(Karpatentour August/September 2015 – Rumänien)
Bereits letztes Jahr fragte mich Edgar (FÜL-Hochtouren unserer DAV-Sektion), ob ich mir vorstellen könnte, eine Woche Zelttrekking in den Karpaten mit ihm zusammen für unsere DAV-Sektion anzubieten. Er wollte diese Art des Bergsports unbedingt einmal ausprobieren.
Die Frage, die sich stellte war: Wo sollte das Trekking stattfinden? Für mich kam nach gründlicher Recherche nur das Fogarascher Gebirge in den Südkarpaten Rumäniens in Frage.
Warum ins Fogarascher Gebirge? Für ein Zelttrekking mussten für mich mehrere Bedingungen erfüllt sein. Es durfte keine rechtlichen Beschränkungen geben. Es sollte sicher sein, dass wir an jeder Stelle im Gebirge unsere Zelte aufbauen durften. Somit waren beispielsweise die Niedere Tatra in der Slowakei aber auch das Retezat Gebirge in Rumänien aus dem Rennen. Die An- und Abreise mit öffentlichen Verkehrsmitteln ins/vom Gebirge musste problemlos möglich sein. Im Notfall sollte ein unproblematischer Abstieg jederzeit gewährleistet sein. Der Charakter der Gebirgslandschaft sollte abwechslungsreich sein. Sehr lange Auf- und Abstiege während des Trekkings sollte es nicht geben. Und falls etwas schiefgehen sollte, brauchte ich eine Alternative.
Die Tour wurde ins Programm genommen und wir hofften, dass sich für die ersten beiden Septemberwochen genügend Teilnehmer anmelden würden.
Edgar (laut rumänischem Schaffner: comandant de grup), Barbara und Willi, Tanja und Egbert, Arjen, Helmut und meine Wenigkeit (als Ortskundiger).
Die Anreise gestaltete sich als unspektakulär, bis auf die Tatsache, dass der Nachtzug von Wien nach Sibiu keinen Speisewagen führte und Edgar somit um sein Wiener Schnitzel kam. Dafür spendierte uns der Liegewagenschaffner Salzstangen und zum Frühstück kalten Kaffee.
Als es zu dämmern begann, waren wir schon im Land der unbegrenzten Unmöglichkeiten. Der Mureș wälzte noch immer lehmgraues Wasser an Maisfeldern auf der einen Seite und den Hängen des Poiana-Ruscă-Gebirges auf der anderen Seite vorbei. Die Bergwälder kippten schon leicht ins gelbliche, wohl weniger wegen des bevorstehenden Herbstes, als vielmehr der zurückliegenden Sommerhitze geschuldet. Heiß war es immer noch. Temperaturen jenseits der 30 ℃ wurden für Sibiu vorausgesagt.
Unsere Gruppe war etwas skeptisch, als wir aus dem Zug stiegen. Waren wir wirklich schon am Ziel? Zugegeben, der Bahnhof vermittelte den Eindruck eines Haltepunktes einer mittelgroßen Dorfgemeinde. Doch wir standen wirklich in Sibiu (Hermannstadt).
Wir hatten bereits in Deutschland zwei Übernachtungen im Old-Town-Hostel im Zentrum der Altstadt gebucht.
Die Dame an der Rezeption wies uns ein 10-Bett-Zimmer zu. Leider hatte das Hostel nur eine Dusche und ein WC, das würde am nächsten Morgen bedeuten – Schlange stehen.
Ab jetzt konnte jeder tun und lassen was er wollte. Erst am Abend wollten wir gemeinsam in Sibiu's Spezialitätenrestaurant „Crama Sibiul Vechi“ essen gehen.
Mit Arjen, Edgar und Helmut schlenderte ich zum Bauernmarkt. Auch hier gab es Spezialitäten in Form von Gogoșar (Tomatenpaprika), Brânză de burduf (gesalzener Schafskäse in einer Schafsblase) und Slănina (gesalzener Schweinespeck) – Dinge, die ich auf keiner Rumänienreise missen möchte.
Nach dem Einkauf war Zeit fürs Mittagessen. Unter einem Sonnenschirm der für URSUS-Bier warb (auch eine Spezialität), erwartete Arjen und mich eine weitere Spezialität: Ciorba de burtă (Kuttelsuppe). Ob es die Beste war, konnte ich nicht beurteilen, sie schmeckte jedenfalls sehr gut. Auch Edgar war mit seinem gegrillten Gemüse zufrieden.
Die letzte Spezialität bekam ich am Nachmittag von meinem Freund Răzvan – 1,5 Liter Țuică (Pflaumenschnaps). Răzvan und seine Frau Andreea waren früh in Deva gestartet, um mich in Sibiu zu treffen. „I must find a "Borsec"-bottle for you and your comrades, to get warm on the ridge“ so sein Kommentar.
Was hat nun Borsec mit Țuică zu tun? Borsec ist eine bekannte Mineralwassermarke in Rumänien und wird üblicherweise in 1,5-Liter-Flaschen abgefüllt. Als ich mit Răzvan 2008 mit der Wassertalbahn durch die Waldkarpaten der Maramuresch dampfte, saßen im Abteil vier Holzfäller, vor ihnen eine Borsec-Flasche. Nur, dass sich in dieser kein Mineral- sondern Feuerwasser befand. Innerhalb einer knappen Stunde war die Flasche fast leer! Der Inhalt meiner Borsec-Flasche musste dagegen für 8 Leute, 8 Tage reichen.
Wir schlenderten ein wenig durch die Innenstadt. Eine Lokalität reihte sich an die nächste. Auf dem Großen Ring (Großer Platz) in der historischen Altstadt drängelten sich die Menschen. Auf dem Platz pulsierte ein Mittelalterfest. Henkersknechte, Ritter, Gaukler, Burgfräuleins, Türken mit Krummsäbeln, Mongolen mit Fellkappen, rußverschmierte Schmiede gaben sich ein Stelldichein. Der Springbrunnen in der Platzmitte diente Frauen, Männern und Kindern als Abkühlung wegen der großen Hitze.
Heiß war es auch abends in unserem Restaurant. Wir blieben nicht lang und zogen es vor den Tag im „Old Town“ in der Horizontalen ausklingen zu lassen.
Nach einem nächtlichen Live-Konzert singfreudiger Jugendlicher vor dem Fenster unseres Schlafraumes, begann der nächste Morgen nach dem Frühstück mit der Suche nach einer Wechselstube. Lang suchen musste ich da nicht, in der Fußgängerzone gab es deren mehrere. „Michael, Franz, Johannes …?“ fragte mich die Dame hinter dem Schalter. „Ich bin der Falk.“ „Jetzt bist du der Schneider“ sagte sie und lachte, während die Geldscheine den Besitzer wechselten. Sie brauchte einen Namen und hatte keine Lust meinen Pass einzusehen. Herr Schneider war nun flüssig und konnte zufrieden den Urlaub auf sich zukommen lassen.
Der Urlaub begann mit geballter Kultureinlage. Um 9:30 Uhr waren wir am Großen Ring zur Stadtführung verabredet.
Wie wir dazu kamen: Manu, unsere Geschäftsstellenleitern für Mitglieder- und Tourenwesen (geile Bezeichnung) weilte mit ihrem Mann Jürgen zur gleichen Zeit in Sibiu wie wir. Jürgens Tante Luci aus Neppendorf (Turnișor), heute ein Stadtteil Sibiu's, lies es sich nicht nehmen, uns ihre Stadt zu zeigen und anschließend auf Kaffee und Hermannstädter Krapfen nach Neppendorf einzuladen.
Wir begannen mit dem Besuch der römisch-katholischen Kirche aus dem 18. Jahrhundert. Weiter ging es über die Lügenbrücke (hier schwören sich frisch vermählte Paare die ewige Liebe) zur evangelischen Stadtpfarrkirche. Luci erzählte uns warum sie von der orthodoxen zur evangelischen Kirche wechselte. Es hatte rein praktische Gründe: „Bei den Orthodoxen dauerten die Messen so lang. In der evangelischen Kirche musste ich nicht so lang stehen.“
Die katholische Ursulinenkirche und die St.-Franziskus-Kirche waren unsere nächsten Stationen. An den Resten der alten Stadtmauer endete unser kleiner Rundgang durch Sibiu.
Das nächste Kulturereignis erwartete uns bereits in Neppendorf. Neppendorf (Turnișor) war neben Großau (Cristian) und Großpold (Apoldu de Sus) eine Landlergemeinde in Siebenbürgen. Landler, das waren Protestanten aus Österreich, die im 18. Jahrhundert aus ihrer Heimat, ihres Glaubens wegen, hierher nach Siebenbürgen deportiert wurden. Eine der wenigen Landlerinnen in Neppendorf ist Frau Koeber. Sie zeigte uns die Kirche und wir erfuhren einiges über das Leben der Landler und Sachsen im Dorf. Klar, dass anfangs die alt eingesessenen Sachsen sich nicht so recht mit den Neuen vertrugen. Jeder wohnte in seinem Teil des Dorfes und jeder saß beim Gottesdienst auf seinem Platz in der Kirche. Eine Integrationsfrage gab es also schon damals. Heute schwätzt der Landler auch sächsisch und der Sachse landlerisch, wie wir später bei Luci hörten – Integration erfolgt!
Jetzt war es an der Zeit ein weiteres Stück siebenbürgischer Kultur zu erleben – die Esskultur. Krapfen essen bei Luci war angesagt. Hier lernten wir, dass Krapfen nicht gleich Krapfen ist. Nur der Krapfen ist wirklich gut, wenn sich mittig ein heller Ring drumherum zieht. Ist dies nicht der Fall, taugt er nichts. Lucis Krapfen hatten alle einen Ring. Doch nicht nur die Krapfen, gefüllt mit Marmelade, schmeckten ausgezeichnet, auch der Kirschlikör und natürlich der Zwetschgenschnaps waren lecker.
Die Zeit verrann wie im Flug, morgen würde es in die Berge gehen. Geplant hatten wir, von Hermannstadt mit dem Zug bis Turnu Roșu zu fahren und von dort unseren Aufstieg ins Fogarascher Gebirge zu beginnen. Doch Luci machte uns ein interessantes Angebot. Jürgen könnte uns mit dem Kleinbus der Kirchengemeinde fahren. Das klang verlockend. Die Kosten waren überschaubar: 60 EUR Busmiete und 20 EUR Sprit. Das waren für jeden 10 EUR. Mit dem Bus gefahren zu werden hatte noch einen Vorteil, wir könnten den Aufstieg hinter Sebeșu de Sus am Ende der Forststraße beginnen, die durch das Moașa-Tal führt. Dann wäre es sogar möglich am Nachmittag den Avrig-See als Tagesziel zu erreichen und auf dem Weg lag die Suru-Hütte, immer gut für ein Aufstiegsbierchen. Abgemacht! Morgen um 6 Uhr würde uns Jürgen vor dem Hostel abholen.
Ein abnehmender Mond schaute auf 8 Gestalten, die ihre Rucksäcke bei beginnender Morgendämmerung in das Fahrzeug quetschten. Jürgen war pünktlich und auf den Straßen der Stadt noch nicht viel los. „Direkt nach Brașov?“ fragte Jürgen als ein Wegweiser in Sicht kam.
Am Horizont zeichnete sich schon die Silhouette des Fogarascher Gebirges ab. Deutlich konnte ich den Buckel des Suru erkennen. Als wir die Nationalstraße 7 verließen, wurde der allgemeine Straßenzustand rumänischer. Ab Sebeșu de Sus leuchtete uns schon die Wanderwegmarkierung roter Punkt am Straßenrand entgegen – wir fuhren auf dem rechten Weg. Hinter dem Dorf endete der Straßenbelag und wir hüpften und rumpelten den Fogarascher Bergen entgegen. Der Forstweg wurde immer ruppiger und schließlich entschied sich Jürgen anzuhalten. Wir hatten fast das Talende erreicht. Laufen hätte ich die ganze Strecke vom Bahnhaltepunkt im Olttal nicht wollen.
Jürgen wünschte uns viel Glück und mit ordentlich Druck auf den Schultern folgten wir dem roten Punkt ins Gebirge. Wir folgten ihm jedoch nicht allzu lang, bald fehlte er. Dafür standen wir in einem wilden, dicht bewachsenen Felskessel, Wasserfälle stürzten zu Tal, Baumstämme moderten am Boden vor sich hin. Es fehlte nur noch ein Karpatenbär.
Kein Bär zeigte sich. Wir gingen den Pfad zurück, um unseren roten Punkt zu suchen, der zum Glück nicht lang auf sich warten ließ. Die Markierung war kaum zu übersehen, wir hatten es dennoch geschafft. Steil kletterte der Pfad den Berghang hinauf, erste Wanderer kamen in Sicht. „Wohin?“ wollten die beiden Rumänen wissen. „Plaiul Foii“ antwortete ich. „5 Tage?“ – Spaßvögel!
Schon jetzt tropfte mir der Schweiß vom Rand meines Mützenschirms. 2 ¼ Stunden ging es mehr oder weniger steil bergauf bis zu einer verlassenen Alm, der Stâna din Suru (Surualm). Laut dem Wegweiser auf der Almwiese waren es noch 3 Minuten bis zur Suru-Hütte. Jemand hatte vor die 3 eine 2 geschrieben. Wir brauchten 20 Minuten!
Die Suru-Hütte ist 1996 abgebrannt. Heute steht an ihrer Stelle eine kleinere Hütte. Drei junge Hirtenhunde balgten sich vor dem Gebäude im Sonnenschein. Eine Gruppe Tschechen war gerade damit beschäftigt ihre Zelte abzubauen und die Rucksäcke für den Abmarsch zu packen. Wir machten erst einmal ausgiebig Frühstückspause. Essen bekamen in der Suru-Hütte nur Schlafgäste, Bier gab's jedoch für jedermann, 8 RON (2 EUR) die Dose. Wer seine Trinkflasche auffüllen wollte, konnte das hier auch tun.
Die Wegmarkierung hatte gewechselt, ab jetzt folgten wir einem roten Dreieck. Irgendwie lief es sich beschissen. Ob das am Hüttenbier lag oder an den zusätzlichen 1,5 Liter Heilwasser im Rucksack? Mühsam schleppte ich mich den Hang hinauf in den Suru-Sattel. Hier oben wehte ein anderer Wind, kalt und kräftig mir direkt ins Gesicht. An den Steinen leuchtete das rote Band, es würde uns jetzt bis ans Ende der Wanderung begleiten.
Tanja fragte mich, ob unser Tagesziel der Avrig-See sei. Sie war der Meinung, dass es laut Wegweiser im Suru-Sattel noch 4 Stunden bis zum Avrig-See wären. Oh Schreck! Das konnte nicht sein! Ich hätte wetten können, dass ich 1997 von hier aus keine 4 Stunden mehr bis zum See unterwegs war. Aber was, wenn ich mich irrte? Ungeduld machte sich breit. Nach einer halben Stunde wollte ich weiter, es war jetzt 13:30 Uhr.
Die ersten Quellen sprudelten zu unseren Füßen, noch einmal füllten wir die Trinkflaschen. Bald erreichten wir den Budislavu, etwas unterhalb seines Gipfels. Jetzt war ich mir sicher, dass es nicht mehr weit bis zu unserem Ziel war.
Edgar entdeckte unter uns ein rotes Häuschen am Budislavu-See. Es ähnelte den Notunterkünften im Gebirge, war aber auf meiner Wanderkarte nicht vermerkt. Vielleicht war es nur eine extravagante Hirtenhütte. Zu gerne wäre Edgar abgestiegen, aber er stand offensichtlich alleine da mit seinem Wunsch. Nun ja, Biwakschachteln werden wir noch genug sehen, da war ich mir sicher.
Nach 2 ¼ Stunden standen wir im See-Sattel, unter uns leuchtete blaugrün der Lacul Avrig und noch mal 15 Minuten und wir hatten unser Tagesziel erreicht.
Nun erwartete uns die letzte Herausforderung – die Wahl des richtigen Zeltplatzes. Das ist nie einfach! Schon ab zwei Personen kann es in eine Art Philosophie ausarten, bei 8...
Da kommen die lustigsten Argumente, um sein Zelt an einer Stelle nicht aufzustellen: der Boden ist zu uneben, zu windig, morgens keine Sonne, abends keine Sonne, zu weit vom Wasser, zu schräg, zu hart, zu hohes Gras, der Nachbar schnarcht... Doch letztendlich fand jeder ein für sich geeignetes Plätzchen und nach dem Abendessen versammelten sich alle auf ein Gläschen Borsec-Wasser. (Ja, Arjen hatte zwei Plastik-Schnapsgläschen im Gepäck.) Selbstlos wollten sie mir helfen, mein Rucksackgewicht zu minimieren.
Am Morgen konnten wir es gemütlich angehen lassen. Bis zu unserem Tagesziel, dem Șaua Șerbotei (Șerbota-Sattel) rechnete ich mit einer Wanderzeit von rund 4 Stunden. Wir hatten den Abmarsch auf 10 Uhr festgelegt. Weiter zu laufen hielt ich für unklug, da nach dem Șerbota-Gipfel die Kraxelei über das Kirchendach begann und sich bis zum Călțun-See keine Möglichkeit mehr für einen Lagerplatz finden würde und einen 10-Stunden-Tag wollte niemand.
Der Tag versprach ebenso sonnig zu werden wie der Gestrige. Edgar beobachtete einen Wanderer, der die Fische mit einer Unterwasserkamera im Avrig-See filmte. Im seichten Wasser am Ufer wimmelte es tatsächlich von unzähligen Fischchen. Überhaupt wirkte der See sauberer als während meiner letzten Tour.
Der Weg in den Westsattel des Gârbova-Gipfels bildete schon einen kleinen Vorgeschmack auf die Kraxelei, die noch folgen würde. Aus dem Fels schauten nur noch die Metallstifte heraus, an denen ursprünglich einmal Ketten angebracht waren, die aber laut Edgar, genau an der richtigen Stelle saßen. Mit über 20 Kilo auf dem Buckel fand ich es trotzdem anstrengend.
Nach 2 ½ Stunden erreichten wir die Notunterkunft im Scara-Sattel (Refugiul Scara). Genaugenommen standen hier zwei Biwakschachteln, die alte vor sich hin rostende und eine neue. Seit meinem letzten Besuch hatte man überall dort wo sich eine Notunterkunft befand, eine neue errichtet. Leider werden die alten Notunterkünfte nicht entsorgt, man lässt sie halt vor sich hin gammeln. Im Sattel Fereastra Mică a Sâmbetei, am Urlea-See, im Brătilei-Joch und im Bergjoch Curmătura Comisul gab es jetzt sogar zusätzliche Notunterkünfte. Für mich hat das Fogarascher Gebirge aufgrund der Biwakschachteln viel von seiner Ursprünglichkeit eingebüßt.
Bis zu unserem Tagesziel, dem Șerbota-Sattel war es nicht mehr weit, vom Gipfel des Musceaua Scarii konnte man ihn schon erkennen. Leider gibt es im näheren Umfeld des Sattels kein Trinkwasser. 1994 musste ich recht weit auf der Nordseite absteigen, bis ich die erste Quelle entdeckte, auf der Südseite war es nicht ganz so weit. Also schnappte ich mir meine Trinkflasche und ging mit Arjen auf Wassersuche. (Übrigens sah es auf der ganzen Etappe vom Avrig-See bis zum Șerbota-Sattel mit Wasser nicht gut aus.)
Nach einer dreiviertel Stunde waren wir zurück, immerhin mit gefüllten Trinkflaschen. Arjen's Kommentar: „Im Schweiße deines Angesichts sollst du dein Wasser holen.“
Morgen würden wir auch wieder schwitzen, es sollte über die Schlüsselstellen der Wanderung gehen – Kirchendach und Teufelsscharte.
Helmut war unser Wecker vom Dienst, pünktlich um 6 Uhr durchbrach sein Weckruf die Stille. Es dämmerte bereits. Für den Abend waren Gewitter vorhergesagt, wir hofften, dass die Prognose stimmte, ein Unwetter auf dem Grat wäre etwas unvorteilhaft. Vom Gipfel des Șerbota fällt die Rote-Band-Markierung steil hinunter zum Kirchendach (Custura Sărății). 1994 informierte an dieser Stelle ein halb verrosteter Wegweiser, dass der folgende Abschnitt nicht begehbar sei. Nach Süden umgeht ein Weg, mit gelbem Band markiert, den Grat des Kirchendaches. Wir folgten diesem, um die Kletterstelle an der Ostflanke des Șerbota zu umgehen. „Wir werden noch genug klettern“ sagte Edgar.
Steil über loses Geröll, teilweise felsdurchsetzt zieht sich der Pfad hinab. Auf unseren Wanderkarten war diese Umgehung nicht mehr eingezeichnet. An den Beginn des Grates führten ein paar Meter unmarkierter Weg, doch vor uns an den Felsen leuchtete bereits das rote Band, wir waren richtig.
Die nächsten 2 Stunden ging es nun rauf und runter, mal mit Ketten abgesichert, mal Kletterei bis zum 2. Grad. Mit den schweren Rucksäcken auf den Schultern recht schweißtreibend. Links und rechts des Grates zum Teil senkrechte Felswände. Erst im Kleopatra-Sattel (Şaua Cleopatrei) lag die Kraxelei hinter uns. Die erste Hürde war genommen. Ab jetzt ging es kontinuierlich ansteigend auf den zweithöchsten Gipfel der rumänischen Karpaten, den Negoiu (2535 m). Tief unter uns zeigte sich bereits der Călțun-See, unser Tagesziel.
Doch auf dem Weg dorthin lag noch eine kleine „Gemeinheit“ die Teufelsscharte (Strunga Dracului). Kurz vor dem Einstieg zweigt der mit gelbem Band markierte Pfad zur Strunga Doamnei (Frauenscharte). Auf diesem ist es möglich die Teufelsscharte zu umgehen. Niemand wollte sich offensichtlich die Blöße geben. Gruppendynamik? Also auf, oder besser ab, ging es.
Im Herbst 2011 hatte ein Steinschlag die Scharte vorübergehend unpassierbar gemacht. Steinschlag ist in der Scharte nach wie vor ein Problem. Noch immer lagen lose Brocken darin herum, was wir zu spüren bekamen, als es neben uns rumpelte und polterte und ein Geröllbrocken dem Weg der Gravitation folgte – Glück gehabt! Vorsichtig, genau schauend wohin ich trat, ging es langsam bergab. An einer Stelle klemmte ein Felsen direkt über den Sicherungsketten. Wieder einmal störte meine Kameratasche vor dem Bauch, 1994 hatte ich am Kirchendach ein ähnliches Problem. Auf dem Bauch rutschend, mit den Beinen in der Luft hampelnd und nach einem Tritt tastend schob ich mich langsam darüber hinweg.
Alle erreichten schlussendlich wohlbehalten den Ausgang der Scharte. Nun war es nicht mehr weit bis zum See. Ein grünes futuristisch anmutendes Gebäude über dem See irritierte mich. Das gab es damals noch nicht. Von weitem ähnelte es einer Bergkirche, aus der Nähe entpuppte es sich als moderne Notunterkunft. Solarkollektoren auf dem Dach versorgten die Bude mit Strom, sodass man sein Smartphone aufladen konnte – Hightech in Rumäniens Bergwelt.
Auch das angekündigte Gewitter ließ nicht länger auf sich warten. Ein Blitz und zweimal Donnergrollen und alles flüchtete in die Notunterkünfte. Arjen und ich bleiben dem Thema Zelttrekking treu und bauten unsere Behausungen ein Stück unterhalb des Sees auf. Später zogen auch Tanja und Egbert das Zelt der Notunterkunft vor, denn dort ist es bereits recht voll geworden. Edgar und Helmut blieben in der alten, Barbara und Willi in der neuen Biwakschachtel. Zum Glück tobte sich das Gewitter südlich des Hauptkammes aus, der Călțun-See blieb bis auf ein paar Regentropfen verschont.
Auch auf dieser Etappe gab es unterwegs keine Möglichkeit Trinkwasser aufzufüllen. Erst am See sprudelte eine Quelle aus dem Fels der Călțun-Ostwand.
Regentropfen auf dem Zeltdach weckten mich am nächsten Morgen. Musste das wirklich sein? Ein nasses Zelt im Rucksack fand ich nicht lustig. Da hatten unsere Biwakschachtel-Übernachter die besseren Karten. Zum Glück hörte es bald auf zu regnen. Gegenüber an der Călțun-Ostwand erlebten wir ein anderes Schauspiel. Zwei Gämsen trabten am Wandfuß entlang in Richtung See. An der Wasserstelle wurden die Tiere zwei Wanderer gewahr und änderten abrupt ihre Richtung – nach oben. Es dauerte keine 3 Minuten und die rund 300 m hohe Ostwand war überwunden – Speed-Climbing vom Feinsten.
Wir wollten um 9 Uhr weiter. Einen Gewitterschauer warteten wir noch in der Notunterkunft ab, dann begann der Anstieg auf die Laiţa-Spitze (2397 m). Eine Gruppe Bulgaren beendete gerade ihre Gipfelrast. Sie wollten weiter auf den Negoiu. Dieser versteckte sich heute allerdings in den Wolken.
Unser Etappenziel war der Capra-See. 1997 brauchte ich für diese Etappe 4 Stunden. Normalerweise bleibt man auf dem Hauptkamm und umgeht die Gämsenseespitze (Vârful Iezerul Caprei, 2418 m) südseitig auf unmarkiertem Pfad. Da wir aber genügend Zeit hatten, lohnte sich ein Abstecher zum Bâlea See. Die Fogarascher Hochstraße (Transfăgărășan) quert hier das Gebirge. Ein weiteres Argument, dass dafür sprach und gegen das nur schwer anzukommen war, hieß – bere rece! Na ja, was gescheites zu Essen würde es sicher auch geben. Die Berghütte am Bâlea-See (Cabana Bâlea Lac) hat drei Sterne, von Hütte wollte ich da schon nicht mehr sprechen. Ich erinnerte mich noch vage an die alte Berghütte, 1994 war das. Ein Jahr später brannte sie ab. Damals bin ich vom Capra-See abgestiegen, um Bier zu holen.
Wir dinierten 1 ½ Stunden und beendeten unser Mahl mit einem Espresso, um nicht völlig durchzuhängen. Immerhin lag noch eine reichliche Stunde Aufstieg zum Capra-See vor uns. Nach insgesamt 7 ½ Stunden erreichten wir den Bergsee. Einen Platz fürs Zelt zu finden erwies sich als schwieriges Unterfangen, überall blies ein kräftiger Wind. Edgars Zelt mochte der Wind besonders, mehrmals musste er den Platz wechseln, bis es einigermaßen passte.
Trotz der kalten Brise ließ es sich Arjen nicht nehmen, eine Runde im See zu schwimmen. Auf die Frage wie es war, kam die knappe Antwort: „Kalt!“
Trinkwasserprobleme gab es auf dieser Etappe keine.
Nebelschwaden rasten über den See, als ich meinen Kopf am Morgen aus dem Zelteingang steckte. Als Frühstück reichte mir in der Regel eine Hand voll Haselnüsse mit Rosinen, dazu ein Schluck aus der Wasserflasche. Da es recht windig war, hielt sich der Feuchtigkeitsgehalt des Zeltes in Grenzen. Viertel vor Acht begann unsere 5. Etappe. Eine Erscheinung, die es auf meiner letzten Kammwanderung noch nicht gab, waren Trailrunner. Mit Minirucksäcken auf den Schultern huschten sie an uns vorbei. Das erklärte auch die pinkfarbenen Punkte, die neben dem roten Band den Weg markierten und offensichtlich auch noch bei Dunkelheit die Richtung anzeigen sollten.
Der Wind wurde auch heute unser Begleiter und ärgerte mächtig. Das bei diesem Wetter Schirmmützen nicht ideal sind, merkten Edgar und ich. Meine landete zum Glück ein paar Meter hinter mir auf dem Boden, Edgars verabschiedete sich auf Nimmerwiedersehen bei den „La trei pași de moarte“ (Drei Schritten bis zum Tod). Nach der Kletterstelle wechselte der Pfad auf die Nordseite des Gebirges, und somit in den Windschatten. Die Erleichterung dauerte aber nur kurz, schon am Nerlinger-Denkmal traf er uns wieder mit voller Wucht. Edgar schätzte die Geschwindigkeit der Böen auf 70 km/h. Der Aufstieg zum Arpașul Mare wurde zur Herausforderung. Schritt für Schritt schleppten wir uns gegen den Wind gestemmt bergauf. Ein kurzer Grat trennt den Arpaşul-Mare-Gipfel (2468 m) vom Mircii-Gipfel (2461 m). Von dort begann ein recht steiler Abstieg zum See Podu Giurgiului – Pause.
Eigentlich wollten wir heute bis ins Valea Rea, mit einem Abstecher zum höchsten Berg Rumäniens, dem Moldoveanu. Doch aufgrund des stürmischen Wetters, planten wir um. Edgar machte der Gruppe den Vorschlag zur Cabana Podragu abzusteigen. In 1 ½ Stunden standen wir vor der höchstgelegenen Berghütte des Fogarascher Gebirges.
Der Hüttenkoch hieß uns willkommen und zwar auf deutsch! Übernachten war grundsätzlich möglich, wo und wie viel es kosten würde, musste der Koch mit seiner Chefin klären. Sicher war hingegen, dass es was zu essen gab – Kartoffelsuppe und Erbseneintopf von gestern. Beides schmeckte ausgezeichnet und auch ein Ursus-Bierchen war willkommen. Definitiv nicht genießbar hingegen war der Obstler. Sein Aroma erinnerte nicht an Zwetschgen sondern Bittermandeln. Arjen machte sich ernsthaft sorgen, um seine Gesundheit.
Inzwischen war auch die Bettfrage beantwortet. Die Chefin offerierte uns 8 Betten im abgetrennten Teil eines Schlafsaals mit insgesamt 20 Betten, mit dem eindringlichen Hinweis, das Rucksäcke nicht auf die Betten gehören!
Abends wurde es richtig voll auf der Hütte. Die Rumänen waren aber in der Regel Selbstversorger. Die Gruppe am Nachbartisch lud uns auf eine Partie Poker ein, leider fehlten mir die nötigen Kenntnisse dazu und außerdem war ich müde.
Unser Gipfeltag begann mit Starkregen! Nach zwei Spiegeleiern zum Frühstück lies auch der Regen nach. Die Rumänen hatten sich auf ihre Art wetterfest gemacht, mit Plastiktüten in den Schuhen und über die Unterarme gestülpt.
Im Nebel stiegen wir hinauf in den Podragu-Sattel. Oben angekommen, empfing uns Sonnenschein. Es war auch nicht mehr so windig wie gestern, dafür überraschte uns immer wieder mal ein Regenschauer – richtiges Aprilwetter. Schafhirten ließen ihre Tiere unterhalb des Viștea-Mare-Gipfels (2527 m) weiden. Vom dritthöchsten Berg Rumäniens führt ein kurzer Grat zum höchsten Berg des Landes – dem Moldoveanu (2544 m), an dessen Ostseite sich die Wolken stauten. Innerhalb der Karpaten belegt er dagegen lediglich Platz 17. Es war Mittag, doch das Essen musste noch ein wenig warten, erst wollten wir auf den Gipfel. Wir ließen unsere Rucksäcke auf dem Viștea-Mare und folgten dem mit rotem Punkt markierten Weg zum Moldoveanu. Nach einer knappen halben Stunde standen wir endlich auf dem höchsten Berg des Landes. Vor 21 Jahren stand ich schon einmal hier oben!
Zurück bei unseren Rucksäcken, konnten wir die Pause nicht lang genießen, denn schon wieder zogen graue Wolken von Westen zu uns herauf. Bald fielen auch die ersten Regentropfen. Wir begannen den Abstieg. Das Wetter wurde immer unberechenbarer. Regenhose an, Regenhose aus, Regenhose an! Wir wollten bis zum Urlea-See aber als aus dem Nebel eine Notunterkunft im Sattel Fereastra Mică a Sâmbetei vor uns auftauchte, beschlossen wir hier die Etappe zu beenden. In der Biwakschachtel hockten schon ein paar Tschechen und Israelis. Die Notunterkunft gab es auf meiner letzten Wanderung 1997 noch nicht. Von der Decke tropfte es und auch die Bettgestelle wirkten auf mich nicht sehr einladend.
Auf der Südseite, keine 5 Minuten vom Sattel entfernt, boten sich jedoch ideale Zeltmöglichkeiten, windgeschützt und Trinkwasser praktisch vor der Haustür. Helmut blieb in der Notunterkunft.
An schlafen war noch lange nicht zu denken. Ein Hirtenhund, weiß der Geier, woher der plötzlich kam, hielt uns mit seinem Gekläff stundenlang wach. Barbara und Willi trieb das Gebell sogar in die Notunterkunft. Wer weiß, nicht das der Köter einen Bären gewittert hatte. Alles halb so schlimm. Das Gebell verstummte irgendwann und Meister Petz erschien auch nicht.
Mein Zeltboden war früh an der Unterseite gefroren. Immerhin belohnte uns ein strahlend blauer Himmel. Nach knapp zwei Stunden standen wir am Abzweig zum Urlea-See. Ein Hirte trieb gerade seine Schafe am Ufer entlang. Hinter dem Vârful Zârna endet endgültig der alpine Teil des Fogarascher Gebirges. Ab jetzt ähnelt die Landschaft den Hochvogesen. Über ausgedehnte Grasrücken zieht sich der Weg hinab zur Curmătura Zârnei (Zârnei-Joch). Auch hier steht eine neue Notunterkunft, das alte Iglu ist nur noch ein Haufen Schrott. Mittagspause.
Alle Interessen der Gruppenmitglieder unter einen Hut zu bringen war nicht immer leicht. Ein Teil wollte gerne Strecke machen, die anderen öfter Pausen. Jetzt ließen wir uns Zeit. Tanja und Egbert kochten ihr Bigos zum Mittag, danach wollten wir noch ein Stück laufen.
Aus dem Stück wurde noch eine ordentliche Etappe. Oberhalb des Zârnei-Jochs konnten wir an einer Quelle unsere Wasserflaschen füllen. Im Brătilei-Joch blies der Wind recht kräftig, kein guter Platz zum Zelten. Das Gleiche galt für das Plateau am Berevoescu Mare und von der alten Notunterkunft rieten uns sogar Rumänen ab, die uns entgegenkamen. Sie empfahlen uns den Comisul-Sattel.
So begleitete uns die Abendsonne zu den letzten Ausläufern des Fogarascher Gebirges. Auch hier gibt es jetzt eine Notunterkunft. Leider mit schlechten Nebenwirkungen. Rings um die Biwakschachtel stapelte sich der Abfall und die Bergkiefern in der Nähe mussten bereits ihre Zweige opfern, für Schlafunterlagen und Lagerfeuer. Kaum standen die Zelte, als es anfing zu regnen. Doch das störte mich nicht, zauberte die untergehende Sonne einen kräftigen Regenbogen über dem Buckel der Măgura Codlei (Zeidner Berg) und die Westwand des Königstein färbte sich blutrot – ein einmaliges Schauspiel.
Unser letzter Tag im Fogarascher Gebirge begann sonnig und kühl. Beerensammler kamen uns entgegen, die Schafhirten waren vermutlich schon auf den Bergweiden. Wanderer waren hier nicht so oft unterwegs, auch das rote Band machte sich rar. Hin und wieder leuchtete es an einem Baumstamm. Am Lerescu-Joch (Curmătura Lerescu) führt der Weg hinunter ins Tal zur Forststation Rudărița. 1998 war der Pfad noch mit einem roten Kreuz markiert, heute ist es das rote Band! Nun folgte der unattraktivste Teil der Wanderung, 2 Stunden auf einer Forststraße bis zur Cabana Plaiul Foii. Da trösteten die Brombeeren am Wegesrand auch nur bedingt.
Trost spendete erst ein Silva an der Cabana. Wie die Cabana Bâlea wurde auch die Cabana Plaiul Foii neu gebaut – ein richtiger Nobelschuppen. Wir buchten für eine Nacht. Die Zimmerpreise fand ich mit 140 RON (35 EUR) für das Doppelzimmer und 120 RON (30 EUR) für das Einzelzimmer noch akzeptabel.
Was wir nicht akzeptieren wollten, war der Rat des Kellners, dass zwei Vesperplatten für drei ausgehungerte Wanderer ausreichen würden. He, wir kamen aus den Bergen nicht aus Kronstadt zu einem Wochenendpicknick!
Hier endete nun unsere Überschreitung des Fogarasch-Hauptkammes von West nach Ost. Die Tour lieferte einen kleinen Einblick in die Bergwelt der Karpaten. Vielleicht hatte sie ein wenig Neugier geweckt auf andere Teile dieses Gebirges. Für mich war es interessant zu sehen, was sich in den letzten 18 Jahren verändert hat. Und vielleicht konnte ich dem einen oder anderen die Karpaten etwas näher bringen.
Morgen um 11 Uhr wollte uns Grig Bolea, vom Rolling-Stone-Hostel, abholen und nach Brașov fahren.
Viertel nach elf fuhr Grig mit seinem Minibus vor. Offensichtlich trieb ihn das Bedürfnis die Verspätung wieder aufzuholen. Einhalt geboten ihm lediglich die Bahnübergänge in Richtung Kronstadt, wo es ratsam war langsam zu fahren, wollte er sein Fahrzeug nicht schrotten.
Firmen und Supermärkte wetteiferten um die Vorherrschaft am Stadtrand von Brașov.
Unser Hostel lag im Stadtteil Șcheii in Brașovs Altstadt. Silvia, Grig's Tochter, empfing uns. Die sehr kommunikative junge Dame versorgte uns gleich mit den notwendigen Informationen, die jeder Tourist wissen sollte wenn er Brașov besucht.
Auf einem Stadtplan, von unserem Standort ausgehend, zeigte sie uns den Weg ins Zentrum, zur Schwarzen Kirche, den Aufstieg zur Zinne (Tâmpa) Brașovs Hausberg, die Bushaltestelle und die Linie zum Bahnhof sowie das nächstgelegene Restaurant – Casa Românească. Das Essen sei gut, nur den Schnaps sollten wir nicht annehmen, der muss bezahlt werden obwohl man suggeriert, dass er gratis sei.
Außerdem könnten wir gleich im Hostel verschiedene Angebote buchen: eine Fahrt zu den Kirchenburgen von Tartlau (Prejmer) und Honigberg (Hărman), eine Besichtigung des Bärenreservats bei Zărnești, oder eine Beobachtung wilder Bären.
Die Wehrkirchen kannte ich bereits und wilde Bären liefen mir schon zweimal vor die Füße. So entschied ich mich mit Arjen, Edgar, Tanja und Egbert zu einem Besuch des Bärenreservats am nächsten Morgen.
Erst einmal war ein Stadtbummel angesagt, wir hatten Hunger. Wie in Sibiu, reihte sich auch in Brașovs Fußgängerzone ein Restaurant ans andere. Zwischen den promenierenden Passanten tauchte immer wieder Sicherheitspersonal auf, jedoch keine Bettler mehr wie damals. Die Häuser links und rechts der Straße sahen teilweise recht marode aus. Bei einem verhüllte sogar ein mit der Hausfassade bemaltes Tuch die Realität. Um 2021 Kulturhauptstadt zu werden, muss da noch einiges geleistet werden!
Ein kulturelles Ereignis feierte Brașov schon jetzt – das Oktoberfest, mit Brezeln, Maß und Lederhosen.
Zum Abendessen hatten wir uns im Casa Românească verabredet. Ich hatte noch eine Verabredung – sie hieß Cristina. Fast 15 Jahre hatten wir uns nicht gesehen. Ich lernte sie 1997 während meiner ersten Winterreise in die Karpaten kennen – beim Abseilen aus einer Seilbahngondel im Bucegi-Gebirge! So waren wir an diesem Abend ausnahmsweise 9 Personen. Sie hatte sich nicht verändert und wir mussten uns einiges erzählen.
Die erste Führung im Bärenschutzgebiet bei Zărnești fand um 9 Uhr morgens statt. Grig und sein Kumpel, den er Ceaușescu nannte (eine gewisse Ähnlichkeit war nicht von der Hand zu weisen), fuhren uns zum Gelände des Bärenreservats. 40 RON kostete die Führung, davon wurde ein Teil als Spende für das Projekt verwendet.
Aurelia, die uns durch das Reservat führen würde, zeigte uns zu Beginn einen Film über die Entstehung des Bärenprojekts. Cristina Lapis, die Gründerin, hatte 1998 die Idee zu diesem Projekt, als sie in einem Käfig drei Bären vor einem Restaurant entdeckte, die zur Belustigung von Touristen gefangen gehalten wurden.
Heute gibt es hier etwa 80 Bären. Alle wurden aus Gefangenschaft freigekauft und hier auf einer Fläche von rund 70 ha in großzügig angelegten Gehegen ausgesetzt.
Leider können die Tiere nicht mehr ausgewildert werden, wie uns Aurelia erklärte. Die psychischen Störungen der Bären sind so groß, dass sie kaum eine Überlebenschance in der freien Wildbahn hätten. So ist das Reservat ihr Altersheim.
Die Kosten des Projekts übernehmen zum Großteil Sponsoren. Supermärkte der Umgebung stellen beispielsweise das Futter zur Verfügung. So wundert es nicht, dass die Bären auch mal eine Ananas vorgesetzt bekommen.
Neben den Bären gibt es auch ein kleines Wolfsrudel im Reservat und man kümmert sich um Straßenhunde. Pro Tag gibt es nur 3 Führungen, dann haben die Tiere wieder ihre Ruhe. Auch unsere Zeit war um, im Souvenirladen unterstützten wir noch mal das Projekt, dann ging es mit Grig zurück nach Brașov.
Rumänien zu verlassen, ohne die landestypischen Erzeugnisse mitzunehmen, kam nicht in Frage. Grig besorgte uns von einem Bauer aus Bran Slănina (von Mangalița-Schweinen), Brânză de burduf und Zwetschgenschnaps gereift mit Holunderholz.
Zwei Kilo Speck, 1 ½ Kilo Käse und ½ Liter Palinka mussten im Rucksack Platz finden. Das Teil war nun schwerer als zum Beginn der Reise.
So unspektakulär die Anreise verlief, unsere Heimfahrt dagegen war spannend. Auf der Bahnhofsanzeige erschien unser Zug, als Zielbahnhof war zwar nur der Grenzort Curtici angegeben, aber die Zugnummer passte. Auf Gleis 4 würden wir Brașov verlassen und morgen früh um 8:14 Uhr in Wien ankommen.
Kaum im Zug, wurden wir vom Chef des Bordrestaurants darauf aufmerksam gemacht, dass es uns an nichts mangeln sollte. Kurz darauf erschien unser Liegewagenschaffner und offerierte eisgekühltes Dosenbier. Die Beiden schienen Konkurrenten zu sein.
Wir hatten wie auf der Hinfahrt zwei 4er-Liegewagenabteile. Zum Liegen war es jedoch noch etwas früh. Nicht zu früh war es jedoch für ein ausgiebiges Vesper nach Art der Rumänen. Bald stapelten sich auf jedem Rucksack, Sitz und Oberschenkel Schweinespeck (Slănina), Schafskäse (Brânză), Paprika, Tomaten, Schweinshaxe, Würstchen, Zwiebeln, hart gekochte Eier, Brot und Büchsen mit Ursus-Bier. Salzstangen und kalten Kaffee hatten wir jetzt nicht mehr nötig. Na ja, den Knoblauch ließen wir dann doch im Rucksack.
In Sibiu vermieste eine deutsche Touristin dann einigen die Stimmung. „Wisst ihr schon, wie ihr weiter nach Deutschland kommt?“ fragte uns die Dame. „Der Zug fährt nur bis Budapest.“ Österreich hatte den Bahnverkehr mit Ungarn aufgrund der Flüchtlinge, die von Ungarn zum Großteil nach Deutschland wollten eingestellt. Peng! Das war nicht schlecht. Wir wussten natürlich nichts. Auch unser Schaffner bestätigte Budapest als Zielbahnhof, wusste ansonsten aber nicht viel mehr als wir. Wir müssten umsteigen und uns bei der Reiseinformation auf dem Bahnhof in Budapest erkundigen, wie es weitergehen würde, riet er uns.
Egal, irgendwie würde sich schon eine Lösung finden. Hm 'ne „hot night in Budapest“ wäre auch nicht schlecht. Da es sich hier offensichtlich um ein von Politikern hervorgerufenes Problem handelte, an dem 8 unschuldige Wandersleute nun zu knabbern hatten, kam Edgar die Idee doch mal bei der deutschen Botschaft in Ungarn nachzufragen. Er kramte sein iPhone hervor und hatte auch schon bald eine Notfallnummer. Am anderen Ende meldete sich auch tatsächlich ein Herr. Edgar schilderte dem Mann die Situation. Wir waren natürlich völlig hilf- und mittellos. Ersteres war auch der Botschaftstyp. Wie es schien, hatte er keine Ahnung von der aktuellen Lage an der Grenze zu Österreich. Wir sollten uns morgen früh bei seinem Kollegen noch mal melden.
Die Netzverbindung am nächsten Morgen lies zu wünschen übrig. Vom Kollegen kamen nur Sprachfetzen bei uns an. Sein Hauptanliegen bestand darin, uns überzeugen zu wollen, Geld von unseren Verwandten nach Ungarn transferieren zu lassen. Das eigentliche Problem verstand er offenbar nicht. Wir beschlossen den armen Mann nicht weiter zu ärgern. (Botschaftsangestellter müsste man sein!) Es gab nur einen Weg und der lautete: Hilf dir selbst!
Da kein Mensch genaueres wusste, entwickelten wir die absurdesten Fantasien: Vielleicht stand in Budapest schon ein Zug bereit, der Reisende nach Österreich bringen würde?
Die Realität: Auf Bahnsteig 7 stand ein Zug bereit. Der sollte aber keine westlichen Touristen nach Wien fahren, sondern die ersten Wogen des bevorstehenden Flüchtlingstsunamis an die Grenze zu Österreich. Wie es von dort weiterging, konnte keiner der Polizisten hinter der Bahnsteigabsperrung sagen. Einer machte mit dem Finger ein Zeichen, das bedeuten sollte, es geht nur zu Fuß weiter. Der ganze Keleti-Bahnhof glich einem Auffanglager. In den Unterführungen hockten die Leute auf Matten und harrten der Dinge die da kommen würden. Setzte sich ein Zug in Bewegung, wurde einige Minuten später der nächste bereitgestellt, bis auch dieser voll mit Flüchtlingen war und in Richtung Grenze fahren konnte.
An den Informationsschaltern erfuhren wir lediglich, dass die Grenze zu Österreich geschlossen sei und keine Züge fahren würden. Das einzig Sinnvollste war meiner Meinung nach, mit dem nächsten Zug in die Slowakei nach Bratislava zu fahren und von dort weiter nach Wien. Nur galt unser Fahrschein nicht für diese Strecke, da als Grenzübergang Hegyeshalom eingetragen war. Also auf zum Fahrscheinkauf! Auch dabei erlebt man doch immer wieder Kurioses. Die Dame hinter dem Schalter konnte uns Fahrscheine verkaufen, jedoch nur bis Bratislava. Ihre Kollegin, einen Schalter weiter, konnte seltsamerweise Tickets bis Wien ausstellen.
Der Zug stand schon auf Gleis 1 bereit. Wir ergatterten sogar noch Sitzplätze, was bei 8 Personen keine Selbstverständlichkeit ist. Drei Stunden später betraten wir Bratislava hlavná stanica. Wir mussten nicht lang warten bis es weiter ging. Da das Bähnle nur bis Wien Hauptbahnhof fuhr, hieß es in Simmering aussteigen und bis zum Westbahnhof mit der U-Bahn fahren. Auch hier hatten wir Glück, in einer viertel Stunde fuhr der Zug nach München.
Auf dem Hauptbahnhof in Bayerns Metropole wieder Polizeipräsenz. Die Beamten filterten gleich auf dem Bahnsteig die Flüchtlinge heraus, die mit im Zug saßen.
Jetzt musste erst einmal ein halber Hahn und ein Paulaner dran glauben – wir waren schon recht ausgehungert, durstig und hatten eine Stunde Zeit bis unser Zug nach Mannheim fuhr. Die Odyssee war jedoch noch nicht zu Ende. In Stuttgart verspätete sich der Lokführer, laut Durchsage mussten wir mit 25 Minuten rechnen. Die Chance den letzten Zug nach Freiburg zu bekommen sank auf Null. Barbara und Willi verabschiedeten sich, sie wollten sich bis Rottweil durchschlagen.
Wir blieben, die 25 Minuten schrumpften auf 19 Minuten und der Zug gab Vollgas. Kaum standen wir in Mannheim auf dem Bahnsteig, fuhr auch schon der ICE nach Basel ein – Glück gehabt! Wir suchten keine Plätze mehr, sondern platzierten uns auf ein Bierchen und noch ein Bierchen im Speisewagen. Freiburg erreichten wir mit insgesamt über 7 Stunden Verspätung, eine Viertel Stunde nach Mitternacht – es war geschafft!
Meine dritte Überschreitung des Fogarascher Gebirges war ein tolles Erlebnis und ganz wichtig: Speck und Schafskäse haben überlebt.
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