Berge. Von dort wird uns dann Ionică, noch ein Kollege von Răzvan, bis zur Hirtenalm Stâna de Râu fahren. Ich bin mir nicht sicher, ob es Sinn macht, noch mal Geld zu wechseln. Immerhin hatte ich schon mal ein wenig in Deutschland getauscht. Da wir uns jedoch nicht auf Shoppingtour begeben, lasse ich es.
Um 11 Uhr geht es los. Wir verstauen unsere Rucksäcke in Petres Opel und auf geht's in den Süden. Doch schon an der ersten Tankstelle wird gehalten. Răzvan braucht noch ein Feuerzeug. Kaum ist er weg, kommt er auch schon zurück, erfolglos. „Die waren zwar elektronisch, funktionierten aber nicht,“ – so sein Kommentar. An der nächsten Tankstelle hatte er mehr Glück, und auch ich bekam noch ein Feuerzeug. Nun hatte ich 3 – zur Sicherheit halt. Wäre auch blöd so auf 2000 m in einem Bergsattel zu hocken und sein Abendmahl nicht einnehmen zu können, weil einem der Feuerstarter verreckt ist. Entsprechende Erlebnisse hatte ich ja schon. Jetzt konnte es ungehindert nach Pui gehen. Wir erreichen das Dorf nach rund einer Stunde.
Ionică und sein Sohn Alin erwarten uns bereits. Die beiden werden uns bis zur Hirtenalm Stâna de Râu fahren, im Ostteil des Retezatgebirges. Im Hof steht schon ein Nissan-Navara der Nationalparkbehörde in „pole position“. Ionică arbeitet als Ranger im Retezat-Nationalpark. Doch bevor wir starten, geht es in den Garten und wir bekommen einen Sack voll Tomaten als Wegzehrung, Bier für den Durst und damit uns abends im Gebirge nicht kalt wird, kommt auch noch eine Flasche Țuica ins Gepäck.
Der Zivilisation den Rücken kehren, ohne die beste Gulaschsuppe probiert zu haben, geht schon mal gar nicht. So folgen wir Răzvans Tipp und kehren ein in die Hanul Boleștilor, einer Herberge in der Nachbargemeinde Petros. Die Gulaschsuppe kann ich nur empfehlen. Răzvan hatte nicht zu viel versprochen.
Die Forststraße durch das Tal des Râu Bărbat zieht sich über 30 km durch den Bergwald. Hier ließ Ceaușescu das Holz schlagen für seinen Volkspalast, erzählt mir Răzvan. Noch immer zeugen kahle Hänge von den Rodungen. Zu Fuß hätte uns der Aufstieg zur Alm einen ganzen Wandertag gekostet. Allradgetrieben dauert das Geruckel und Geholper 1 ½ Stunden. Bis zu unserem Tagesziel laufen wir noch eine knappe halbe Stunde.
Ende September ist es ruhig geworden in den Retezat-Bergen. Sowohl die Hirten als auch die Leute vom Bergrettungsdienst SALVAMONT haben ihre Stützpunkte verlassen. So können wir unser Basislager in der Schutzhütte der Bergwacht einrichten. Ionică lädt den Müll, der sich in der Hütte angesammelt hat, in seinen Nissan. In zwei Tagen will er noch mal vorbeischauen und auch unseren Müll mitnehmen. Das ist für uns sozusagen eine offizielle Lizenz zum Bier trinken. Wir verabschieden uns von Ionică und Alin und beziehen unser Nachtlager unter dem Hüttendach.
Unsere erste Bergwanderung im Retezat ist als Tagestour geplant. Wir wollen hinauf zum Bergsee Tău Țapului, von dort irgendwie querfeldein den Hang hinauf bis zum Vârful-Mare-Sattel und über den Felsgrat der Porțile Închise auf den zweithöchsten Gipfel des Gebirges – der Păpușa (2508 m). Dem Păpușa-Custura-Bergkamm folgend soll es den Tibetanerweg hinunter zurück zu unserer Bergwachthütte gehen. Eine lange Tour, das heißt, wir müssen uns früh aus den Schlafsackfedern schälen.
Es ist schon hell, als wir um 7 Uhr aufstehen. Ich knabbere ein paar Nüsse, Răzvan macht sich Müsli, dann brechen wir auch schon auf. Ein paar Meter hinter der Hütte queren wir den Bărbat-Bach, nach rechts führt der Pfad mit blauem Dreieck markiert in Richtung Baleia-Hütte. Wir folgen einem unscheinbaren Pfad direkt vor der Nase etwas links den Hang hinauf. Ab und zu zeigen uns Steinmännchen oder rote Punkte an den Baumstämmen, dass wir noch auf dem rechten Weg wandeln. Răzvan glaubt, dass die Markierungen von Wilderern stammen, die hier im Gebirge illegal Gämsen jagen.
Eine reichliche halbe Stunde mühen wir uns durch den Wald, dann wird es lichter. Auf einer kleinen Wiese steht eine verfallene Almhütte. Der Boden zu unseren Füßen ist aufgewühlt – waren es Bären oder Wildschweine? Prächtige Exemplare der Zirbelkiefer ragen in den blauen Himmel. Über den Berggipfeln sammeln sich lokale Quellwolken, ein Zeichen für gutes Wetter. Das Gelände ist nun offener. Auf einem grasbewachsenen Geröllhang steigen wir weiter nach oben. Ein Bächlein sprudelt zwischen dunkelgrünen Latschenkiefern hervor. Doch die Idylle ist trügerisch. Wie angewurzelt bleibt Răzvan plötzlich stehen. Ich kann nichts sehen. Doch da! Einen knappen Meter vor seinen Schuhspitzen windet sich aufgeregt zischend ein brauner Schwanz zwischen den Grasbüscheln. „Viper!“ höre ich ihn rufen. Die Kreuzotter ist etwa 70 cm lang und mindestens genauso gestresst wie Răzvan. Mit aufgerichtetem Köpfchen züngelnd sucht sie ihr Heil in der Flucht. Als Răzvan seinen Fotoapparat betriebsbereit hat, schaut nur noch das Schwanzende unter einem Latschenzweig hervor. Dann ist die Schlange verschwunden. Vorsichtig schauend, wo wir unsere Füße platzieren, geht es weiter. Es sollte jedoch unsere einzige Begegnung mit Vipern werden.
Die nächste Gletscherstufe kommt in Sicht. Eineinhalb Stunden sind wir nun schon unterwegs, als vor uns das Wasser des Tău Țapului in der Sonne glitzert. Wenig Wasser ist in dem See. Zu der Insel im See gelangen wir trockenen Fußes über eine Reihe ausgelegter Steine. Den ganzen September ist kein Tropfen Regen gefallen, berichtet mir Răzvan. Die Wasserknappheit sollten wir auf der ganzen Bergtour noch zu spüren bekommen.
Hier am See endet auch unser Pfad, ab jetzt geht es querfeldein über Geröll und steile Grasstufen eine Rinne hinauf. Sie endet im Șaua Lacului, einem kleinen Bergsattel westlich des Vârful Lacului. Ionică hatte uns den Weg empfohlen. Oben im Sattel sehen wir zum ersten Mal den Gipfel der Păpușa, aber auch den Weg dorthin, den gezackten Felsgrat der Porțile Închise. „Geschlossene Tore“ bedeutet der Name des Grates, da es keinen Durchgang gibt zwischen dem Gletscherkessel des Tău Țapului im Südosten und dem Lacul Galeș im Nordwesten. Nach einem kurzen Stück über den Bergkamm stehen wir im Vârful-Mare-Sattel. Ein rostiger Wegweiser zeigt nach Südwest. „Porțile Închise – V. Păpușa 3 – 3 ½ h“ steht drauf und die Markierung des Abschnittes, das rote Band. Meine alte Retezat-Wanderkarte von 1982 zeigt mir einen unmarkierten Pfad über den Porțile-Închise-Grat und die neue Karte von 2009 hat den Pfad gleich ganz unterschlagen. Auch die Zeitangabe scheint mir etwas großzügig formuliert.
Die Kraxelei über den Felsgrat ist nicht schwierig. Ab und zu nervt mich meine Fototasche vorm Bauch, da ich meine Füße nicht sehe, aber es klappt trotzdem irgendwie. Da waren die Wege in der Westtatra anspruchsvoller. Doch schön ist er. Tief zu unserer Rechten liegt blau der Galeș-See, auf der anderen Seite blinkt der Tău Țapului herauf. Der Grat endet in einem kleinen Plateau, welches sanft zum Vârful Țapului hin ansteigt. Wir traversieren hoch über dem Gletscherkessel mit dem Bergsee Lacul Adânc, dem „Tiefen See“, und erreichen den Fuß der Păpușa. Es ist die Schlüsselstelle unserer Wanderung. Ein mit Stahlseilen gesicherter Felsabschnitt bildet den Einstieg zum Gipfelweg auf die Păpușa. Nach einer halben Stunde stehen wir auf dem zweithöchsten Gipfel des Retezat – der „Puppe“. Seinen Namen erhielt der Beg von den Schafhirten, die so auch ihre Steinmännchen nannten, welche die Bergpfade markierten. Um uns herum breitet sich ein atemberaubendes Bergpanorama aus. Gegenüber, nur einen Meter höher, der Peleaga-Gipfel (2509 m). Hinter uns, im Norden, der Weg, den wir gelaufen sind, entlang der Porțile Închise bis hin zum Vârful-Mare-Gipfel (2463 m). Im Westen der Namensgeber des Gebirges – Vârful Retezat (2482 m) und im Osten weit unten die Stâna de Râu, unser Lagerplatz.
Knapp 2 Stunden haben wir gebraucht vom Vârful-Mare-Sattel bis zum Păpușa-Gipfel. Deutlich weniger also, als auf dem Wegweiser stand. Nach einer kurzen Rast beginnt unser Abstieg. Steil geht es die Südostflanke der Păpușa hinab. Den Gipfel der Păpușa Mică umgehen wir und folgen dem Păpușa-Custura-Kamm bis zum Beginn des so genannten Tibetanerweges. Der Abschnitt Stâna de Râu – Vârful Custura wurde von Georg Hromadka in seinem Artikel im „Komm Mit 1976“ als Tibetanerweg vorgestellt. Jetzt bot sich mir die Gelegenheit, den Weg kennen zu lernen. Die Markierung blaues Dreieck ist immer noch präsent. Und auch die großen Steinmänner, die schon fast an Manimauern erinnern, finden sich auf dem Weg, der in langen Serpentinen hinunter ins Tal des Râu Bărbat führt. Eine Stunde und 45 Minuten dauert unser Abstieg zurück zur Bergwachthütte. Wir sind müde und durstig. Seit dem Aufstieg vom Tău Țapului gab es kein Wasser mehr. 8 ¾ Wanderstunden stecken uns in den Knochen, als wir unsere Unterkunft erreichen. Es waren wohl meine interessantesten 8 ¾ Stunden im Retezat. Der Râu Bărbat spült uns den Dreck vom Körper und das letzte Bärenbier ein wenig die Müdigkeit aus den Beinen.
Morgen startet unsere eigentliche Rundtour, mit vollem Gepäck wird es hinauf zu den Bergseen Ciomfu Mare sowie dem Kleinen und Großen Custura See gehen und dann über den Custura-Gipfel nach Westen bis zum Plaiul-Mic-Sattel im Kleinen Retezat.
Wir lassen uns Zeit am Morgen. Bis die Ausrüstung im Rucksack steckt und wir etwas gegessen haben, ist es Viertel vor neun. Wir treten vor die Hütte und wollen gerade unsere Schritte bergauf lenken, als ein Ruf ertönt. Viorel, so um die 50, kommt aus Galați und ist den weiten Weg bis ins Retezat gefahren, um einen Tag hinauf zu den Custura-Seen zu wandern. Răzvan ist beeindruckt und auch ich staune nicht schlecht. Immerhin sind das mehr als 600 km pro Strecke. Wir beginnen den Aufstieg gemeinsam. Es geht vorbei an den Ciomfu-Wasserfällen, spärliche Rinnsale ergießen sich über den schwarzen Fels in die Tiefe. Zur Schneeschmelze im Frühjahr müssen die Wasserfälle recht imposant aussehen, denke ich mir. Der Pfad ist nicht markiert. Auf meiner aktuellen Retezat-Karte taucht er nicht auf, nur die alte Karte zeigt den Aufstieg. Ein guter Grund, alte Wanderkarten niemals auszusondern.
Meistens geht es über steile Grasflecken aufwärts. Tauchen Bergkiefern auf, wird die Wegsuche schwieriger. Răzvan hat sein GPS dabei, und wenn der Empfang passt, zeigt es unseren Standort und auch unser Ziel. Allerdings genügt mir oft ein Blick in die Runde und ich weiß auch ohne Hilfe von Hightech-Elektronik, wo es langgeht. Nach einer Stunde und 45 Minuten haben wir den ersten Bergsee erreicht – der Lacul Ciomfu Mare. 2040 m hoch liegt das Meerauge im Gletscherkar zwischen dem Ciomfu-Mare-Bergkamm im Osten und dem Păpușa-Custura-Kamm im Westen. Sonnenreflexe tanzen auf dem Wasser des Sees. Das Gras ringsum hat sich goldgelb verfärbt. Wir nehmen einen Schluck aus unseren Wasserflaschen machen ein paar Fotos und steigen dann weiter hinauf. Viorel will noch ein wenig Pause machen und später nachkommen.
Langsam geht es weiter. Der Rucksack mit seinen rund 28 Kilo drückt gewaltig auf meinen Schultern. Immerhin kann ich mich trösten, er wird täglich leichter. Viertel vor zwölf erreichen wir den Gletscherkessel mit den Custura-Seen. Von den drei Meeraugen-Seen zeigt sich uns nur der Kleine-Custura-See. Der Große versteckt sich hinter einer Moräne aus Geröll. Vom winzigen Tăulețul Custurii zeugt nur noch eine Pfütze zwischen schlammverschmierten Geröllklumpen.
Bevor wir uns aufmachen den Hauptkamm im Mariensattel zu besteigen, füllen wir noch mal unsere Trinkflaschen, denn eins ist sicher: Bis zu unserem Tagesziel, dem Sattel Plaiul Mic, werden wir kein Wasser mehr finden.
Inzwischen ist auch Viorel eingetroffen, uns bleibt nur noch Zeit, Ade zu sagen. Der Aufstieg gestaltet sich als recht mühsam. Bevor wir nach oben steigen, heißt es ein Geröllfeld queren. Wir kommen sehr langsam voran und es ist auch nicht ungefährlich. Die Steine sind nicht immer fest verkeilt, manchmal gibt so ein Brocken nach, wenn man gerade draufsteht, was einen unkontrollierten Satz nach vorn zur Folge hat. Also gewöhne ich mir an, erst einen Fuß auf so einen Felsbrocken zu setzen, vorsichtig zu testen, ob der nicht wackelt – und dann mich und meinen Rucksack hinaufzudrücken. Dass meine Knie nicht meckern, erstaunt mich. Eines weiß ich – daheim werde ich meine Wanderausrüstung erst einmal grundlegend reformieren.
Meter um Meter stolpern wir vorwärts, das Geröll bleibt hinter uns zurück, aber das Gelände wird steiler. Viorel gibt von unten Anweisungen, in welche Richtung wir uns bewegen sollen, das klappt recht gut. Nach einer halben Stunde stehen wir auf dem Kamm, vor uns im Westen der Custura-Gipfel, hinter uns im Osten der Gipfel Valea Mării (Marientalgipfel).
Hier gibt es auch wieder eine Wegmarkierung, ein gelbes Kreuz. Wir folgen ihm und stehen nach einer dreiviertel Stunde auf dem höchsten Punkt unserer Etappe – dem Vârful Custura (2457 m). Nach Osten zieht sich die imposante Gruniu-Kette, unser Weg aber führt nach Westen, hinunter in den Plaiul-Mic-Sattel und somit in die Berge des Kleinen Retezat.
Über zwei Stunden dauert der Abstieg. Vom Custura-Gipfel hatten wir die Păpușii-Seen in der Sonne leuchten sehen. Ich hoffe, das Wasser dort ist genießbar, meine Trinkflasche ist nicht mehr ganz voll. Doch ich werde enttäuscht. Das Seeufer ist verschlammt, Hufspuren zeichnen sich ab, und die Farbe des Wassers ist bräunlich trüb. Zum Abendessen reicht es noch, doch morgen früh werde ich wohl mit leeren Flaschen loslaufen. Versteckt zwischen Latschendickicht bauen wir unsere Zelte auf. Eigentlich ist es verboten, hier oben zu zelten. Doch sowohl der Abstieg nach Süden zur Cabana Buta, als auch nach Norden zur Poiana Pelegii, dauert etwa eine Stunde. Ein Weg, den wir früh auch wieder hinauf müssen.
Als die Sonne hinter den Ausläufern des Retezat verschwindet, wird es kühl. Am Himmel blinken die ersten Sterne zu uns herunter, und gegenüber im Hauptmassiv sehen wir ebenfalls etwas blinken. Mal verschwindet das Licht, dann taucht es wieder kurz auf. Erst auf Höhe Bucura-See bleibt es finster. Irgendjemand schien sich wohl etwas im Timing vertan zu haben.
Eiskristalle fallen mir ins Genick, als ich früh aus dem Zelt krabble. Das Gras ist weiß, und auch der Rest Wasser in meiner Trinkflasche ist gefroren. Die Sonne schiebt sich viel zu langsam über die Berghänge. Wir tragen unsere Zelte zu den ersten Sonnenstrahlen und hoffen, sie trocknen ein wenig. In der Zwischenzeit genieße ich die herrliche Morgenstimmung im Sattel. Der braune Păpușii-Tümpel leuchtet jetzt tiefblau vor dem Panorama des Retezat-Gebirges.
Das Wasser an meinem Zelt will nicht weichen, das aus meiner Trinkflasche habe ich ausgetrunken. Nicht nur der strahlend blaue Himmel verspricht einen trockenen Tag, auch meine Karte tut es. Laut dieser werden wir heute nur an einer Quelle vorbeikommen. Wir wollen auf rotem Band dem Kamm des Kleinen Retezat folgen. Wie weit, wird unser Allgemeinempfinden entscheiden.
Da das Zelt nicht trocknen will, packe ich es eben nass ein. Anfangs führt der Weg durch einen dichten Wald aus Latschenkiefern. Wir laufen wie durch eine Allee, die Zweige bilden über unseren Köpfen Rundbögen. Nach einer Weile wird es lichter, wir erreichen das Drăgșanu-Plateau. Am Horizont erheben sich schon die ersten Berge des Godeanu-Massivs – der Borăscu mit seinem weitläufigen Grasplateau. Doch der Weg ist noch weit. Nach eineinhalb Stunden erreichen wir besagte Quelle – Izvoru la Bolboroși (Sprudelquelle) genannt. Arg sprudelt das Wasser nicht mehr hervor. Mit unseren Berghaferln füllen wir Schluck um Schluck in unsere Flaschen. Mit 2 ½ kg Mehrgewicht schleppe ich mich den Albele-Berg hinauf. Das Gestein unter meinen Schuhen ist weiß – Kalk. Der Kalkstein des Kleinen Retezat bildet zerklüftete Felsformationen. Die bekannteste ist der 2014 m hohe Piatra Iorgovanului. Benannt nach einem rumänischen Sagenheld, der hier mit einem Drachen gekämpft haben soll und diesen auch ins Jenseits befördert hat. Eine Kerbe im Fels soll von seinem Schwerthieb herrühren, als er dem Drachen den Kopf abschlug. Wir lassen am Fuß des Felsens unsere Rucksäcke liegen und steigen dem Heldenberg aufs Haupt.
Răzvan nutzt die Gelegenheit, um vom Gipfel seine Frau zu kontaktieren und nach dem Wetter zu fragen. Zwar kann er nicht anrufen, aber immerhin eine SMS verschicken. Da sage noch mal jemand, die Karpaten wären wild und zivilisationsfern.
Hinter dem Kalkfelsen geht es in den Iarului-Sattel. Das rote Band zeigt sich ab jetzt nicht mehr so oft. Ab und zu müssen wir schauen, wo es weitergeht.
Nach 6 Stunden wandern stehen wir im Paltina-Sattel, auch Șaua Soarbele genannt. Der Name von geografischen Punkten in den Karpaten ist oft vom Blickwinkel des Betrachters abhängig. Von unserem Sattel ziehen sich das Tal des Paltina-Bachs nach Norden und das Tal des Soarbele-Bachs nach Süden. So ist es für die Siebenbürger im Norden der Paltina-Sattel und für die Oltenier im Süden der Soarbele-Sattel. Mir ist es egal, welchen Namen der Sattel trägt. Meine Schultern schmerzen und in den Oberschenkeln habe ich Muskelkater. Hocke ich mich auf meinen Rucksack, ist es, als ob meine Muskeln ein Stück geschrumpft wären. Alles zieht und spannt. Immerhin gibt mir das die Erkenntnis, dass ich noch Muskeln habe. Wir beschließen, hier zu übernachten. Es gibt zwar kein Wasser, aber der Rest in den Trinkflaschen dürfte ausreichen, um eine Nacht zu überleben.
Immerhin haben wir eine grandiose Sicht auf Retezat und Oslea-Massiv. Und unser Sattel hat noch eine andere Besonderheit. Er trennt den Kleinen Retezat von unserem nächsten Gebirge, das wir durchwandern wollen – dem Godeanu.
Răzvan weckt mich. Draußen ist es noch dunkel, aber nicht gefroren wie gestern im Plaiul-Mic-Sattel. Der Grund, warum es ihn so früh aus dem Schlafsack getrieben hatte, ist die blaue Morgenstunde. Am Horizont leuchtet der Himmel in irrwitzigen Farbtönen von Tiefblau, über rosarot bis zu einem satten Orange reicht die Farbpalette. Wir warten, bis sich die Sonne über den Horizont geschoben hat, packen unseren Krempel zusammen und beginnen den Aufstieg zum Paltina-Gipfel und damit ins Godeanu-Massiv. Eigentlich hat der Paltina keinen richtigen Gipfel, vor uns breitet sich mehr ein Hochplateau aus. Eine Erscheinung, der wir im Godeanu noch oft begegnen werden.
Diese Grasflächen dienen den Hirten im Sommer als Hochweiden. Während meiner ersten Wanderung im Godeanu-Gebirge 1997 sind wir mit den Schafhirten gemeinsam aufgestiegen. Jetzt sind Menschen und Schafe wieder in den Dörfern, wie es scheint. Wir sind die einzigen Besucher des Gebirges. Das hat den Nachteil, dass wir keinen Schafskäse bekommen, aber den Vorteil, nicht alle halbe Stunde von wütenden Hundemeuten als Eindringling betrachtet und attackiert zu werden.
Im Sattel zwischen Paltina und Galbena treffen wir auf die erste Quelle. Wir machen kurz Rast, trinken etwas und füllen unsere Flaschen. Laut der Wanderkarte sollte bis zu unserem Ziel, dem Bergsee Scărișoara, kein Wasser mehr kommen. Die Rote-Band-Markierung wird immer spärlicher. An der Kammkante tauchen kurz rote Quadrate auf, sie kennzeichnen die Nordgrenze des Nationalparks Domogled-Cernatal. Eine Region, der ich wohl bald einen Besuch abstatten werde. Vom Galbena-Plateau überblicken wir das Cernatal und auch die Kalkfelsen des Domogled über Herkulesbad glauben wir zu erkennen.
Auf der Nordseite tief unter uns zieht sich dagegen das Borăscu-Mare-Tal nach Westen. Es dauert nicht lang und wir stehen in jenem kleinen Pass, wo ich 1997 mit Uli eingeschneit wurde, und von dem wir unseren Abstieg aus den Bergen antraten. Den nächsten Gipfel Stâna Mare umgehen wir auf seiner Nordseite und gelangen in einen großen Sattel. Die Markierung ist mittlerweile ganz verschwunden, ab und zu zeigen Steinmänner die Richtung. Wir können unser Ziel, den Kessel des Lacul Scărișoara, schon sehen, doch dazwischen liegt noch der 2162 m hohen Buckel der Micușa. Querfeldein steigen wir nach oben. Je mehr wir an Höhe gewinnen, desto stärker bläst uns der Wind entgegen. Oben angelangt trifft er uns mit voller Wucht. Wir sehen zu, wieder nach unten zu kommen, immerhin leuchtet schon das Wasser des Sees dunkelgrün zu uns herauf.
Glitzernd liegt der See unter den schroffen Nordwänden des Scărișoara-Berges. 1997 ergossen sich Wasserfälle aufgrund des schmelzenden Schnees über die Felswände und gaben der Szenerie etwas Wildes.
Es ist nicht leicht, ein windstilles Plätzchen für unsere Zelte am Ufer des Sees zu finden. Nicht ganz leicht fällt uns auch die Entscheidung, ob wir zum Kochen das Wasser aus dem See nehmen sollen. Es ist zwar klar aber von unzähligen kleinen Fröschen bevölkert. Ich wage es trotzdem. Mit ein paar Tropfen Aquaventure und abgekocht wird es schon genießbar sein, denke ich mir. Răzvan traut der Sache weniger und schaut sich nach einer Quelle um. Als es daran geht, unsere Trinkflaschen zu füllen, wähle auch ich den Weg zur Quelle.
Ein Zeltplatz am See hat noch einen weiteren Vorteil, wir können unsere Wäsche und auch uns selbst wieder einmal waschen. Wahrlich, ich sage euch, das ist kein Vergnügen, wenn einem der kalte Herbstwind über den Buckel weht. Punkt 17:15 Uhr verschwindet die Sonne hinter den Felsen, und der Wind treibt uns in die Zelte. Morgen wollen wir auf den heiligen Berg der alten Daker wandern – den Gugu.
Der Wind hatte sich die ganze Nacht an unseren Zelten ausgetobt, so kam es mir zumindest vor. Aufgrund des Lärms bekam ich kaum ein Auge zu. Răzvan hatte um die Gesundheit seines Hubba-Zelts gebangt und aus lauter Not heraus eine Methode ersonnen, dem Teil mithilfe seiner Trekking-Stöcke mehr Stabilität zu verpassen. Ab jetzt hatte er eine Windallergie, wie mir schien. Die Böen, die über den See pfiffen, waren für ihn Hurrikans. Immerhin tobten die Naturgewalten im Kammbereich mit rund 90 km/h, wie wir später an der Wetterstation auf dem Țarcu erfuhren.
Der Tag jedoch beginnt wieder mit einem strahlenden Morgen, als ob nichts gewesen wäre.
Gestern kam mir die Idee, die Zelte einfach am See stehen zu lassen und ohne Gepäck zum Gugu zu laufen. Doch wir würden dadurch zuviel Zeit verlieren, meint Răzvan. So einigen wir uns darauf, unsere Rucksäcke am Abzweig zum Moraru-Gipfel irgendwo zu deponieren und von dort den Abstecher auf den Berg anzugehen. Doch erst einmal geht es hinauf auf den Scărișoara-Berg (2210 m). Weit unten im Süden sehen wir den Cerna-Stausee und hier oben endet der Bergrücken, über den ich 1997 aufgestiegen bin. Hier endet auch meine Wanderkarte. Ab jetzt müssen wir auf Sicht laufen und Răzvans GPS vertrauen.
Einer der bekanntesten Punkte im Godeanu ist der Katzensattel – Șaua Mâțului. Abgeleitet vom deutschen Wort Mieze. Der Sattel ist ein schmaler Felsgrat, der das südliche Scărițatal vom nördlichen Mâțuluital trennt. Zu beiden Seiten geht es recht tief hinunter. Kurz hinter dem Sattel verlassen wir den Pfad und wenden uns nach Norden zum Gipfel des Moraru (2284 m), dem zweithöchsten Berg des Godeanu-Gebirges.
Hinter dem Gipfelsteinmann setzen wir unsere Rucksäcke ab. Sanft leitet der Moraru-Rücken in einen kleinen Sattel. Dann geht es auf einen 2237 m hohen Gipfel und von diesem recht steil nach unten. Den Gipfel der Scărița (2159 m) umgehen wir östlich und steigen nun über Grasmatten hinauf zum Gugu. Eine Stunde und 15 Minuten brauchten wir vom Moraru bis zum höchsten Punkt des Godeanu-Gebirges. 2291 m ragt der Gugu in den Himmel. Der Berg soll den Dakern heilig gewesen sein, ihr Gott Zamolxis soll hier oben gelebt haben, so wird vermutet. Wenn dem so ist, hat er sich ein hübsches Plätzchen ausgesucht. Wohin man schaut, Gipfel. Im Norden das Bloju-Massiv, im Nordosten der Retezat daran anschließend der Kleine Retezat im Osten, von Südosten bis Südwesten der Godeanu-Hauptkamm, dahinter im Süden das Mehedinți-Gebirge und im Westen das Țarcu-Gebirge. Selbst heute hat der Gugu nichts von seiner Mystik verloren. Für viele Bergwanderer in Rumänien ist es ein Muss, einmal auf dem Gipfel des Gugu zu stehen. Răzvan steht nun schon zum zweiten Mal hier oben. Wir bleiben nicht lang, immerhin haben wir noch ein Stück Weg vor uns.
Zurück auf dem Hauptkamm geht es weiter in Richtung Godeanu-Gipfel. Der Weg zieht sich auf der Südseite des Gebirges nach Westen. Tief unter uns das Cerna-Tal. Vor uns erhebt sich schon das Trapez des Godeanu. Răzvan vergleicht den Berg mit dem Gipfeltrapez Moldoveanu – Vistea Mare im Fogarascher Gebirge und eine gewisse Ähnlichkeit ist durchaus vorhanden. Schroff und steil wirkt die Ostflanke des Godeanu, sanft zieht sich dagegen die Westseite bis hinauf zum Gipfel. Punkt halb vier nachmittags stehen wir auf dem Namensgeber des Gebirges. Bis zum Cerna-Gebirge ziehen sich die Grashänge. Steinmänner markieren auf dem Hauptkamm den Weg in Richtung Herkulesbad. Aus dem Tal des Râu Șes dringen Stimmen zu uns herauf. Es sind tatsächlich Hirten mit ihren Schafen. Haben die den Abtrieb verpasst? Die meisten ihrer Kollegen haben die Berge doch schon längst verlassen.
Wir verlassen den Gipfel und auch den Godeanu-Hauptkamm, um uns ein Plätzchen für die Nacht zu suchen. Morgen wollen wir hinunter ins Tal des Râu Șes steigen und von dort das nächste Karpatenmassiv erklimmen – das Țarcu-Gebirge.
Wir suchen eine Weile, bis wir einen einigermaßen gescheiten Platz für unsere Zelte gefunden haben. Überall pfeift der Wind über die Bergwiesen. Hinter den Tucila-Felsen scheint es etwas besser zu sein, zumindest bis unsere Zelte stehen. Dann hat es sich der Wind offensichtlich anders überlegt und gibt uns wieder die volle Breitseite. Egal, immerhin haben wir auf dem Weg eine Quelle entdeckt, sodass sich heute Abend kein Wasserproblem auftut.
Der Abstieg ins Tal des Râu Șes am nächsten Morgen ist steil, bietet jedoch eine kulinarische Besonderheit. An den Berghängen wachsen Preiselbeeren – groß, wie kleine Kirschen. Da können wir einfach nicht achtlos vorbeilaufen. Somit dauert es ein Weilchen, bis wir unten am Fluss stehen. Der Râu Șes ist ein recht unsteter Geselle, im Quellgebiet des Godeanu nach Süden fließend, wechselt er alsbald in Richtung Westen, dreht dann nach Norden ab, um sich schließlich doch gen Osten zu wenden. Es sieht aus, als ob er ständig seine Meinung ändern würde. Oder fehlt es ihm an Geradlinigkeit?
Das Țarcu-Gebirge empfängt uns nicht gerade herzlich. Der teilweise weglose Aufstieg hinauf zum Șaua Mlăcile ähnelt einer Pampalandschaft. Durch brusthohes Gras kämpfen wir uns hinauf in den Sattel. Dort stoßen wir das erste Mal auf Spuren von ATVs. War das Godeanu ein Gebirge der Hirten, scheint das Țarcu ein Gebirge des Geländemotorsports zu sein. Die Spuren ziehen sich über den Capul Prislopului (Kopf des Prislop, 1835 m) hinauf bis auf den Kamm und folgen diesem nach Norden.
Überhaupt scheint hier mehr in Bewegung zu sein. Die ersten Wanderer treffen wir im Sattel zwischen Capul Prislopului und Prislop-Gipfel – ein Pärchen. Sie wollen hinunter zum Râu Șes und wieder zurück. Ihr Zelt steht irgendwo windgeschützt in einem Sattel, wie sie sagen.
Die zweiten Wanderer auf dem Gipfel des Prislop haben sich viel vorgenommen. Gestartet heute Morgen am Muntele Mic, wollen sie morgen bis auf den Gugu und wieder zurück zu ihrem Auto unterhalb des Muntele Mic. Ihr Rucksack sieht zwar deutlich leichter aus als meiner, doch so richtig glauben kann ich es nicht, der Gugu liegt zwar zum Greifen nah, doch trennt ihn und uns das tief eingeschnittene Tal des Râu Șes. Zum Muntele Mic wollen wir erst morgen aufbrechen.
Die nächsten Wanderer, wieder ein Pärchen, interessiert nur eins – ob es im Godeanu noch Hirten gibt. Sie haben keine Lust auf eine Begegnung mit den Schutzhunden der Schafhirten. Răzvan kann die beiden beruhigen.
Wir verlassen den Kamm und folgen einem Trampelpfad am Hang über dem Râul Rece-Tal. Tiefe breite Erosionsrinnen ziehen sich von Zeit zu Zeit hinunter ins Tal. Es läuft sich nicht angenehm, die Art von Rinnen kannte ich bisher nur aus dem Zanskar und bin überrascht, hier welche anzutreffen. Doch wir bewältigen auch diese Passagen und landen problemlos im Șaua Șuculețului, unserem Tagesziel. Der Sattel liegt windgeschützt, ein kleiner See blinkt in der Abendsonne, und ein Stück unterhalb des Sattels sprudeln sogar ein paar Quellen zu Tal. Wir sind nicht allein, wenige Meter neben dem Pfad steht schon ein Zelt. Es gehört dem Wanderpärchen, welches wir am Capul Prislopului trafen.
Wildes Hufgetrappel empfängt uns am nächsten Morgen. Die Sonne schiebt sich gerade über die Hangkante, als eine Herde Pferde zum Trinken zu dem kleinen See galoppiert. Das Pärchen ist schon unterwegs, als wir unsere Zelte abbauen. Erst einmal wollen wir den 2190 m hohen Țarcu-Gipfel erreichen. Doch bevor es aufwärts geht, müssen wir eine ausgedehnte Grasfläche unterhalb des Căleanu-Gipfels queren. Hier begegnen wir einem Begleiter, den wir seit dem Vârful Galbena im Godeanu vermisst hatten – dem roten Band. Anfangs noch auf rostigen Markierungsstangen kaum erkennbar, wird die Markierung zunehmend besser, je näher wir dem Vârful Țarcu kommen. Auf dem Gipfelgrat überholen uns Hirten. Sie haben die Pferde geholt, die bei uns am See ihren Durst gestillt hatten. Nun reiten sie hinunter ins Tal. Mit gleich mehreren PS unterm Hintern dagegen kommt eine Gruppe polnischer Endurofahrer hinaufgeritten. Sie pausieren kurz auf dem höchsten Punkt des Gebirges und düsen dann weiter den Hauptkamm entlang.
Auf dem Gipfel des Țarcu steht auch eine Wetterwarte, sie dürfte neben der im Penteleu die wohl abgelegenste in den Karpaten sein. An der Wetterstation muss Răzvan seine Neugier stillen. So erfahren wir, dass es in der Frostnacht am Plaiul-Mic-Sattel -2 ° C hatte, und der Wind in der Nacht am Scărișoara-See mit 90 km/h über den Țarcu-Gipfel tobte.
Der Țarcu ist berüchtigt für sein Extremwetter. Hier ereignete sich am 19. Dezember 2009 ein tragischer Unfall. Das Ehepaar Adriana (20) und Ioan Gruia (33) waren auf dem Weg zur Station, ihrem Arbeitsplatz, den sie nie erreichen sollten. Auf Kammhöhe sind sie bei Nebel vom Weg abgekommen, wurden von einer Sturmböe erfasst und den Steilhang hinuntergeschleudert. Erst 2010 zur Schneeschmelze fand man die Körper der beiden, erfahre ich von Răzvan. An der Abbruchkante erinnern heute zwei Kreuze an das Ehepaar.
Für uns bahnt sich ein langer Abstieg an. Auf rotem Band geht es auf einem Naturlehrpfad hinunter zur Talstation der Wetterwarte, Cuntu genannt. Und dann weiter auf einem bewaldeten Bergrücken in den Jigorii-Sattel, der den Muntele Mic vom Țarcu-Hauptmassiv trennt.
Răzvan hält nicht viel von diesem Lehrpfad und als Nationalparkangestellter hat er auch triftige Argumente dagegen. So ist der Weg mit einer Länge von 12,5 km und einer Höhendifferenz von 640 m viel zu lang und auch aufgrund seines teilweise alpinen Charakters nicht für jedermann machbar. Außerdem muss ein Lehrpfad immer dort enden, wo er begann. Letztendlich sind die Texte der Infotafeln leider nur in Rumänisch gehalten. Laut Răzvan wurden hier EU-Gelder verschwendet.
Ich bin nicht vom Fach, finde aber auch einige Dinge witzig: Eine Infotafel weist auf den Lebensraum der Karpatengämse hin, direkt neben der Endurostrecke. Eine Gämse wird hier wohl kein Wanderer zu Gesicht bekommen, und an der staubigsten Stelle, wo es die Jungs noch mal so richtig krachen lassen können, wird auf Feuchtbiotope verwiesen.
Wasser ist für uns sowieso wieder ein Problem. Dummerweise hatten wir es heute Morgen nicht für nötig gehalten, unsere Flaschen am Șuculeț-Sattel aufzufüllen. In der Annahme unseren Wasservorrat irgendwo am Weg ergänzen zu können, liefen wir los – eine Fehlentscheidung! Die einzige Wasserstelle auf dem Weg bis zum Jigorii-Sattel war ein trüber Tümpel nahe der Cuntu-Wetterstation. Da stehen wir nun zwischen Muntele Mic und Țarcu. Es ist schon halb fünf, wir haben kein Wasser, und zelten kann man hier auch schlecht. Führt doch gleich nebenan die Asphaltstraße von Caransebeș kommend hinauf zum Touristenkomplex Muntele Mic.
Wir setzen unseren Weg fort. Quälend langsam geht es hinauf auf den Muntele Mic. Klein kommt der Berg mir in diesem Moment überhaupt nicht vor, eher endlos lang und steil. Abwechselnd folgen wir dem Wanderweg, dann wieder der Straße. Kurz nach sechs kommen die ersten Häuser des Touristenkomplexes in Sicht. Wir lenken unsere Schritte geradewegs auf ein Haus zu mit der Aufschrift „Cabana Cerbului“. In der Hirschhütte gibt es nicht nur Wasser, sondern auch Pepsi und Bärenbier.
Komplett versorgt, suchen wir nicht mehr lang nach einem Zeltplatz. Am Skihang neben der Seilbahnstation beziehen wir Quartier. Die Sonne verschwindet gerade am Horizont, während wir unsere Fertiggerichte löffeln.
Heute beginnt für Răzvan die letzte Etappe in den Karpaten. Wir wollen über den Gipfel des Muntele Mic zum Ferienort Poiana Mărului (Apfelalm) wandern. Von dort wird er morgen heim nach Deva fahren.
Wir folgen den Masten der Skilifte in Richtung Gipfel. Blaubeerpflückerinnen mit großen Körben auf dem Rücken sind auch schon unterwegs. Auf dem Weg zum Gipfel passieren wir das Banater Heldenkreuz, 25 m hoch. Es wurde im Juli 1936 errichtet, damals noch aus Fichtenstämmen und erinnert an Kämpfer, die gegen eine Teilung des Banats nach dem 1. Weltkrieg eintraten.
Oben auf dem Gipfel erwartet uns ein Sendemast und ein Stück dahinter rostige Markierungsstangen. Die Markierung können wir leider nicht mehr erkennen. Sehr gut erkennen wir jedoch die den Hang hinaufziehende Schafherde. Und wo Schafe sind, sind auch Hunde und mit denen ist in der Regel nicht gut Kirschen essen. Also hocken wir uns erst einmal auf einen Felsbrocken und harren der Dinge, die da kommen. 10 Herdenschutzhunde beäugen uns misstrauisch, greifen aber nicht an. Ein paar Meter zwischen uns und den Schafen hocken sie sich in Gras und lassen uns nicht aus den Augen. Die Schutzmauer steht wie eine Firewall in einem Computernetzwerk. Der Hirte, auf seinen Stock gestützt schaut dem Treiben eine Weile zu, dann kommt er auf ein Schwätzchen zu uns herüber.
Der Mann stammt aus der Maramuresch, aus Oberwischau und arbeitet hier im Banat auf dem Muntele Mic als Hirte. Für ein Gehalt von 1000 RON/Monat (etwa 300 EUR) und Zigaretten hütet er die Schafe der Einwohner von Borlova. Wenn der erste Schnee fällt, verlässt er das Gebirge und zieht mit seiner Herde hinunter ins Tal. Noch sieht es aber nicht danach aus.
Den Grund, weshalb es selbst jetzt Mitte Oktober noch Hirten in den Bergen gibt, obwohl die Schafe schon längst keine Milch mehr geben und somit auch kein Käse mehr gemacht werden kann, erfahre ich auch. Es gibt ein EU-Projekt zum Erhalt der typischen Hochweidenlandschaft in den Karpaten. Seit dem Zusammenbruch der Ceaușescu-Diktatur ist auch die Weidewirtschaft in den Karpaten kontinuierlich zurückgegangen. Von 8 Stânas (Almwirtschaften) auf dem Muntele Mic gibt es heute noch 2, sagt der Mann. Es gibt immer weniger Männer, die den Job eines Hirten machen wollen. Ich denke aber, dass auch die Nachfrage nach dem Schafskäse zurückgegangen ist, seit sich diverse Supermarktketten westlicher Herkunft in Rumänien breitgemacht haben. Jetzt bekommen Schafbesitzer Geld aus dem Topf der EU, wenn sie die Berghänge in den Karpaten solang wie möglich beweiden lassen.
Ehrlich gesagt bin ich kein Freund dieses Projekts. Natürlich erobert die Natur die unbeweideten Flächen in den Bergen zurück. Auf Wiesen breiten sich wieder Bergkiefern aus und irgendwann bedeckt ein dichter Latschenteppich die Hänge. Und ist das ein Problem? Immerhin sah es ja vor dem Eintreffen von Schafhirten überall so aus. Im Prinzip heilt die Natur ihre vom Menschen zugefügten Wunden. Und genau dies wird nun mit Hilfe von Geldern versucht zu verhindern. Und wenn ich an die halb abgebrannten Kiefernbäumchen an der Stâna de Râu im Retezat denke, frage ich mich schon, ob das der richtige Weg ist, Kulturlandschaften zu erhalten. Warum akzeptiert der Mensch nicht einfach Veränderungen?
Was uns der Hirte nicht sagen kann, wie wir am besten zur Poiana Mărului hinunter kommen. So folgen wir dem Berghang nach Osten. So verbaut, wie der Muntele Mic auf seiner Westseite ist, so wild und naturbelassen zeigt er sich von seiner Ostseite. Auf dem Scorilo-Kamm begegnen uns lauter skurrile Felsgebilde – Nomen est omen? Tief unten sehen wir wieder eine Stange. Doch unten erkennen wir, es ist keine Markierungsstange, sondern eine Art Gipfelkreuz auf einem Grashügel.
Einen Pfad kann man mit ein wenig Fantasie erahnen, der Wanderweg ist es mit Sicherheit nicht. Laut unserer Karte soll der Abstieg mit blauem Band markiert sein. Von einer Markierung fehlt aber jede Spur. Zum Glück treffen wir ein paar Blaubeerpflücker, die Răzvan nach dem rechten Weg fragen kann.
Wir sollen einfach querfeldein durch den Wald nach unten steigen, wir würden nach ein paar Minuten auf einen Pfad treffen, so die Aussage der Beerensammler. „Der Pfad sei nicht zu verfehlen. Haben ihn extra frisch markiert für die Endurofahrer aus Deutschland“, versichert man uns noch einmal. Na dann kann ja nichts schief gehen. Wir stolpern also zwischen Blaubeergestrüpp, Fichten und Plastikflaschen nach unten und treffen tatsächlich auf einen Pfad, der mit himmelblauen Bändern markiert ist. Der Pfad mündet nach einer Weile in einen Traktorweg, der als Holzabfuhrpiste dient. Das blaue Band taucht hier nicht mehr auf. Aber egal, es geht nach unten und somit stimmt die Richtung. Über zwei Stunden dauert der Abstieg. Kurz vor Poiana Mărului taucht auch die Markierung wieder auf.
Der Ort scheint zum Großteil aus Häusern zu bestehen, die zum Verkauf angeboten werden. Wohl an jedem zweiten Grundstückstürchen hängt ein Schild mit der Aufschrift: „de vânzare“. Wir wollen hier keine Häuser kaufen, Geld nur für ein Bierchen ausgeben. Wir finden dieses im Magazin Mixt. Răzvan hat es geschafft, für ihn endet die Tour hier. Er wird Morgen mit dem Bus nach Oțelu Roșu (Ferdinandsberg) fahren und von dort zurück nach Deva – die Arbeit ruft. Zweimal täglich fährt am Magazin ein Kleinbus in das Dorf an der Hauptstraße nach Caransebeș. Auf mich wartet morgen der zweite Teil des Țarcu-Gebirges – das Bloju-Massiv. Die Verkäuferin empfiehlt uns am Stausee die Zelte aufzuschlagen, das machen wir dann auch.
Am Magazin Mixt fährt nicht nur Răzvans Bus ab, hier entdecke ich auch meine Wegmarkierung – das blaue Dreieck. Über den Nedeia-Bergrücken steige ich hinauf, zurück auf den Țarcu-Hauptkamm. Der Weg ist zwar steil, aber nicht so zerwühlt wie der Abstieg gestern vom Muntele Mic. Herbstzeitlose leuchten in der Morgensonne. Glitzerndes Wasser rinnt aus einer Quelle zu Tal. Es sollte die einzige Quelle auf der heutigen Etappe bis zum Stutensattel sein. Nach 3 Stunden und 15 Minuten lasse ich die letzten Fichten hinter mir und trete hinaus ins Freie. Tief unter mir leuchtet blau der Stausee von Poiana Mărului und direkt gegenüber grüßt der Muntele Mic. Deutlich erkenne ich einen Teil unseres Weges von gestern. Das blaue Dreieck taucht noch ein paar Mal auf, dann bleibt es verschwunden. Doch die Sicht ist gut, ich kann den Weg nicht verfehlen.
Ich folge dem Nedeia-Bergrücken nach Osten. Den Namen Nedeia findet man oft in den Karpaten Rumäniens. Er leitet sich ab von einem Volksfest der Hirten und Bergbauern, welches sie im Sommer in den Bergen begehen. Und da das Fest oft immer am selben Ort stattfand, übertrug sich dessen Name im Laufe der Zeit auch auf den Berg, Gipfel oder entsprechenden Bergrücken.
Ich frage mich, ob hier auch heute noch dieses Fest stattfindet und schon kommen die ersten Gäste. Eine Gruppe Endurofahrer düst über den Kamm und hält neben mir. „Bist du okay?“ will der Anführer wissen. SALVAMONT steht auf seinem Motorrad. „Was machst Du?“ „Warum bist Du allein?“ „Hier gibt es Bären!“ Ich komme mir vor wie in einem Verhör. Was sollen die dusseligen Fragen? Als ob es einen Bären kümmern würde, wenn er von zwei statt von einem Wanderer überrascht wird.
Etwas Sinnvolleres fiel dem Typen wohl nicht ein. Ich will gerade fragen, wo ich hier Wasser finde, da düsen sie auch schon weiter.
Ich trinke den Rest aus meiner Flasche und folge dem Kamm nach links. Ich bin wieder auf dem Hauptkamm und nach ein paar Schritten leuchtet mir auch das rote Band entgegen. Nur Wasser werde ich hier oben keines finden. Die nächste Möglichkeit für Wasser könnte der Bergsattel Șaua Iepii – der Stutensattel – sein. Es ist eine 1721 m hohe Kerbe im Țarcu-Hauptkamm. Das heißt: Weitere 2 Stunden laufen. Immerhin ist das Wetter sehr gut, im Nordosten erhebt sich der Retezat, und auch den Stausee Gura Apei erkenne ich weit unten im Tal. Als es hinunter in den Sattel geht, sehe ich auf dem Berghang gegenüber zwei bunte Punkte nach unten steigen. Die Punkte entpuppen sich beim Näherkommen als Blaubeerpflücker. Sie waren im Bloju-Massiv unterwegs, meinem morgigen Ziel. Bevor die beiden hinunter zum Stausee steigen, füllen sie ein paar Hände voll Beeren in eine Plastiktüte und drücken sie mir in die Hände. Heute Abend gibt's also zum ersten Mal Nachtisch.
Ich folge den beiden und dem roten Band ein Stück nach unten und baue an der ersten ebenen Stelle mein Zelt auf. Ein paar Meter nebendran sprudelt ein Bächlein, mein Wasserproblem ist gelöst.
Die Hirten treiben gerade ihre Schafe am Nachbarhang hinauf, als ich mich auf den Weg zurück in den Stutensattel begebe. Der Weiterweg hinauf in das Bloju-Massiv ist steil und nicht mehr markiert. Manchmal verliere ich den Pfad, dann taucht er plötzlich unvermittelt wieder vor meinen Füßen auf. Der erste Gipfel heißt Vârful Custurii, auch Vârful Netiș genannt, 2093 m hoch. Von dort zieht sich der Bergrücken sanft in den Bloju-Sattel. Unten leuchtet dunkelgrün der Netiș-See in der Morgensonne. Wäre es nicht so früh, hätte ich hier mein Zelt aufgebaut. So laufe ich weiter in Richtung Vârful Bloju (2165 m). Nach dem Namensgeber des Massivs wird es geröllig. Über wacklige Felsbrocken erklimme ich den höchsten Berg des Massivs – Vârful Pietrii (2192 m). Kurz nach dem Pietrii-Gipfel tauchen sie auf, die wohl abgelegensten Meeraugen des Țarcu-Gebirges – die Bistra-Seen.
Der Bergkamm wandelt sich in ein Hochplateau bestehend aus Gras, Geröll und Bergkiefern. Am Dealul Negru (2064 m) rücken die Latschenkiefern immer enger zusammen, es ist nicht leicht, sich zu orientieren. Die Latschen rücken immer dichter zusammen. Ein Durchkommen scheint unmöglich. Nur mit etwas Glück finde ich den Eingang in dieses Dickicht. Der Weg scheint endlos, Äste greifen nach meinem Rucksack, halten mich fest. Unter mir im Osten breiten sich wilde Gletscherkessel aus. Der Teil des Țarcu-Gebirges ist überhaupt nicht vergleichbar mit den restlichen von Weidewirtschaft geprägten Bergen. Nach etwa 2 ½ Stunden öffnet sich die Szenerie und der Petreanu-Gipfel liegt vor mir. Es ist die letzte Erhebung des Gebirges im Nordosten, 1896 m hoch. Hirten treiben gerade ihre Schafe über den Gipfel hinunter ins Tal. Vom Vârful Petreanu zeigt sich die gesamte Westflanke des Retezat-Gebirges. Ich kenne die Aussicht. Im Herbst 2004 stand ich schon einmal hier oben, als ich mit Helga eine Tageswanderung von der Gura Zlata Berghütte unternommen hatte.
Morgen werde ich das Țarcu-Gebirge verlassen. Ich könnte nach Norden absteigen bis Sarmizegetusa und von dort in das Hügelland der Poiana Ruscă gehen. Ich könnte aber auch wie damals ins Tal des Râu Mare absteigen und in die Cabana Gura Zlata einkehren, um von dort ins Retezat-Gebirge aufzusteigen. Da die Poiana-Ruscă-Karte keine gescheiten Wandermöglichkeiten aufzeigt, und ich auch mal wieder Wäsche waschen muss, entschließe ich mich für die 2. Variante. Steige ab bis auf Höhe der mittlerweile verfallenen Petreanu-Alm und baue mein Zelt auf.
Da die heutige Etappe recht kurz ist, lasse ich mir Zeit. Gegen halb zehn verlasse ich das Țarcu-Massiv. Mein Ziel, das Retezat-Gebirge, dort begann die Bergtour. Der Weg hat sich in den 7 Jahren erheblich verändert. Der Pfad führt nur noch etwa 30 Minuten durch den Wald und mündet dann in eine Holzabfuhrpiste. Diese trifft in der Nähe des Tunnelsystems für den Stausee auf die Forststraße vom Râu-Mare-Tal.
Nach insgesamt 3 Stunden stehe ich vor der Berghütte. Seit meinem letzten Besuch hat sich nichts verändert. Der Hüttenwirt macht Feuerholz für den Winter, der Schäferhund schaut mich groß an. Die Hüttenchefin gibt mir Zimmer Nummer 1 im 1. Stock. Es ist kalt in dem Raum. Ob der Kachelofen im Winter noch seine Funktion erfüllt, frage ich mich. Die zwei Betten auf jeder Seite lassen den Raum noch schmaler werden, als er schon ist. Ich habe einen Fernseher, ein Waschbecken und das Schlimmste – einen Spiegel, aus dem mich ein sonnenverbranntes, stoppelbärtiges Etwas anschaut.
Morgen Abend soll es regnen, sagt der Hüttenwirt. „Nach zwei Monaten das erste Mal.“ Es stört mich nicht, nach fast zwei Wochen Sonnenschein brauche ich etwas Abwechslung.
Ich packe mein Regenzeug nicht in die unterste Rucksackecke, verabschiede mich von den Wirtsleuten und beginne den Aufstieg zum Zănoaga-See im Westteil des Retezat. Meine Wanderkarte hielt mich wieder mal zum Narren, in dem sie den Weg mit einem roten Band markierte. Der Weg ist mit rotem Dreieck markiert und führt erstmal durch einen richtigen Märchenwald. Dicke knorrige Buchenstämme säumen den Pfad. Das Laub an den Bäumen ist grün wie im Frühling. Voller Begeisterung über die Schönheit des Bergwaldes träume ich vor mich hin, als es hinter einem Hügel raschelt. Herabfallendes Laub ist es nicht. Ein Vogel? Ich klappere mit den Wanderstöcken, um ihn aufzuscheuchen und laufe weiter.
Der Bär saust keine 20 Meter vor mir den Hang entlang, verschwindet in einer Mulde und taucht nicht mehr auf. Etwas übertölpelt stehe ich da und weiß nicht so recht, was ich machen soll. Immerhin war der Bär gescheiter als ich, er hat sich rechtzeitig bemerkbar gemacht. Wenn nicht, wären wir uns in ein paar Metern direkt auf dem Wanderweg begegnet. Keine Ahnung, wer von uns blöder geschaut hätte.
Wo ist er jetzt hin? Ich lärme herum. Konnte ich bis jetzt nicht auf 2 Fingern pfeifen, nun kann ich es. Es rührt sich nichts. Plappernd und pfeifend laufe ich weiter, die Verhaltensregel auf der Infotafel am Eingang zum Nationalpark, keinen Lärm zu machen, wohl wissend missachtend. Und kein Nationalparkheini wird mir jetzt verbieten, die Klappe zu halten.
Steil führt der Weg bergauf. Die Sonne scheint, es sieht nicht aus, als ob es regnen würde. Ich erreiche das Radeș-Zlata-Plateau. Nagelneue Markierungsstangen ragen aus dem Boden. Bis zum See ist es nicht mehr weit. Ich fülle meine Wasserflasche auf und stehe nach einer dreiviertel Stunde am Zănoaga-See. Auch hier gibt es eine Schutzhütte des SALVAMONT. Sie ist offen, ich habe einen Platz zum Übernachten. Trotzdem baue ich dahinter mein Zelt auf, damit es trocknen kann. 6 Stunden habe ich für die Strecke von der Gura-Zlata-Hütte bis hierher gebraucht. Morgen will ich in das Herz des Retezat-Gebirges – zum Bucura-See.
Der Hüttenwirt sollte Recht behalten. In der Nacht hatte es geregnet, und am Morgen wabern dichte Wolken wie Watte zwischen den Bergen. Die sonnenverwöhnte Zeit in den Karpaten scheint vorbei zu sein. Vom Gemenele-Resrevat kriecht dichter Nebel über den Kamm. Der Weg hinauf zum Judele-Pass ist mit roten Punkten markiert. Die meisten Punkte sehen recht neu aus. Nur der Weg vom Pass hinunter in den Bucura-Kessel ist in einem bedauernswerten Zustand. Teilweise weggebrochen taste ich mich vorsichtig nach unten. An einem Geröllfeld fehlen plötzlich auch die Punkte. Mit etwas Glück erkenne ich durch den Nebel schemenhaft Reste der alten Markierung. Weiter unten taucht die neue Markierung plötzlich wieder auf. Ob denen die Farbe ausgegangen ist?
Ich erreiche den See nach 3 Stunden. Es schneit und stürmische Böen jagen über das Wasser. Waagerecht sausen die Schneeflocken durch die Luft. Schnell verschwinde ich in der SALVAMONT-Hütte. Gerade habe ich mich etwas häuslich eingerichtet und will mir einen Tee kochen, als die Tür aufgeht. Zwei Wanderer treten ein. Der ältere stellt sich als Doru-Mihai vor, der jüngere heißt Angelo. Sie sind auf einem Tagesausflug aus dem Tal des Lăpușnicu Mare über die Pelegii-Wiese hier heraufgestiegen. Doru-Mihai ist der Chef vom Gemenele-Reservat und Angelo ein Freund aus Italien. Die beiden wollen hier Brotzeit machen und dann wieder ins Tal hinuntersteigen. Ich werde kurzerhand zum Essen eingeladen. Mit Tomaten, Käse, Wurst und Țuică lassen wir es uns gut gehen. Dorus Großvater und Vater arbeiteten schon als Ranger im Nationalpark und auch sein Sohn soll diesen Job mal übernehmen, erzählt er mir. Lang bleiben die beiden nicht, ein Großteil des Essens und den Schnaps lassen sie mir da. „Wenn du nächstes Jahr wieder kommst, gehen wir mal ins Reservat“ verspricht er zum Abschied.
Das klingt verlockend, doch erst mal hoffe ich, morgen einigermaßen vernünftig über den Sattel der Custura Bucurei zur Pietrele-Hütte zu gelangen. Die Hütte soll nach dem Brand im Februar 2007 von einem neuen Pächter wiederaufgebaut worden sein.
Wie die neue Hütte wohl aussehen mochte?
Draußen sah es am nächsten Morgen weiß aus. Nicht nur, dass es etwa 15 cm Neuschnee hatte, auch der Nebel war so dicht, dass ich nur wenige Meter vor mir erkennen konnte. Doch es reicht, um mich orientieren zu können. Es ist Winter im Retezat. Bereits um halb acht bin ich unterwegs in Richtung Custura Bucurei. Windböen peitschen noch immer über den See. Es sieht nicht so aus, als dass es heute noch besser wird. Im Gegenteil, im Sattel fängt es wieder an zu schneien. Ich halte mich nicht lang auf und beginne auf der anderen Seite mit dem Abstieg. Nur ab und zu leuchtet das blaue Band an den Felsen durch den Schnee. Immerhin bin ich den Weg schon einmal im Winter gegangen, werde mich also nicht verlaufen. Unter der dünnen Schneedecke sind die Steine teilweise vereist, es läuft sich nicht gut. Da lief es sich im Winter besser. Fast drei Stunden stolpere ich so durch das Pietrele-Tal, dann sehe ich die Cabana Gențiana hinter den Bäumen. „Avem bere și Pepsi“ teilt mir das Pappschild am Hütteneingang mit. Unter anderen Voraussetzungen wäre ich der Einladung gefolgt, doch statt Bier und Cola wäre mir ein heißer Tee jetzt lieber. Ich laufe weiter.
Mein Abstieg zur Pietrele-Hütte dauert eine Stunde. Der Neubau steht dort, wo früher der Schuppen mit dem Feuerholz stand. Drei Italiener kommen gerade aus dem Gebäude und wollen hinunter nach Cârnic. In der Hütte ist es frisch. Auf einem Schild stehen Öffnungszeiten: 7:00 – 11:00 Uhr und 14:00 – 22:00 Uhr. Es ist Viertel nach elf, die haben also geschlossen. Ich hocke mich auf einen Stuhl und will ein paar Nüsse essen, als jemand das Thekenfenster öffnet. „Was wollen Sie?“ fragt eine etwas unfreundliche Frauenstimme. Na, wenn man mich so nett bittet, nehme ich doch gern das Angebot an und verlange ein Bier. Ich bekomme die Büchse Ursus vor die Nase geknallt, und fast im selben Augenblick wird das Fenster wieder zugeknallt. Ich fühle mich hier wirklich nicht willkommen. Spontan entschließe ich mich, es den Italienern gleichzutun und auch nach Cârnic zu laufen. Es gab Zeiten, da war die Pietrele-Hütte meine Lieblingshütte in den Karpaten. Im Winter 2004 winkte mich der Hüttenwirt jeden Abend, wenn ich von den Bergen kam, zu sich und wir genehmigten uns einen Țuică. Nun, Zeiten ändern sich. Es wird mein letzter Besuch hier gewesen sein.
Je tiefer ich komme, desto nasser wird es. In Cârnic regnet es. Die alte Cabana Cârnic ist verschlossen, doch nebendran steht eine neue moderne Unterkunft, Cabana Codrin. Zwei Frauen bewirtschaften die Hütte. Ich bekomme ein warmes Zimmer, eine Fleischklößchensuppe und eine heiße Dusche, ich bin zufrieden.
Angesichts der komfortablen Unterkunft in der Cabana Codrin beschließe ich die restlichen 4 Tage hier zu bleiben und Wanderungen in der Umgebung zu machen. Leider ließ das Wetter keine größeren Unternehmungen zu. Ich besuche den Lolaia-Wasserfall, treffe Ionică, der uns zur Stâna de Râu gefahren hatte, und wandere mit einem Straßenhund hinauf zum Galeș-See.
Nach insgesamt 20 Wandertagen in den Karpaten endet meine Rundtour am 14. Oktober. Die Blätter an den Bäumen haben mittlerweile deutlich herbstliche Farbe bekommen, auf den Gipfeln liegt Schnee und am letzten Tag scheint auch wieder die Sonne. Ich verabschiede mich von meinen Hüttenfrauen und laufe das Nucșoaratal hinunter bis zur Brücke kurz vor dem gleichnamigen Dörfchen. Răzvan holt mich dort ab und wir fahren zurück nach Deva. Doch vorher müssen wir in Hunedoara halten, Răzvan kennt ein Restaurant wo es Ciorba de Burtă gibt, selbstverständlich die Beste!