(Karpatentour Oktober 2004 – Ungarn)
Auf dem Bahnsteig gegenüber wartete bereits ein Zug. Es war jetzt zehn
Minuten vor halb fünf am Morgen. Wir hatten 5 Minuten Zeit, um Fahrkarten
zu kaufen. „Tokaj?“ fragte ich den Schaffner, der neben dem Zug wartete. „Igen
(Ja)“ antwortete er. „Tickets?“ fragte ich weiter. Er zeigte auf ein
Gebäude links neben dem Bahnsteig. Zum einen wollte ich sicher gehen, dass
es unser Zug war. Zum anderen hoffte ich, er würde den Zug nicht ohne uns
abfahren lassen. Es klappte. Wir rannten los. Mit ein paar Minuten
Verspätung, aber im Besitz unserer Fahrkarten verließen wir
Püspökladany. Wir hatten ein eigenes Abteil, wo wir uns auf die Sitze
lümmeln durften. Den Bahnhof Tokaj konnte ich zum Glück trotzdem nicht
verschlafen, denn das Fenster öffnete sich nach einer Weile ständig
von selbst und wehte mir einen kalten Puszta-Wind ins Gesicht.
Langsam begann es draußen zu dämmern. Am Horizont erschienen die
ersten Hügel, wurden größer und entpuppten sich schließlich
als Weinberge. Wir hatten unser Ziel erreicht.
Ich mochte es nicht, zur Nacht hin in einem Ort anzukommen, den ich nicht
kannte. In aller Frühe anzukommen, hatte aber auch Nachteile. An den
Häusern wiesen zwar Schilder auf Privatzimmer hin. Doch wollten wir die
Leute nicht um 7:00 Uhr aus dem Bett klingeln. Das hätte sich mit hoher
Wahrscheinlichkeit negativ auf den Preis ausgewirkt. So hockten wir uns auf eine
Bank vor einem Imbissstand und ärgerten uns darüber, dass es kalt war.
Wir aßen selbstgebackene Plätzchen, die uns Razvan mitgegeben hatte,
und außerdem hatten wir ja noch unseren Pflaumenschnaps, die Țuica.
Nach einer Stunde trauten wir uns dann. Gleich am erstbesten Haus klingelten wir
und bekamen endlich ein Bett, um den verlorenen Schlaf nachzuholen.
Viel war in Tokaj Anfang Oktober nach dem großen Weinfest, das immer am
ersten Oktoberwochenende stattfindet, nicht mehr los. Eins durften wir aber
nicht versäumen, eine Weinverkostung des berühmten Tokaj-Weines.
Frisch ausgeruht schlenderten wir zum Rákóczi-Keller. Am Empfang
standen zwei Franzosen vor einer Batterie Weinflaschen. Ihre Gläser waren
zu etwa einem Drittel gefüllt. Sie nahmen einen Schluck und diskutierten,
nahmen wieder einen Schluck und diskutierten weiter. Es wirkte ziemlich wichtig.
Ich fragte die Dame am Empfang nach der nächsten Führung. „Um 16 Uhr“,
sagte sie. „Sie sind die letzten Touristen in diesem Jahr.“ Das nannte ich
Glück. Wir wurden in einen Keller geführt, der die Größe
eines Ballsaals hatte. Hier wurde 1526 János Szapolyai als König von
Ungarn gekrönt, erfuhr ich. Wenn mich meine Geschichtskenntnisse nicht
trügen, wurde Hans in Székesfehérvár
(Stuhlweißenburg), einer Stadt südwestlich von Budapest, die Krone auf
den Kopf gesetzt. Egal, Tokaj ist halt bekannter. Vielleicht ist es genau so ein
Trick der Tourismusindustrie wie in Rumänien mit der Törzburg und
Fürst Vlad Țepeș alias Dracula.
An den Seiten lagerte Wein in staubigen
Holzfässern, in der Mitte reihte sich ein Tisch an den Nächsten. Wir
setzten uns und durften für jeweils 2000 Forint 6 Weinsorten probieren.
Nach jedem Wein gab es etwas Gebäck zum Knabbern, das – so die reinen
Weinverkoster – den Geschmack neutralisieren soll.
Die Verkostung begann mit einem Furmint-Wein.
Weiter ging es mit Gelbem Muskateller, Lindenblättrigen und Fordítás.
Den Abschluss bildeten zwei Aszú-Weine, ein 3-buttiger und eine 6-buttiger Aszú. Was
ich an der ganzen Sache am besten fand: Aszú oder auf Deutsch,
Ausbruch-Weine, werden aus vergammelten Trauben gewonnen. Ein Schimmelpilz mit
dem klangvollen Namen „Botrytis Cinerea“ hat die ehrenvolle Aufgabe, nur die
reifen und überreifen Trauben zu befallen und somit die Haut der Beeren zu
löchern. Dadurch verdunstet ihr Wasser und der Zuckergehalt erhöht sich.
„Warum das nicht bei unserem Gutedel klappt?“, fragte ich mich.
Helga notierte sich fleißig die Erklärungen der jungen Dame zu jedem
Wein. Mir war's bald zuviel, ich hörte nicht mehr zu und gab mich voll dem
ölig, süßen Genuss des Weines hin.
Am nächsten Morgen starteten wir von Tokaj in Richtung Kahlkopf – Tokajs
Hausberg, 513 m hoch. Ein kalter Nordwind fegte über die Berge. Der Himmel
leuchtete blau und kalt. An den Hängen wuchsen Weinreben mit den gammeligen
Tokaj-Trauben. Die Weinlese war in diesem Jahr verspätet und hatte gerade
erst begonnen. Laut Karte mussten wir bis zum Dorf Mád durch Weinland
laufen, erst danach erhoben sich die mit Wald bedeckten Hügel des
Zempliner-Gebirges.
In einer Czarda, die an der Straße lag, genehmigten wir uns
Ungarns Nationalgericht – Gulasch mit Paprika und einem Bierchen zum Nachtisch.
So richtig warm wurde mir leider nicht dabei, aber wir hatten uns auch für
den Platz im Freien entschieden. Weiter ging es: Weinberg ab, Weinberg auf. Im
Licht der Abendsonne leuchteten die Blätter der Reben goldgelb. Langsam,
aber sicher mussten wir uns Gedanken machen, wo wir heute schlafen wollten. Die
nächste Wasserquelle hinter Mád würden wir heute nicht mehr
erreichen. Wir entschieden uns daher, nach Mád abzusteigen. In der
Hoffnung dort eine Bleibe für die Nacht zu finden.
Die Einzigen, die uns begrüßten, waren kläffende Köter. An
jedem Grundstück, an dem wir vorbei kamen, schien das Gekläffe lauter
zu werden. Eigentlich müsste so bald jeder im Dorf wissen, dass Fremde
eingetroffen waren. Nur ein Gasthaus konnten wir partout nicht ausmachen. Je
weiter wir durch das Dorf liefen, desto weniger machte ich mir Hoffnung, hier
irgendwo eine Unterkunft zu bekommen.
An einer Bushaltestelle standen ein paar ältere Leute. „Hotel?“ fragte ich
- Kopfschütteln. Ich versuchte es ein zweites Mal: „Apartamon?“ Immerhin:
Man fing an zu diskutieren und eine Frau zeigte dann geradeaus. Ich verstand
etwas mit 3. Vermutlich meinten sie das dritte Haus auf der rechten Seite. Wir
bedankten uns und versuchten unser Glück. Ein Schild wies darauf hin, dass
besagtes Haus etwas Besonderes war. Das erste Wort konnte ich entziffern. Es war
ein Frauenname – Valéria. Das zweite Wort war unklar. Aber wofür hat
man Kauderwelsch Ungarisch dabei: Ich schaute im Wörterbuch nach und
tatsächlich, die erste Silbe des Wortes stand drin und hieß Gast.
Frohen Mutes gingen wir zum Eingang, drückten die Klinke und standen vor
verschlossener Tür. Und auch kein Hund bellte. Unserem Gasthaus fehlte der
Gastgeber. Ein Typ so um die 20, der auf der anderen Seite der Dorfstraße
herumlungerte, kam herüber geschlendert und zeigte auf ein kleineres Schild
neben dem Eingang. Dort stand eine Telefonnummer. Das war zwar recht nett,
brachte uns aber nicht wirklich weiter. Ein Telefon habe ich grundsätzlich
nicht im Rucksack, und bevor wir hier eins aufgetrieben hätten, wäre
es vermutlich Mitternacht – und in Ungarisch hätten wir uns damit immer
noch nicht verständigen können. Der junge Mann hatte ein Einsehen,
zu durchfroren sah ich vermutlich auch schon aus. Er zog sein Handy aus der
Hosentasche und wählte die Nummer. Es folgte ein Wortschwall, dem ich
nichts entnehmen konnte. Anschließend versuchte er, mich mit dem Ergebnis
des Telefonats vertraut zu machen. Ich hörte seinem Redefluss geduldig zu,
grinste und verstand nichts. Helga ließ er merkwürdigerweise in Ruhe.
Nach knapp 10 Minuten fuhr ein Auto vor das Haus, hielt und zwei Frauen
kletterten heraus. „Jonapot“ begrüßte uns die Ältere. Helga
fragte, ob sie auch englisch spräche. Tat sie nicht, dafür sprach die
Jüngere, ihre Tocher, umso besser deutsch. Da die Partnergemeinde von
Mád Heidenrod bei Wiesbaden ist, musste sie als Tochter des
Ex-Bürgermeisters immer wieder mal nach Deutschland fahren. Wir wurden ins
wohlig warme Gästehaus geführt – und hatten gleich drei Zimmer zur
Auswahl. Die sahen tipp topp aus, mussten dennoch nach Meinung unserer
Vermieterinnen noch schnell geputzt werden. „Darf ich Sie noch bis zum
Supermarkt fahren? Er schließt nämlich in einer halben Stunde.“ fragte
die Tochter mit formvollendeter diplomatischer Höflichkeit: „In einer
halben Stunde ist dann alles fertig.“ Wir nahmen ihr Angebot gern an. Eine
Flasche Tokajerwein zur Einleitung des ungarischen Abendprogramms
konnte nicht schaden. Dass es auch noch Goldfasanenbier aus der Slowakei im
Angebot gab, steigerte meine Stimmung enorm.
Zurück im Gästehaus spendierte die Frau des Hauses noch jedem einen
heißen Tee – wir durften uns diesen aus mehreren Sorten aussuchen – und
wünschte uns einen angenehmen Abend. Auf dem Tisch hatten unsere Gastgeber
aufmerksam einen Reiseführer Ungarn in Deutsch hingelegt und auf den
Nachtschränkchen stand ein Tellerchen mit Süßigkeiten. Das
Highlight aber war das Vorhandensein einer Badewanne.
Mithilfe des Reiseführers legten wir unseren weiteren Tourenverlauf fest.
Morgen wollten wir in den Norden des Zempliner-Gebirges, um wenigstens eine
der Burgen zu besuchen, die dort so herumstanden. Wir entschlossen uns für
die Burg Regéc. Mit Zug und Bus mussten wir irgendwie bis zu einem Ort
namens Hejce fahren. Von dort ging es dann zu Fuß über die Berge.
Von Mád fuhr ein Zug bis Vilmány, etwa 3 km westlich von Hejce. Wir
hatten wohl etwas zu lange gefrühstückt, der Zug fuhr uns vor der Nase
weg. Der Nächste fuhr in 4 Stunden um 13:35 Uhr bis zu einem Ort der
Abaújszántó heißt. Von dort sollte laut Bahnmeister ein Bus
weiter nach Vilmány fahren.
Laut Fahrplan in Abaújszántó fuhr ein Bus sogar um 14:50 Uhr
direkt bis Hejce. Pünktlich um zehn vor drei kam der Bus, fuhr jedoch nur
bis Boldogkőváralja. Der Fahrer bedeutete uns zu warten. Der
nächste Bus kam kurz nach drei und fuhr auch nicht nach Hejce, sondern
über Vilmány weiter bis Miskolc. Wir warteten aber nicht mehr und
fuhren mit bis Vilmány. Die drei Kilometer würden wir auch noch laufen
können.
Von Vilmány sahen wir schon den Kirchturm von Hejce und im Südosten
die Burgruine Regéc. Auf halbem Weg hielt plötzlich ein Auto, ein Typ
mit grauem Vollbart stieg aus. Ohne ein Wort zu sagen, öffnete er den
Kofferraum, bedeutete uns die Rucksäcke reinzulegen und fuhr uns nach
Hejce, exakt zu der Stelle, wo der Wanderweg nach Regéc begann.
Wir liefen noch eine reichliche Stunde aufwärts, bis es Zeit wurde, das Zelt
aufzubauen.
Goldgelb leuchtete der Wald in der Abendsonne. Wir hatten einen super Fernblick.
Am Horizont reckten sich die zackigen Gipfel der Hohen Tatra – ein
ausgezeichneter Platz zum Zelten. Nur die Wasserstelle entsprach nicht so sehr
meinen Vorstellungen. Ein mit Laub bedecktes Rinnsal ergoss sich in eine modrige
Pfütze. Helga hatte eine brillante Idee das Problem zu lösen. Sie
kramte in ihrem Rucksack und holte die Ersatzstange von ihrem Zeltgestänge
hervor.
Ich schob ein wenig den Dreck beiseite, klemmte die Zeltstange zwischen ein paar
Steine – und das Wasser sprudelte wie daheim aus dem Wasserhahn.
An einem klaren, frischen Morgen liefen wir noch reichlich zwei Stunden bis zur
Burgruine Regéc. Vorbei an verrammelten Kassiererhäuschen, wo wir
sonst 200 Forint (Kinder 100) hätten zahlen müssen, kletterten wir in
den Burghof. Von der Burgmauer hatten wir eine gute Sicht auf die Berge und der
sich anschließenden Tiefebene. Ich war etwas enttäuscht, die Farben
der bewaldeten Hügel erreichten hier lange nicht die Intensität des
Țarcu- und Retezat-Gebirges.
Auf dem Weg nach Óhuta schien die Markierung nur noch als Belohnung zu
erscheinen, auf jeden Fall nicht an den Stellen, an denen sie zur Orientierung
notwendig gewesen wären. Auf großen Abschnitten war der Weg
überhaupt nicht mehr markiert. Hinter Ujhuta ging es noch mal auf etwas
über 400 Meter bergauf, um anschließend auf einem matschigen und
zerfurchten Weg über eine Stunde ins Tal hinabzuführen. Nie hätte
ich geglaubt, dass 400 Höhenmeter so lang sein können. Der Wanderweg
endete in Makkoshotyka an der Bushaltestelle. Wir hatten Glück, der
nächste Bus nach Sárospatak fuhr in 2 Minuten.
Es ist ein komischer Ort. Alle Privatunterkünfte befinden sich
außerhalb. Der Stadtkern nicht auszumachen. Uns blieb nichts weiter
übrig, als das Hotel Bodrog aufzusuchen. Zuvor aber liefen wir wieder den
ABC-Laden an für unser Standartfutter: Wein, Bier, Brot und Kolbász,
mit dem russischen Wort bezeichnet man hier eine Art Salami. Das Hotel Bodrog
ist ein 3 Sterne Hotel. Die Dusche funktionierte zwar, aber das Zimmer hatte
keine Doppelbetten. Immerhin konnte sich das Frühstücks-Büfett
am nächsten Morgen sehen lassen. Unsere Tour neigte sich langsam dem Ende
entgegen. Wir fuhren mit dem Zug zurück nach Tokaj. Morgen würde es
über Budapest zurück nach Hause gehen.