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Wo der Adler fliegt

(Karpatentour Juni 2012 – Polen)

Inhalt

  1. Umwege
  2. Aufstieg
  3. Regen
  4. Aufs Kirchlein
  5. Schwein gehabt
  6. Orla Perć
  7. Und wieder Regen
  8. Abstieg
  9. Informationen

Von den markierten Wanderwegen auf meiner Wanderkarte der Hohen Tatra stach mir ein Weg immer besonders ins Auge. In knalligem Rot hebt er sich vom Rest ab. Doch nicht die Farbe ist es, die mein Interesse weckt. Wie auf einer Perlenkette reiht sich ein gelber Punkt an den nächsten. Sie symbolisieren Ketten, Tritte und Leitern an besonders schwierigen und ausgesetzten Passagen des schwierigsten Wanderweges der Karpaten – dem Orla Perć (Adlerweg).
Der Adlerweg zieht sich über den Grat eines nördlichen Nebenkammes der Hohen Tatra in Polen. Er beginnt im Zawrat-Sattel (Zawrat Przełęcz) auf 2158 m und endet im Sattel Krzyżne auf 2112 m. Wer dort lang will, muss trittsicher und schwindelfrei sein. Nicht alle Kletterpassagen sind mit Ketten gesichert. Auch im Sommer muss man mit zwar kurzen, aber steilen Schneefeldern rechnen, die zu queren sind. Wenn der Fels regennass ist, wird es rutschig, immer wieder gab es dann Unfälle auch mit tödlichem Ausgang. Der Adlerweg ist kein Klettersteig! Zwar wurde darüber diskutiert, auch mit der Intention, ihn damit „sicherbarer“ und somit sicherer zu machen. Doch die Idee wurde aus Respekt vor den Weggründern wieder verworfen – zum Glück.
Zusammen mit Helga wollte ich dem Weg des Adlers mal einen Besuch abstatten.
Laut meiner Karte müssen wir etwa 7 Stunden für den Weg einplanen. Da jedoch noch der Zustieg und der Abstieg hinzukommen, ist uns klar, dass wir den Weg in mehreren Etappen laufen müssen. Zu unserem Basislager wählen wir die Berghütte Murowaniec auf der Gąsienicowa-Alm. Von dort können wir den Weg in 2 bis 3 Etappen angehen. Die letzte Woche im Juni scheint für unser Vorhaben am günstigsten zu sein. Es ist die letzte Woche vor Beginn der Sommerferien in Polen. Wir hoffen, so dem Massenansturm auf die Berge der Hohen Tatra zu entgehen. Und der Schnee sollte soweit geschmolzen sein, dass er für unsere Tour kein ernstes Hindernis mehr darstellen dürfte. Das einzige, was uns noch einen Strich durch die Rechnung machen konnte, war das Wetter – wir brauchen halt Glück.

1. Umwege

Die Anreise mit dem Zug ist lang. Den Zug haben wir gewählt, da er mit dem Europa-Spezial-Tarif die günstigste Möglichkeit ist, in die Hohe Tatra zu gelangen. Wobei die Streckenführung „eigenwillig“ ist. Anstatt des kürzesten Weges von Freiburg über Dresden, Wrocław (Breslau) und Kraków (Krakau), schickt uns die Bahn über Berlin und Warschau nach Zakopane. Noch seltsamer ist, dass wir zwar eine Schlafwagenreservierung bis Warschau bekommen, unser Ticket jedoch über Breslau weiter nach Krakau und Zakopane ausgestellt ist. Da mir die Dame hinter dem Fahrkartenschalter in Freiburg aber versicherte, dass es bei dem Tarif egal sei und sie es nicht anders buchen könne, verschwendete ich keinerlei Gedanken über die Strecke.
Unser Zug erreicht trotz anfänglicher Verspätung pünktlich die polnische Hauptstadt. Das ist gut, aber nicht selbstverständlich. Der nächste Zug nach Krakau fährt in einer halben Stunde. Unklar ist nur, ob unser Fahrschein für den Zug gilt, oder ob wir noch irgendeinen Zuschlag zahlen müssen. Wir fragen mal vorsichtshalber.
Der Schalterangestellte im Infocenter runzelt die Stirn. Zum Glück spricht der Mann Deutsch. „Ihr Ticket ist nicht gültig, Sie hätten in Poznań (Posen) umsteigen müssen.“ Das geht weder aus unserer Reiseverbindung hervor, noch hatte man uns in Deutschland darauf hingewiesen. Wir zeigen ihm unsere Reiseverbindung. Er schüttelt den Kopf. Wenn wir nach Krakau wollen, müssen wir einen neuen Fahrschein kaufen. Wer irrt hier? Die Dame aus Freiburg oder der Herr in Warschau? Wir werden es wohl nicht herausbekommen. Uns bleibt nichts anderes übrig als umgerechnet etwa 15 Euro pro Nase zu zahlen, damit wir weiter kommen. Der Mann gibt uns noch den Tipp, dass von Krakau auch Busse bis Zakopane fahren. Die fahren öfter und seien zudem schneller am Ziel als der Zug.
Knapp 3 Stunden dauert die Fahrt bis Krakau. Am Bahnsteig müssen wir uns erst orientieren, wir folgen dem Strom der Zugreisenden – und gelangen so nicht wie erwartet ins Bahnhofsgebäude, sondern finden uns in einem recht pompösen Einkaufszentrum wieder. Scheint mir eine Art Besucherlenkungsprogramm zu sein. Helga spurtet durch die Menschenmassen hindurch, dass ich kaum nachkomme – ihr Ziel der Busbahnhof. Etwas außer Atem erreichen wir den Busbahnhof. Der nächste in Richtung Zakopane fährt in 5 Minuten. Wir zahlen noch mal 5 Euro und los geht's unserem Ziel entgegen.
Der Bus fährt nicht nonstop bis Zakopane. Doch die wenigen Haltestellen befinden sich gleich neben der Schnellstraße oder sogar direkt in der Zu- und Abfahrt, sodass wir nicht viel Zeit verlieren. Um 17:15 Uhr sind wir am Ziel, fast drei Stunden früher als geplant.
Ich hatte schon von Deutschland aus ein Zimmer in der Pension „Adria“ reservieren lassen. 195 Złoty (50 €) kostet das Doppelzimmer mit Frühstück. Dummerweise merke ich hier, dass mein Ausweis noch daheim in der Geldbörse steckt. Die Dame gibt sich zum Glück damit zufrieden, dass Helga sich identifiziert. Als die Grundhygiene erledigt ist, haben wir noch genug Zeit für einen Borschtsch und ein Bier in Zakopanes Touristen-Meile.
Zwischen Hütchenspielern, Bettlern, Musikanten und jede Menge Touristen bahnen wir uns den Weg zu einem Restaurant, das nicht mit abendlicher Volksmusik wirbt. Die zwei Typen am Nachbartisch hatten sich da härteren Sachen verschrieben. In einem Sektkühler steckt eine 0,7er Wodkaflasche, die von den beiden, Schluck für Schluck ihres Inhalts entledigt wird.

2. Aufstieg

Der Sonntag beginnt sonnig. Wir starten um dreiviertel neun in Richtung Kuźnice. Ein Gedränge herrscht nicht nur an der Seilbahnstation, auch vor dem Tickethäuschen am Eingang zum Nationalpark steht eine Menschenschlange. Es ist halt Sonntag. Der Obolus beträgt jetzt 8 Złoty (1 €) pro Person.
Wir wählen den blau markierten Wanderweg über den Ausläufer des Wielka Królowa Kopa zu unserer Unterkunft der Berghütte Murowaniec. Zwar geht es auch hier über die berüchtigten Tatra-Geröll-Wege, jedoch nicht ganz so steil hinauf. Ab und zu erhaschen wir einen Ausblick auf die Westtatra. Unter uns leuchten saftig grün die Bergwiesen im Tal Kondratowa dolina herauf, über den bewaldeten Berghängen thront der Felsgipfel des Giewont. Als wir den Wald hinter uns lassen, wird der Blick frei auf die Hügelketten der nördlichen Beskiden mit ihren Streusiedlungen und den Vororten von Zakopane. Zwischen den hellen Kalkbrocken am Wegrand blühen tiefblauer Enzian, rosa Orchideen und gelbe Butterblumen.
Rund 3 Stunden brauchen wir bis zur Hütte auf der Gąsienicowa-Alm. Mit einem Platzangebot für 116 Personen ist die Hütte recht groß. Ich hatte schon in Deutschland ein Zimmer reserviert. Fünf Nächte wollen wir bleiben. Wir haben ein 3-Bett-Zimmer, das 45 Złoty (11,50 €) pro Person kostet. Mit Bettwäsche und Kurtaxe zahlen wir für eine Übernachtung rund 12 Euro, was im Vergleich zu Alpenhütten recht günstig ist.
Das Zimmer ist sauber und einfach. Dusche und Klo sind auf dem Gang. Letzteres könnte sauberer sein. Etwas verwirrend sind die Symbole an der Klotür: Damen folgen einem Kreis, die Herren einem Dreieck.
Wir wollen den Tag noch nicht ausklingen lassen, zumal ein Bildschirm im Eingangsbereich der Hütte das Wetter der nächsten Tage anzeigt. Und für morgen sieht die Prognose nicht erbauend aus – Regenwahrscheinlichkeit 85 %.
Doch erst mal müssen wir etwas essen. An der Bar liegt eine Speisekarte in Englisch aus. Bedruckte A4-Blätter in Klarsichtfolien. Das, was vorrätig ist, markiert ein Punkt, der mit Kugelschreiber auf die Folie gekritzelt wird. Verrutscht nun das Blatt in der Folie, stimmt nichts mehr und die Dame hinter dem Tresen ist sichtlich überfordert. Warum man die Punkte nicht auf das Blatt malt, bleibt uns ein Rätsel. Wir stärken uns mit einem Okocim-Bierchen und einer Krautsuppe und starten dann in Richtung Tatra-Hauptkamm, das Schwein zu besteigen. Die Świnica (deutsch Sauberg) ist mit 2301 m der erste hohe Gipfel der Hohen Tatra im Westen. Der Tatra-Kamm und der Gipfel bilden die Grenze zwischen Polen und der Slowakei.
Zwischen den Bergseen im Gąsienicowa-Tal folgen wir erst einem gelben später einem schwarzen Band hinauf in den Sattel Świnicka Przełęcz, rund 550 Höhenmeter. Gämsen, zahm wie Hauskatzen, beäugen uns neugierig am Wegesrand. Manchmal trennen uns gerade mal 3 bis 4 Meter von den Tieren. Sie sehen etwas zottelig aus, da sie vermutlich noch ihr Fell von Winter auf Sommer wechseln.
Vom Sattel aus geht es zwischen Fels- und Geröllbrocken bergauf. Das rote Band markiert den Aufstieg. Wir kommen nur langsam voran. Da es doch schon recht spät ist, beschließen wir an einer Stelle, wo der Pfad durch eine Scharte im Fels führt, umzukehren. Wir folgen dem Hauptkamm nach Westen. Leider ist die Öffnungszeit der Küche auf der Berghütte nicht gerade wanderfreundlich gewählt. 19:30 Uhr ist Küchenschluss. Wenn wir noch was zu Futtern haben wollen, müssen wir zurück. So verzichten wir auch auf einen Besuch der Seilbahnstation am Kasprowy Wierch und steigen im Sattel Liliowe (Liliensattel), der die Hohe Tatra von der Westtatra trennt, hinunter ins Gąsienicowa-Tal und laufen zurück zu unserer Unterkunft. Im Osten auf dem Gipfel des Kóścielec stehen noch Menschen. Helga findet den Berg interessanter als die Świnica, denn er scheint imposanter nach oben zu führen. Wenn es morgen das Wetter zulässt, wollen wir versuchen dort hinaufzukraxeln.

3. Regen

Doch der Wetterbericht irrt nicht. Es ist noch dunkel, als die ersten Tropfen auf das Hüttendach trommeln. Und auch am Morgen regnet es ununterbrochen, von den Bergen ist nicht viel zu sehen. Wir können uns Zeit lassen. Den Gipfel des Kóścielec können wir vergessen. Über nasse Steine erklimmen wir gegen Mittag den Bergsattel Sucha Przełęcz, um in der Seilbahnstation einzukehren. Es ist kalt und windig. Trotz des miesen Wetters sind Wanderer unterwegs. Einige stecken in raschelnden Plastiktüten andere laufen einfach so durch den Regen. Schemenhaft zeigt sich das Gebäude. Innen ist es gemütlich warm. Fast alle Tische im Restaurant sind belegt. Wir hocken uns an einen, der noch frei ist. Helga ist Bohnensuppe, ich Bigos (Krauttopf), Polens Nationalgericht.
Im Regen und Nebel geht es auch wieder hinunter. Erst zum Abend klart der Himmel auf. Die Wolken geben die Gipfel wieder frei, die nun goldgelb in der Abendsonne erstrahlen. Morgen soll es besser werden.

4. Aufs Kirchlein

Es ist nicht wirklich schön am nächsten Morgen, aber es ist trocken. Unsere Eingehtour zum Kóścielec-Gipfel können wir wagen. Je näher wir dem Berg kommen, desto mehr ändert sich die Perspektive. Sieht die Westwand von der Hütte aus noch steil und schroff aus, ist sie am Bergsee Czarny Staw Gąsienicowy schon fast sanft geneigt. Helga ist enttäuscht. Steil geht es vom Ufer des Sees zwischen Bergkiefern hinauf in den Karb-Sattel zwischen dem Mały Kóścielec und dem Kóścielec. Vor 5 Jahren markierte den Aufstieg noch ein grünes Band. Auch meine Karte zeigt noch die grüne Markierung. Jetzt ist es ein schwarzes Band.
Im Sattel weht ein kalter Wind, Wolkenfetzen hängen am Gipfel des Kóścielec. Wir ziehen uns noch eine Jacke drüber und beginnen mit dem Aufstieg. Ein paar kurze Kletterstellen müssen wir überwinden, die meiste Zeit geht es jedoch über einen Pfad in Serpentinen nach oben. Erst kurz vor dem Gipfel müssen wir noch mal über einen Felsvorsprung kraxeln. Wir teilen uns den Steinhaufen mit einer Gruppe Polen. Die Sonne schaut kurz zwischen den Wolken hervor, doch der Wind ist kalt. Wir bleiben nicht lang oben, ich mache schnell ein Gipfelfoto, dann klettern wir wieder hinunter.
Eine junge Frau fragt Helga an der letzten Kletterstelle, ob noch mehr solcher Stellen auf dem Weg nach oben kommen. Dass dem so ist, baut sie nicht wirklich auf. Sie wirkt unsicher, wartet ein Weilchen und geht schließlich zurück.
Vom Karb-Sattel steigen wir nach Süden zu den Bergseen im Gąsienicowa-Tal, es ist Zeit fürs Mittagessen. Wir genießen ein schlesisches Bierchen der Marke Żywiec, eine Art Rauchpeitsche und Brot mit Ziegenkäse.

5. Schwein gehabt

Das Wetter bessert sich zusehends. Es ist noch recht früh am Tag, wir wollen noch nicht zurück zur Hütte und beschließen noch einmal hinauf zum Świnicka Przełęcz zu wandern. Gegen halb vier stehen wir auf dem Hauptkamm unterhalb der Świnica. „Willst du noch auf den Gipfel“, fordert mich Helga auf. Klar will ich. Immerhin scheint die Sonne und von der Zeit her sollte es reichen. Ich schlage vor, auf der anderen Seite abzusteigen, da ich der Meinung bin, dass es kürzer ist, als den ganzen Weg wieder zurückzugehen. Doch da sollte ich mich noch gründlich täuschen.
Wir kommen recht flott voran und stehen bald an der Scharte, an der wir vorgestern umgekehrt sind. Am Fels hängen Sicherungsketten. Auf der anderen Seite führt ein Pfad leicht bergauf. Der Pfad endet an schräg nach Norden hin ansteigenden Felsplatten, über die es an Ketten zum Gipfel geht. Vom Gipfel zweigt der Tatra-Hauptkamm nach Süden ab. Unser Weg führt aber nach Osten. Rote Pfeile auf den Felsen markieren die Stelle, wo wir weiter müssen. Der Abstieg ist deutlich anspruchsvoller als der Aufstieg. Immer wieder müssen wir über Felswände, an denen Ketten baumeln, hinunterklettern. Die Zeit schreitet voran, unter uns im Gąsienicowa-Tal glitzern die Bergseen in der Abendsonne. Endlich liegt der Schweineberg hinter uns, noch ein kurzer Anstieg und wir stehen im Zawrat-Sattel. Es ist halb Sieben. Auf unser Abendessen werden wir verzichten müssen, denn laut Wegweiser im Sattel sind es noch 2 Stunden bis zur Hütte.
Ich erwartete einen problemlosen Abstieg hinunter zum Bergsee Czarny Staw Gąsienicowy. Helga holt ihre Wanderstöcke raus. Doch schon nach ein paar Metern kann sie die Dinger wieder wegpacken. Senkrecht geht es an Ketten den Fels hinunter.
Unten am Einstieg steht in einer Felsnische ein Schnapsglas. Ob sich da Mut angetrunken wird? Der Weg ist nun nicht mehr schwierig. Der See liegt glatt und glänzend im Abendlicht der untergehenden Sonne. Die Berge und Latschenkiefern leuchten goldgelb. Helga rennt die letzte Etappe bis zur Hütte. „Warum so schnell“, frage ich sie. „Vielleicht schaffen wir es ja noch, bevor die Bar schließt“, lautet die Antwort. Was auch mich rennen lässt.
Es klappt. Kurz vor neun sind wir an der Hütte, bekommen noch ein Bier und ein Stück Apfelkuchen. Morgen soll es schön werden. Es wird unser Tag. Wir wollen auf den Adlerweg.

6. Orla Perć

Es zeichnet sich schon ab, dass wir den ganzen Adlerweg nicht mehr schaffen werden. Übermorgen soll es wieder regnen. So entscheiden wir uns für das letzte Stück des Weges, vom Gipfel des Skrajny Granat bis zum Krzyżne-Sattel. Es ist mit An- und Abstieg die längste Etappe. Laut meiner Karte sind es 7 ΒΌ Stunden Gehzeit. Wir werden länger unterwegs sein. Also decken wir uns schon am Morgen mit Bier und Kuchen ein fürs Abendessen, falls wir zu spät sind.
Bis zum Abzweig des Wanderweges zum Granat-Gipfel kennen wir den Weg. Vom See führt der gelb markierte Pfad sofort steil den Hang hinauf. Bald lassen wir die Latschenzone hinter uns. Über Fels- und Geröllstufen geht es bergauf. Rechts von uns beginnt gerade eine Zweierseilschaft, den Berg über eine Kletterroute zu erklimmen. Der Vorsteiger hängt schon mitten im Fels, der Sichernde bindet sich gerade gemütlich die Schuhe zu. Aber er hat auch noch nichts zu halten, denn der Vorsteiger hat es offensichtlich noch nicht für notwendig gehalten, eine Sicherung zu legen. Ich hoffe, die beiden kommen heil oben an. Unser Aufstieg ist nur an einer Stelle mit einer Kette gesichert. Wie am Kóścielec führt meist ein Geröllpfad den Berg hinauf. Drei Stunden und 15 Minuten brauchen wir bis nach oben. Es ist 12:30 Uhr – Mittagspause auf 2225 m. Tief unter uns sehen wir ins Tal der fünf polnischen Seen (Dolina Pięciu Stawów Polskich) mit seiner Berghütte. Nach Süden zieht sich der Adlerweg in Richtung Kozi Wierch und Tatra-Hauptkamm. Wie ein Meer aus Felszacken scheint es mir.
Nun beginnt ein nicht endendes Auf und Ab. An Ketten, über Leitern und rutschigen Geröllwegen folgen wir dem Kamm, ich rutsche teils auf dem Hintern nordwärts. Mal zieht sich der Adlerweg auf der Ostseite des Grates entlang, dann wechselt er auf die Westseite. So schauen wir abwechselnd ins Fünf-Seen-Tal oder ins Pańszczyca-Tal. Helga kraxelt vor mir, meist ignoriert sie die Ketten. „Nimm doch die Kette!“, rufe ich, wenn sie vor mir wieder irgendwelche Turnübungen am Fels absolviert. Wozu sind die Dinger denn sonst da? Meiner Meinung nach hören die Ketten oft viel zu früh auf. Dann bleibt uns nichts anderes übrig als im Fels herumzubalancieren. Unterhalb des Wielka Buczynowa Turnia (2184 m) geht es durch einen kurzen Felskamin. Helga klettert an den Außenkanten des Kamins nach unten, ich wähle den sicheren Weg im Kamin und stecke fast fest. Was ich ihr als Klemmtechnik verkaufen möchte, kommentiert sie mit Pfropfen-Technik.
Vom Bergsattel Buczynowa Przełęcz zieht sich ein steiles Schneefeld in einer Rinne nach unten. Die Ketten sind noch teilweise unter dem Schnee. Wir müssen in den Fels ausweichen und dort weiterklettern. An einer schmalen Stelle des Schneefeldes führen Trittspuren auf die andere Seite. Eine Gruppe Polen, die uns gerade überholt hat, überquert dort das Schneefeld. Wir folgen ihnen. Wir sind uns sicher, dass wir die Tour zur rechten Zeit machen. Etwas früher wäre es vermutlich noch nicht ohne Weiteres möglich gewesen, den Weg zu laufen.
Wie Girlanden ziehen sich die Ketten im Zickzack den Berg hinauf. Oben wird es einfacher, ein Kammweg führt uns zum letzten Gipfel auf dem Adlerweg, auf den Mała Buczynowa Turnia (2172 m). Dann noch ein wenig Gratkletterei und wir haben es geschafft. Drei Stunden und 45 Minuten brauchten wir für den Teil des Adlerweges. Im Krzyżne-Sattel wimmelt es von Menschen. Hier führt ein Wanderweg von der Murowaniec-Hütte zur Berghütte im Fünf-Seen-Tal. Tief unter uns stürzt der Siklawa-Wasserfall in die Tiefe. Wir wählen die andere Richtung und steigen langsam ab. Steil über Geröllbrocken geht es abwärts. Es läuft sich nicht schön. Als es flacher wird, hocken wir uns auf einen Stein und machen ausgiebig Vesperpause. Alles, was der Rucksack hergibt, wird aufgetischt. Salami und Brot, Nüsse, getrocknete Ananasstücke und Rosinen. Dazu eine Dose Żywiec. Auf den Adlerweg!
Abends um halb acht erreichen wir die Hütte und bekommen sogar noch eine Tomatensuppe und Salat zum Essen. Mehr bekomme ich eh nicht runter, die Knie tun weh und ich bin müde. Trotzdem hat mir die Tour gut gefallen.

7. Und wieder Regen

Wie schon vom Wetterbericht versprochen, regnet es am Morgen wieder. Wir bleiben im Bett und vertreiben uns die Zeit mit Mensch-Ärger-Dich-Nicht spielen. Mich ärgert dieses Spiel, da ich meistens verliere. Erst am Nachmittag hört es auf zu regnen. Viel können wir nicht unternehmen. Wir beschließen zum Schwarzen-Gąsienicowa-See zu spazieren und dort unseren letzten Proviant zu vertilgen.
Nicht nur in Naturschutzgebieten Deutschlands gibt es Verbotsschilder, auch hier in Polen – zum Beispiel am Ufer des Bergsees. Daheim hätten wir jetzt ein „Baden verboten“ erwartet. Hier dagegen darf man nicht die Enten füttern und keine Dollar, Euro oder Złoty im See versenken. Andere Länder andere Sitten. Und wie überall setzt man sich natürlich über Verbote hinweg. Wanderer mit Geldüberfluss begegnen uns zwar nicht, dafür werden aber die heimischen Enten ausgiebig verwöhnt.
Kaum packen wir unser Futter raus, kommen sie von allen Seiten angeflattert und rücken uns dermaßen auf die Pelle, dass ich meine Bierdose in Sicherheit bringen muss.

8. Abstieg

Am nächsten Morgen ist wieder Sommerwetter. Für uns heißt es Abschied nehmen von der Hohen Tatra. Um 10:00 Uhr brechen wir auf in Richtung Zakopane. Wir wählen für den Abstieg den Weg durch das Tal Dolina Jaworzynka. Der Weg ist mit einem gelben Band markiert und steiler als der Hinweg. Morgen beginnen in Polen die Sommerferien, aber auch jetzt schon wälzt sich eine Menschenkette den Berg hinauf. Alte und junge, Wanderer mit Bergschuhen, Großstadtfrauen mit Sandalen an den Füßen und hochroten Gesichtern oder schnaufende Männer, dicke Bierbäuche vor sich herschiebend. Ich frage mich, wie oft wohl die polnische Bergwacht im Sommer ausrücken muss, um Menschen mit verstauchten Knöcheln oder solche, die sich selbst überschätzt haben, wieder einzusammeln.

Von Zakopane fahren wir mit dem Zug zurück nach Deutschland. Die Streckenführung über Warschau und Berlin ist zwar immer noch seltsam, aber unser Fahrschein ist diesmal gültig. Lediglich für 60 Złoty (15 €) pro Nase macht der Schlafwagenschaffner aus einem Dreier-Abteil ein Zweier-Abteil.
Auch wenn das Wetter uns zweimal einen Strich durch die Rechnung gemacht hatte, hatte sich die Tour gelohnt. Und den Adlerweg werde ich zu Ende gehen, das ist sicher!

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