(Karpatentour September/Oktober 2003 – Polen)
Ein kühler Wind wehte über den Bahnsteig und mein Kinn verkroch sich
tiefer und tiefer in den Kragen meiner Fleece-Jacke, der Sommer war eindeutig
vorbei.
„Der Zug von Dresden zur Weiterfahrt nach Breslau hat voraussichtlich 10 bis 15
Minuten Verspätung“, schallte es durch die Lautsprecher auf Gleis 11.
Ich wartete auf dem Bahnhof in Görlitz und musste feststellen, dass aus den
10 bis 15 Minuten 23 wurden. Genau die Zeit, die ich in Breslau laut Fahrplan
für meinen Anschlusszug nach Zakopane hatte. Für Spannung war gesorgt.
Ich wollte meine Tour durch den polnischen Teil der Tatra zu Ende führen,
die ich ein Jahr zuvor begonnen hatte. Außerdem fehlte mir immer noch der
höchste Berg der Karpaten, die Gerlsdorfer Spitze in der Slowakei. Nach so
vielen Touren in den Karpaten war sie mehr als überfällig.
Bis auf einen kleinen Rest machte der Zug die Verspätung wett. Ich hatte
noch knapp 15 Minuten Zeit in Breslau was hier Wrocław heißt. Der
Anschlusszug nach Zakopane kam aus Stettin. Was zur Folge hatte, dass ich mit
viel Glück noch einen Sitzplatz ergatterte.
„Habe schon mal in Braunschweig gearbeitet“, erzählte mir mein Nachbar, während
er mir half, meinen Rucksack auf dem Gepäckträger zu verstauen. Dabei
stieß er seine Büchse Bier um.
Die gelbe Flüssigkeit verteielte sich auf dem Boden des Abteils und der
Wortschatz meines Nachbarn beschränkte sich für die nächsten 5
Minuten auf „kurwa“. Doch dann besann er sich, holte eine Flasche
„Sobieski-Wodka“ hervor und spielte mit seinem Nebenmann eine Runde Karten.
Der Mann auf der anderen Seite hatte ganz andere Probleme. Sein Nachbar, ein Typ
mit gelbem Kosakenhemd und kleinkariertem Jacket, beides nicht gerade vom
„Weißen Riesen“ verwöhnt, lümmelte mit seinem Kopf auf dessen
Schulter. Ab und zu wurde es meinem Gegenüber zu bunt und er wies seinen
Nachbarn zurecht, was unseren Freund indischer Abstammung anscheinend wenig
störte. Er kratzte sich am Hintern, brummelte etwas vor sich hin und drehte
sich auf die andere Seite, zu seinem linken Nachbarn.
Es schien eine lustige Fahrt zu werden.
Nebel hing zwischen den Bäumen, als der Zug am nächsten Morgen in
Zakopane einfuhr. Ich fädelte mich in meinen Rucksack und torkelte etwas
schlaftrunken aus dem Abteil. Es war kurz nach sieben und noch ruhig in der
Stadt. Vorbei an Häusern mit Schildern auf denen „wolne pokój“ -
Zimmer frei - stand schlenderte ich nach Kuźnice, einem Vorort von
Zakopane am Fuß der Westlichen Tatra.
Der Wegezoll hatte sich um einen Złoty erhöht das Bier kostete noch
genauso viel wie im letzten Jahr. Ich folgte einem Bach und grünen
Wegmarkierungen zum Gipfel des Kasprowy Wierch auf der Grenze zur Slowakei.
Stürmisch - kühl empfingen mich die Berge. Ich musste aufpassen, dass
der Wind meine Mütze nicht auf slowakisches Gebiet wehte. Weiße Steine
mit roten Kappen markierten die Grenze und ein breiter Weg zog sich auf dem Kamm
entlang in Richtung Hohe Tatra.
Ich wollte zur Murowaniec-Hütte und wählte den ersten Weg nach unten.
Er war mit einem gelben Band markiert, auf dem sich zwei Gestalten in
grünen Uniformen näherten. Die beiden hatten noch nicht allzu lang die
Ehre ihrem Land dienen zu dürfen.
„Your passport, please“, sagte einer der Beiden auf Englisch. Ich zeigte meinen
Pass. Er blätterte drin herum und gab ihn mir zurück. Nach zehn
Schritten kamen sie zurück und wollten meinen Pass noch einmal sehen. Durch
ein Funkgerät, was der eine dabei hatte, übermittelte er meine Daten
vermutlich seinem Vorgesetzten. Als alles in Ordnung zu sein schien und man mich
belehrt hatte, nur über den öffentlichen Grenzübergang in Lysa
Poľana in die Slowakei einzureisen, bekam ich meinen Pass zurück und
durfte meinen Weg fortsetzen.
Ich erreichte die Hütte am Mittag und zahlte 30 Złoty für ein
Zimmer mit 4 Betten.
Der nächste Tag zeigte sich nicht von seiner besten Seite, genau genommen
zeigte er gar nichts. Ich wählte den Weg durch die Täler Suchej Wody
und Roztoki zur Schronisko w Dolinie Pięćin Stawów Polskich
(Fünf-Polnische-Seen-Hütte).
Auf einer Wiese, die Polana Waksmundska heißt, lief mir ein Wanderer
über den Weg, der die grüne Markierung zur Murowaniec Hütte
suchte. Er wohnt in Warschau und versicherte mir, keine Wanderwege zu sammeln.
„Ist der letzte Wanderweg in der Tatra, der mir noch fehlt“, erzählte er
mir. „Wenn ich heute Nachmittag in der Hütte sitze, habe ich was zu feiern.
Bin dann alle markierten Wanderwege gelaufen.“
Ich zeigte ihm die Richtung. Er fragte, was ich noch so geplant hätte. Als
er erfuhr, dass ich noch in die Slowakei wollte, kramte er seine Karte hervor
und zeigte mit dem Finger auf einen blau markierten Wanderweg. „Hier, den Weg
musst du unbedingt gehen. Von Łysa Polana bis Starý Smokovec. Kommst
durch alle Höhenstufen der Tatra. Da, am Poľsky hreben vorbei.
Gehörte alles zu Polen. Aber die Slowaken haben mit dem Hitler gemeinsame
Sache gemacht und bekamen das Land.“
Ich schaute mir den Weg auf seiner Karte an. „Ist ziemlich weit“, meinte ich. Er
musterte erst mich, dann meinen Rucksack. „Das schaffst du schon“, stellte er
anschließend überzeugt fest. Ich bedankte mich für die Infos und
setzte meinen Weg fort.
Die Fünf-Polnische-Seen-Hütte hätte ich fast umgerannt. Von den
Seen sah ich nicht mal einen, so dicht war der Nebel. Ich genehmigte mir einen
Kräutertee und versuchte dem Hüttenwart an der Rezeption klar zu
machen, dass ich hier übernachten wollte. Er verstand weder deutsch noch
englisch. Ich bekam schließlich ein Bett auf Zimmer 9, verstaute meinen
Rucksack und suchte mir etwas zum Abendessen aus. Da ich mit den Namen meistens
nichts anzufangen wusste, bestellte ich einfach drauf los und lies mich
überraschen. Heute aß ich etwas, was sich Bigos nannte. Es schmeckte wie
eingedickte Soljanka und bescherte mir die ganze Nacht hindurch Blähungen.
Auf der Hütte war nichts los. Neben einer Polin, die hier schon
längere Zeit lebte, trafen am Abend noch zwei Damen aus Israel ein.
Was ich an den polnischen Berghütten mochte, war die Tatsache nicht gleich
angepöbelt zu werden, wenn man noch nicht mal richtig zur Tür rein ist
und seine Wanderschuhe noch an hat. Trotzdem sind die Hütten blitzsauber.
Putzen scheint halt nicht Wessi-Sache zu sein. Da greift man dann lieber auf
Fachkräfte aus Osteuropa zurück.
Am nächsten Morgen schaute ich aus dem Fenster auf rot leuchtende
Bergspitzen. Sonnenstrahlen kitzelten in der Nase, als ich meinen Weg in Richtung
Morskie Oko (Fischsee) fortsetzte. Da es bis zum Fischsee nicht so weit war,
beschloss ich einen Abstecher zum Zawrat-Sattel zu machen. Ich erreichte ihn
zwei Stunden später. Mein Blick viel auf schwarzen Fels und weiße
Wolken, die bis zum Horizont reichten. Ich stellte meinen Rucksack ab, machte ein
paar Fotos und knabberte einen Müsliriegel.
Der Weg zurück dauerte nicht so lang, nach einer Stunde stand ich an einem
Wegweiser, der zum Szpiglasowa Przełęcz zeigte. Der Weg ist mit
einem gelben Band markiert. Laut dem Schild sollte es eine Stunde dauern, bis
man oben im Sattel steht. Ich brauchte etwas länger. Mir folgte eine junge
Frau, ohne Gepäck. Sicherlich war ich ihr zu langsam, aber überholen
wollte sie auch nicht. Machte ich Pause, tat sie es auch und erklärte mir
die umliegenden Gipfel.
„Dort, die Mittlere von den drei Spitzen heißt Rysy“, sagte sie. „Ist der
höchste Berg Polens. Wenn du willst, in 4 Stunden bist du oben.“ Ich
musste erst einmal pausieren, setzte meinen Rucksack ab und holte die
Wanderkarte raus. Der Rysy, 2499 m hoch, war mein nächstes Ziel, aber erst
morgen und ohne Rucksack. Falls das Wetter mitspielen würde. Ich sagte ihr,
dass meine Tour heute an der Getränkeausgabe der Morskie-Oko-Hütte
ihren Abschluß finden würde. „Bis später auf der Hütte“,
sagte sie lachend und hüpfte über die Geröllbrocken den Hang
hinunter. Ich sah sie nicht wieder.
An der Hütte drängelten sich die Menschen, Urlauber die sich von
Łysa Polana mit Pferdekutschen zum Morskie Oko chauffieren ließen.
Zum Glück blieben sie nur bis zum Einbruch der Dämmerung. Die
Hütte lebte von diesen Touristen und hatte sich auch voll auf diese
eingestellt. So schloss die Küche bereits um 18:00 Uhr.
Der berühmteste Tourist auf der Hütte war Karol Wojtyla, besser
bekannt als Papst Johannes Paul II. Links neben dem Eingang dokumentiert eine
Wand mit Fotos seinen Besuch.
Es hatte sich eigentlich nichts verändert seit letztem Jahr. Bett und Bier
kosteten nicht mehr, lediglich die Dame an der Rezeption hatte sich ihre Haare
schwarz färben lassen.
Der nächste Tag begann wie im Bilderbuch. Es war erst 7:00 Uhr als ich mit
meinem Tagesrucksack, der Kamera und den beiden Teleskopstöcken vor die
Hütte trat. Glatt wie ein Spiegel lag der Morskie Oko vor mir.
Rot spiegelten sich die Gipfel des Mönchs, der Čubrina und
der Großen Mengsdorfer Spitze im Wasser.
Bereits 45 Minuten später stand ich am See Czarny Staw pod Rysami. Wind
kräuselte die Oberfläche. Früher war hier ein Grenzposten
stationiert, erzählte mir letztes Jahr ein Wanderer aus Stettin. Der
Grenzhüter hatte eine wichtige Aufgabe zu erfüllen. Auf dem Gipfel des
Rysy befand sich eine Lenin-Gedenktafel, die von polnischen Bergsteigern
regelmäßig demontiert wurde. Unser Grenzwächter ersetzte diese,
bis sie erneut als ungeliebtes Objekt von Polens höchstem Berg heimlich
entfernt wurde.
Das einzige was ich vom Gipfel mitnehmen wollte, waren Erinnerungen in Form von
kleinen 24x36 mm großen Zelluloidschnipseln. Der Weg nach oben war sehr gut
ausgebaut. Das letzte Drittel wurde durch Ketten gesichert, war aber nicht
schwierig. So kam ich besser voran als erwartet und stand bereits nach 3 Stunden
auf dem höchsten Berg Polens.
Ich war allerdings nicht der Erste. Ein Wanderer, der von der slowakischen Seite
aufgestiegen war durfte den 360° Panoramablick eine viertel Stunde vor mir
genießen.
Aus irgendeinem Grund habe ich von Abstiegen immer mehr Respekt als vor einem
Aufstieg. Jedenfalls fühle ich mich erst dann wieder richtig wohl, wenn ich
wieder laufen kann ohne meine Hände zu benützen. Der Abstieg vom Rysy
machte jedoch richtig Spaß. Nach einer Weile hatte ich den Dreh raus und
konnte mithilfe der Ketten die Felsen förmlich runterrennen.
Am Czarny Staw pod Rysami stolperte ich fast über einen Österreicher,
der sich über die aufziehenden Wolken ärgerte. Und tatsächlich,
ich blickte zurück, aber den Gipfel des Rysy schluckten bereits graue
Wolkenfetzen.
„Bin um halb sechs heute Morgen in Krakau los, aber zu spät“,
schimpfte er. Es war mittlerweile 12:00 Uhr. Rein theoretisch wäre es noch
machbar gewesen. Aber auf fast 2500 Meter im Nebel zu stehen ist nicht wirklich
interessant, dachte ich mir. Ich lief um den See herum und begegnete einem
älteren Pärchen. Die Dame wollte wissen, ob ich auf dem Gipfel war.
Ich nickte, musste mich setzen und bekam eine Tasse heißen Tee aus der
Thermosflasche. Im Handumdrehen wurde mir das Gefühl aufgezwungen, ein
kleiner Held zu sein.
Zufrieden schlenderte ich zurück zur Hütte. Dort angekommen sprang ich
unter die Dusche und studierte anschließend die Speisekarte, um etwas zu
finden, was ich noch nicht kannte. „Ziemniaki, marchewka z groszkiem“, las ich
und bestellte. Nach 5 Minuten aß ich Hühnchen mit Salatbeilage und
Kartoffelbrei für 15 Złoty.
Alle schliefen noch, als ich am nächsten Morgen mein Matratzenlager
verließ. Ich wollte zu einer Hütte mit dem Namen: Schronisko im.
Wincentego Pola w Dolinie Roztoki w Tatrach. Was soviel wie Vincent
Pol-Hütte im Roztoka-Tal der Tatra bedeutet. Der Weg zur Hütte
führte vom Morskie Oko zum Großteil über Asphalt.
So legte ich einen Umweg ein und trödelte über einen Weg der mit
blauem Band markiert war hoch bis zur Polnischen-Fünf-Seen-Hütte und
von dort vorbei an den Siklawa-Wasserfällen zur Roztoka-Tal-Hütte. Der
Schlafraum roch etwas muffig, ansonsten war es ganz gemütlich.
Morgen würde ich Polen verlassen. Bis Łysa Polana ist es noch etwa
eine Stunde zu Fuß. Ich erreichte den Grenzübergang um 8 Uhr.
Die letzten Tage meines Urlaubs wollte ich in der Westlichen Tatra verbringen.
Ich fuhr von Szczawnica mit dem Bus zurück nach Zakopane. Vor dem
Busbahnhof erwischte ich noch den Bus nach Kuźnice. Die nächsten 90
Minuten lief ich über die berüchtigten Tatra-Geröllwege zur
Berghütte auf der Hala Kondratowa.
Die Hütte, ein Holzhaus mit
Schindeldach liegt 1333 m hoch an den Ausläufern des Giewont und hätte
bei einer Umfrage – Wie finden sie unsere Berghütten? – eine recht hohe
Wertung von mir bekommen, wäre da nicht etwas Unverzeihbares gewesen: Es
gab kein Bier! So hockte ich mich auf mein Bett nahm einen Schluck aus der
Wasserflasche und schaute aus dem Fenster – es schneite.
Am nächsten Morgen war der Himmel blau. Ich verzichtete auf das
Frühstück und den Gang aufs Klo und stieg auf zum Kondracké
sedlo. Oben stellte ich fest, dass ich auch meine Wasserflasche vergessen hatte.
Dafür war die Aussicht phantastisch. Vom Kopa Kondracka konnte ich im Osten
den gesamten Kamm der Hohen Tatra sehen und gegenüber reihten sich die
weißen Bergkuppen der Westlichen Tatra.
Ich stieg über einen Seitenkamm nach Norden ab und kletterte auf den
Giewont mit seinem überdimensionalen Gipfelkreuz.
Die dünne Schneedecke verwandelte den Wanderweg in eine gefährliche
Rutschbahn. Wenn ich auch vieles in der Tatra mochte, mit den aus
Geröllsteinen angelegten Wanderwegen werde ich mich nie anfreunden
können. Vorsichtig, einen Fuß vor den anderen setzend und auf beide
Stöcke gestützt, rutschte ich auf einem mit rotem Band markierten Weg
nach unten ins Tal Dolina Strąźyska. In einer kleinen Hirtenhütte
hockten Touristen und löffelten Suppe, das Bier kostete 7 Złoty.
Ich hatte keine Lust mich zwischen die Menschen zu quetschen, machte auf der
Schwelle kehrt und lief weiter.
Auch im Berghotel Kalatówki kostete das Bier 7 Złoty und die Damen
an der Rezeption ähnelten Geschäftsfrauen im Außendienst. Es war
eindeutig nicht meine Preisklasse. Bis zur Kondratowa Hütte war es nicht
mehr weit. Auf einem Schild stand eine Stunde, ich brauchte nur halb so lang.
Die Berge steckten schon wieder im Nebel, als ich vor meinem Kräutertee
saß und meine Erlebnisse im Tagebuch verewigte.
Die Mine meines Kugelschreibers versagte ihren Dienst auf den letzten Seiten des
Heftchens. Ich fand es nicht weiter schlimm, denn morgen würde ich den
Bergen Lebewohl sagen, vorläufig wenigstens.
Das viel mir am nächsten Morgen auch nicht sonderlich schwer. Dichter
Flockenwirbel begleitete mich auf meinem Abstieg nach Zakopane. Dort regnete es.
Halsschmerzen und das gute Gefühl einer gelungenen Tour begleiteten mich
zurück nach Deutschland.