(Karpatentour September 2007 - Polen)
Ursprünglich wollten wir über den Gipfel des Rysy (Meeraugspitze, 2499 m) in den
polnischen Teil der Hohen Tatra wandern. Doch das schlechte Wetter und der ungewöhnlich
viele Neuschnee hatten uns einen Strich durch die Rechnung gemacht.
Wir erreichten den
polnischen Teil nun durch die Hintertür. Der Bus nach Lysá Poľana fuhr um 10:50 Uhr vom
Busbahnhof. Wir hatten noch genug Zeit, konnten in Ruhe frühstücken und auf dem Bahnhof
etwas Geld umtauschen. Nach eineinhalb Stunden Fahrt steckten wir nach der Grenze
wieder mitten im Massentourismus der Hohen Tatra. Nachdem wir uns am Eingang des
Nationalparks mit einer neuen Wanderkarte im Maßstab 1:25 000 eingedeckt und unseren
Wegezoll entrichtet hatten, folgten wir den Pferdekutschen und Menschenmassen in
Richtung Morskie oko (Fischsee) vorbei an einem riesigen Parkplatz mit beunruhigend
vielen parkenden Reisebussen.
Auf einer breiten Asphaltstraße ging es stetig bergauf. Der
Weg ähnelte einer Pilgerroute von Wanderheuschrecken mit dem Ziel Morskie oko. Je höher
wir stiegen, desto dunkler wurden die Wolken. Es begann zu nieseln. Schon kamen uns
Touristen in Regenmäntel entgegen. Billige Plastiktüten mit Armausschnitten. Vermutlich gab
es sie auf der Berghütte zu kaufen. Wir sahen immer mehr „regenfest gemachte“ Wanderer.
In ihren roten, gelben, grünen oder blauen Kutten, die bei jedem Schritt knisterten, sahen sie
aus wie zu groß geratene bunte Zwerge.
„Kennst du das typische Geräusch in der Hohen
Tatra“, fragte mich Helga. Ich hatte keine Ahnung, was sie meinte. „Raschel, raschel, raschel
- viele Touristen im Regen“, machte sie die Geräusche der uns entgegenkommenden
Gruppen nach. „Vor fünf Jahren hatte ich eine Woche Sonnenschein und kaum Touristen“
verteidigte ich die Hohe Tatra. „Ja, ja, natürlich: Ruhig ist es in den Karpaten doch nur nachts
um zwölf und nicht mal dann, denn dann wird in den Hüttenschlafsälen geschnarcht“, war
Helgas Kommentar.
Auf dem Weg zur Hütte Schronisko przy Morskim Oku (Staszic-
Schutzhaus) war allerdings immer schon viel Betrieb. Denn die Hütte ist bequem zu
erreichen: Mit Pferdewagen werden die Touristen im Minutentakt von den hiesigen
Bergbewohnern, den Goralen, für 15 Zł/Person (etwa 4,50 Euro) zur Hütte gekarrt. Der
überwiegende Teil machte sich jedoch zu Fuß auf. Meist sind des Tagestouristen, sodass
sich ab 17 Uhr die Lage wieder normalisierte.
Wir ergatterten zum Glück noch zwei Stühle im
Vorraum der Hütte. Auf der Hütte selbst hatte sich nicht viel verändert. Der Kronleuchter an
der Decke warf immer noch ein schummriges Licht auf die vergilbten Fotos vom
Papstbesuch im Jahre 1997. Die einzelnen Orte, die Papst Johannes Paul II damals
besuchte, haben die Polen voller Stolz auf der Wanderkarte vermerkt.
Vor der Essensausgabe standen sich die Menschen förmlich auf den Füßen. Ich kaufte zwei
Bier und kümmerte mich dann erst mal um die Übernachtung. So ganz traute ich der Lage
doch nicht. Leider klappte es auch dieses Mal nicht, ein Bett direkt in der Hütte zu
bekommen. Wir mussten mit dem Massenquartier im Nebengebäude vorlieb nehmen.
Sieben Doppelstockbetten standen in dem Raum – und bis zum Einbruch der Dämmerung
war das Zimmer komplett belegt. Eine Kuriosität entdeckte ich im Bad. Neben den
Duschkabinen hingen Schuhtrockner an den Wänden. Ventilatoren, mit denen warme Luft
über Plastikschläuche in die Wanderschuhe geblasen wurde. Ich hatte solche Dinger noch
nie zuvor gesehen. Praktisch sind sie allemal, zumal draußen gerade wieder kleinere
Sturzbäche vom Himmel fielen.
Über Nacht war der Regen in Schnee übergegangen, Schneeflocken tänzelten am Morgen
sanft auf umliegende Steine, Bäume und Sträucher herab. Zu unserem Tagesziel, der
Schronisko w Dolinie Pięciu Stawów Polskich (Schutzhütte im Tal der fünf polnischen Seen)
führen zwei Wege: ein gelb markierter über den Szpiglasowa Przełęcz (Miedzianejoch, 2110
m) und ein blau markierter über den Kępa-Hügel (1683 m). Den gelben Weg konnten wir
vergessen. Oben im Grat gab es eine mit Ketten gesicherte Stelle, die jetzt sicher ein
Problem darstellen würde. Uns blieb also der blaue Weg.
Es hatte mittlerweile aufgehört zu
schneien und die Sonne schob sich langsam über die Kanten der Berge. Die dunkelgrünen
Latschenkiefern hatten weiße Mäntel an, dazwischen leuchteten gelbe, rote und
orangefarbene Laubbäume im Gegenlicht, wie Farbtupfer in einem Malkasten. Auf dem Kępa
hockte ein Wanderer, ihm Schnee kühlte er eine Bierdose. Jeder genoss die Hohe Tatra
eben auf seine Weise, dachte ich mir. Wir fragten uns, ob der Typ die leere Dose wieder
mitnehmen würde. Erfreulicherweise liegt trotz der vielen Wanderer nicht allzu viel Abfall am
Wegesrand. Das Tal der fünf polnischen Seen lag da wie verzuckert. Tief unter uns konnten
wir die Berghütte erkennen.
Schronisko w Dolinie Pięciu Stawów Polskich (Schutzhütte im Tal der fünf polnischen Seen)
heißt die Unterkunft, ich nenne sie einfach 5-Seen-Hütte. Über schneebedeckte
Geröllbrocken rutschten wir der Hütte entgegen. Drinnen war es warm, ich kaufte zwei große
Tassen Kräutertee und zwei Portionen Bigos, einen polnischen Krauteintopf. Auf meine
Frage nach einer Unterkunft erlebte ich eine Überraschung: „Haben Sie reserviert“, fragte
mich die Dame. Nein, hatte ich nicht, hatte ja auch nicht mit dem Ansturm gerechnet und
mich damit verrechnet. Die Hütte war komplett ausgebucht. Und das mittags um 12 Uhr, an
einem Wochentag Ende September! Das ist mir noch nie passiert. Fassungslos schaute ich
die Frau an. „Sie können noch auf dem Fußboden schlafen“, bot sie mir an. Das würde
Helga sicher nicht wirklich erbaulich finden, und auch ich wollte nicht irgendwo auf dem
Boden ohne Isomatte liegen. Welch ein Unterschied: Bei meinem letzten Besuch auf der
Hütte schlief ich allein in einem Zimmer! Jetzt war auch mir klar, die Hohe Tatra hatte sich
auch außerhalb der Saison zum Touristenmagnet gemausert was Helga ja schon
mehrmals erwähnt hatte, ich aber bislang nicht recht glauben wollte.
Was sollten wir tun? Ich
schlug vor abzusteigen und unser Glück in der Schronisko w Dolinie Roztoki (Roztoka-Hütte)
zu versuchen. Sollte die auch voll sein, blieb nur noch der Abstieg bis Zakopane übrig. Nach
reichlich 2 Stunden standen wir vor der Hütte, die zum Glück noch nicht ausgebucht war. Wir
bekamen ein kleines Doppelbettzimmer unter dem Dach. Bis zum Abend trudelten noch
weitere Wanderer ein, sodass der kleine Aufenthaltsraum aus allen Nähten platzte.
Zu gerne wäre ich zur Schronisko „Murowaniec“ (Murowaniec-Hütte), unserem nächsten
Ziel, über den Hauptkamm gelaufen, aber vermutlich wäre dies wegen Eis und Schnee
ohnehin nicht möglich gewesen. So führte unser Weg wieder mal durch den Wald. Anfangs
hatten wir bei gutem Weg eine prima Sicht auf die schneebedeckten Gipfel der Beler
Kalkalpen, sie waren jetzt nicht nur vom Gestein her weiß. Später war der Weg größtenteils
Scheiße. Das letzte Stück zur Hütte war eine Katastrophe. Auf einer Forststraße, die mit
Steinen gepflastert war, die Straußeneiern, Ziegeln oder was weis ich was für hässlichen
Ecken und Kanten ähnelten, balancierten wir unserem Ziel entgegen. Vor und in dem
Gebäude wimmelte es schon wieder von Wanderern. Helga entdeckte ein Schild, das
vorschrieb, den Kammweg vom Zawrat-Gipfel (2228 m) bis zum Gipfel des Kozi Wierch
(2291 m) nur noch in einer Richtung zu begehen. Was sie natürlich gleich mit den
Menschenmassen in Verbindung brachte: Vermutlich gab es dort oben mitunter so viel
Gedränge, dass sich die Menschen ohne Einbahn-Regelung gegenseitig vom Tatra-Kamm
schubsen würden. Mit einem unguten Gefühl im Bauch stieg ich die Treppen zur Rezeption
im ersten Stock rauf. Würden wir hier auch kein Bett bekommen, hätte ich die Schnauze von
der Hohen Tatra gestrichen voll gehabt. Wir hatten Glück und bekamen 2 Betten in einem 8-Bett-Zimmer. Ich bezahlte für zwei Nächte. Morgen stand wieder eine Tagestour auf
unserem Programm.
Ein strahlendblauer Himmel begrüßte uns am nächsten Morgen. Wir aßen Käsebrote zum
Frühstück. Jetzt waren wir beide gestärkt und konnten guter Dinge unsere Tour beginnen. Es
sollte auf jeden Fall auf den Kamm gehen. Der Weg war schwarz markiert und führte in den
Świnicka Przełęcz (2051 m). Der deutsche Name war Sausattel, Schweinesattel gefällt mir
aber besser. Durch das Gąsienica-Tal, vorbei an ruhigen Bergseen, in denen sich die
Schneegipfel spiegelten, ging es dem Hauptkamm entgegen. Da wir uns auf der Nordseite
des Hauptkammes bewegten, war der Weg stellenweise stark vereist. Ich versuchte so gut
es ging, das Eis mit meinen Bergstiefeln abzuhacken oder Tritte in den Schnee zu schlagen.
Es gelang nicht immer. Vorsichtig stiegen wir Schritt für Schritt nach oben. Zum Glück gab es
gute Griffe an den Felsrippen rechter Hand. Kurz vor dem Sattel rutschte uns eine Gruppe
Parkwächter entgegen, auch sie hatten ihre Probleme mit dem Weg. Dann wurde es besser,
denn am Kamm hatte die Sonne den Schnee soweit aufgeweicht, dass ich ohne Probleme
Tritte schlagen konnte. Nach 2 ½ Stunden hatten wir es geschafft. Vom Schweinesattel
konnten wir weit in den slowakischen Teil der Hohen Tatra schauen. Rechts reihten sich die
Gipfel der Westlichen Tatra und am Horizont erstreckte sich die Niedere Tatra. Nach zwei
Müsliriegeln wandten wir uns nach Westen. Für die andere Richtung über den Świnicka-
Gipfel (Sauberg, 2301 m) waren wir nicht gut genug ausgerüstet. Steigeisen wären
notwendig. Unser Weg lief nun auf der schneefreien Südseite entlang und wurde immer
breiter.
Der Gipfel des Kasprowy wierch (1987 m) ähnelte einer Baustelle. Vom Hang gegenüber
spannte sich eine Seilwinde und alle viertel Stunde schwebte ein Helikopter mit Baumaterial
heran. Der Weg vom Gipfel nach Zakopane war bis auf Weiteres gesperrt. Wir wollten nicht
nach Zakopane. Im Sucha Przełęcz (Suche-Sattel, 1950 m) stiegen wir wieder ins
Gąsienica-Tal ab und dann hinauf zum Karb-Sattel (1853 m). Der Weg hatte wieder den
Charakter einer Touristenautobahn. Unter uns lag tiefblau der Bergsee Czarny Staw
Gąsienicowy (Schwarzer Gąsienica See) in der Abendsonne. Der Abstieg entpuppte sich als
kreuzunangenehm. Die Steine waren abgerundet und stellenweise mit einer dünnen
Eisschicht überzogen. Kaum hatte ich mal nicht aufgepasst, machte ich einen Satz nach
vorn, konnte mich aber zum Glück am Hang abfangen. Hochkonzentriert erreichten wir den
See. Am Ufer genossen wir die letzten Sonnenstrahlen und Müsliriegel, bevor wir uns auf
den Rückweg zur Murowaniec-Hütte machten.
Wir teilten unser Zimmer mit einer seltsamen Belegschaft. Zwei polnische Jugendliche und
einen englisch sprechenden Zeitgenossen entsprachen der Vorstellung, die ich von
Wanderern habe. Doch die beiden deutsch/englisch sprechenden Polinnen mit ihrem
deutschen Freund passten mehr auf den Flanierboulevard einer Großstadt als auf eine
Berghütte. Das Zimmer ähnelte einem Schlachtfeld. Nachdem wir einen Hindernislauf über
Kleidungsstücke, Taschen und Schuhe sowie Brettchen, an denen noch Butterreste klebten,
auf dem Boden erfolgreich bewältigt hatten, gelangten wir zu unseren Betten. Doch schlafen
konnten wir noch lang nicht. Licht an, Licht aus – raus eine Zigarette rauchen – Licht an – ins
Bett wurschteln – Licht aus, Licht an – mit Kumpels quatschen gehen – Licht an, wo ist denn
nur mein ... – Licht aus endlich war Ruhe.
Der westliche Nachbar der Hohen Tatra heißt auch so: die Westliche Tatra. Dort wollten wir
hin, zunächst zur Schronisko na Hali Kondratowej (Kondratow-Hütte). Wir folgten dem
Hauptkamm, der hier gleichzeitig Grenze zwischen Polen und der Slowakei ist. Der Grat ist
schmal und felsig. An einer Stelle mussten wir die Hände zu Hilfe nehmen. Mit Abstiegen
hatte ich immer so meine Probleme, meine „Kletterkünste“ sorgten denn auch für
Erheiterung bei entgegenkommenden Wanderern.
Hinter dem Kasprowy Wierch hörten wir
eigenartige Laute, einem Brüllen ähnlich. Ein Bär? Wir scannten die umliegenden Hänge mit
unseren Augen ab. Der Schreihals entpuppte sich als Karpatenhirsch. Hinter Latschenkiefern-
Gestrüpp machte er auf sich aufmerksam. Ich hatte heute das Gefühl, durch einen Tierpark
zu laufen. Kurze Zeit später entdeckte ich über mir im Fels eine Gruppe Gämsen und über
dem Przełęcz pod Kopą Kondracką (Kondrackapaß, 1863 m) zog ein Steinadler seine Kreise
am Himmel.
Das Kondratow-Tal war dann wieder von Menschen in Beschlag genommen,
der Abstieg ins Tal ähnelte einer Ameisenstraße aus Wochenendausflüglern. Vom Kleinkind,
das auf Papas Rücken hing, bis zum Greis, dem nach jedem Schritt die Puste ausging,
schob sich alles zum Pass hinauf. Und vor der Hütte sah es aus wie auf einer Liegewiese in
einem Strandbad. Wir waren uns schon jetzt sicher, hier keine Möglichkeit zum Übernachten
zu bekommen. Ich fragte trotzdem. Mir wurde wieder der Fußboden in Aussicht gestellt.
Eine dreiviertel Stunde bergab versuchten wir unser Glück im Berghotel Kalatówki. Auch hier
Fehlanzeige. „Wir sind leider ausgebucht“, sagte die Dame an der Rezeption bedauernd,
„viele Reisegruppen.“ Das war's, wir kehrten der Westlichen Tatra den Rücken und liefen
runter nach Zakopane. Eines war sicher, auf der nächsten Tatra-Tour würde ich die
Übernachtung auf den Berghütten reservieren. In Zakopane liefen wir zunächst eine Stunde
durch die Stadt auf der Suche nach einer akzeptablen und bezahlbaren Unterkunft.
Entschlossen uns dann, in der Nähe des Bahnhofs die Dienste einer Zimmervermittlung in
Anspruch zu nehmen. Die Dame empfahl uns das Hotel „Adria“, ruhig gelegen in einer
Nebenstraße nicht weit vom Stadtzentrum. Das Doppelzimmer mit Frühstück kostete 150 Zł
(etwa 40 Euro). Auf unserer Tour dürfte es das Hotel mit dem besten Preis-Leistungsverhältnis gewesen sein. Wir waren zufrieden. Restaurants gab es in der
Touristenhochburg Zakopane ohne Ende. Eigentlich hatten wir keinen Wert gelegt auf
Touristen-Livemusik beim Essen, das aber war schlicht unmöglich. Volkstümliche Weisen
schienen obligatorisch zu sein. Wir kehrten ins Restaurant Kalina ein. Der echte ukrainische
Borschtsch war jedenfalls ein Gedicht. Der schmeckte viel besser als das Rote-Beete-Wasser auf den Berghütten.
Unsere Tour neigte sich ihrem Ende entgegen, vier Tage hatten wir noch – und noch immer
wartete auf mich der Gipfel der Gerlsdorfer Spitze. Wir mussten also zurück in die Slowakei.
Je nach Bedarf fahren von Zakopane Mini-Busse nach Lysá Poľana. Da der Bedarf – vor
allem an einem Sonntag – riesig ist, war nicht verwunderlich, dass die Busse im Minutentakt
gegenüber vom Busbahnhof abfuhren. Vom Parkplatz am Eingang zum Nationalpark staute
sich die Blechlawine der Autos auf fast drei Kilometer bis hinter den Grenzübergang zur
Slowakei.