(Karpatentour Mai - Juli 1999 – Slowakei)
Weshalb heißt ein Zug, der von Paris lediglich bis Budapest fuhr, Orient-Express?
Über diese Frage zerbrach ich mir noch den Kopf, als ich bereits auf der Pritsche
in meinem Abteil lag und Franz gegenüber schon Töne von sich gab, als ob er einen
ganzen Wald abholzen wollte. Wir hatten beide das gleiche Ziel - Wien. Franz war
auf dem Weg nach Hause von seiner Geschäftsreise, ich wollte den Abwasch zu Ende
machen - zu Fuß durch die Karpaten, zweiter Teil. Ein Marsch von der ukrainischen
Grenze bis Bratislava, quer durch die Slowakei. Sieben Wochen hatte ich dafür
Zeit, fünf Wochen bezahlten und zwei Wochen unbezahlten Urlaub, heute war der 28.
Mai 1999.
Mit der Erkenntnis, die Welt des Westens endet östlich der Donau, hatte ich
schließlich eine Antwort auf meine Frage und konnte zufrieden einschlafen. Erst
das penetrante Klopfen des Schaffners an der Abteiltür, kurz vor Wien, holte
mich in die Realität zurück.
Franz war trotz des Schnarchens ein ganz netter Kerl. Bevor er sich wieder um
seine Geschäfte kümmern würde, drückte er mir noch ein Ticket für die Straßenbahn
in die Hand. „Wir sind auf dem Westbahnhof die Züge nach Bratislava fahren vom
Südbahnhof ab. Nimm die Nummer 18, und viel Glück.“ rief er mir noch zu und
verschwand im Gewimmel auf dem Bahnsteig.
Der Südbahnhof war das ganze Gegenteil, kaum Reisende und was viel schlimmer war
keine Bänke, lediglich ein siffiger Warteraum in der oberen Etage. Immerhin hatte
es einen Schalter fürs Gepäck und eine Wechselstube, wo ich sogar Slowakische
Kronen bekam.
Pünktlich um viertel nach zwölf fuhr mein Zug nach Bratislava. Mit der Zeit
hatten sich doch noch jede Menge Menschen auf dem Bahnsteig angesammelt, die das
gleiche Ziel hatten. Es war ein kleiner Zug mit nur drei Waggons und
dementsprechend ziemlich voll. Ich schob meinen Rucksack und mich durch die
Leute und ergatterte tatsächlich noch einen Sitzplatz. Nach etwa einer Stunde
drängelte ich ein zweites Mal, und stand schließlich in Bratislava - der
Hauptstadt der Slowakischen Republik.
Auf meiner ADAC-Karte „Slowakische Republik“ hatte ich mir zu Hause den Ort
rausgesucht, der zum einen nah an den Karpaten lag und zum anderen nah an der
Grenze zur Ukraine, und er sollte auch noch einen Bahnanschluss besitzen.
Drei Dinge, die zuviel verlangt waren. Nová Sedlica erfüllte meine beiden ersten
Anforderungen. Es war das letzte Dorf im Dreiländereck Slowakei, Polen und Ukraine.
Bis zur jeweiligen Grenze gab es nur noch Wald und Berge. Was fehlte war jedoch
ein Bahnhof. Ich suchte weiter westlich und entschied mich für Stakčín,
die restlichen 50 km fuhr vielleicht ein Bus oder ich müsste trampen.
„Sie müssen in Humenné umsteigen“, erklärte mir die Dame hinter dem Fahrkartenschalter.
Mein Zug fuhr um 22:50 Uhr, ich hatte genügend Zeit für ein oder auch zwei, drei
slowakische Bierchen.
„Kommste aus Deutschland? Ich war auch schon in Deutschland, hab dort gespielt.“
George verdiente sich seinen Lebensunterhalt als Straßenmusikant. Sogar in
Freiburg hatte er schon gespielt. „Ist 'ne schöne Stadt“, meinte George. Jetzt
wollte er nach Wien. „Besuch mich mal. Wenn du durch die Karpaten läufst, kommst
du sicher nach Liptovský Mikulaš. Liegt ungefähr in der Mitte.“ Er
kritzelte seine Adresse auf mein Ticket und ich versprach mal vorbeizuschauen.
Leider mache ich es dann aber meist nicht. Hab immer ein schlechtes Gefühl
unangemeldet mit Dreck an den Hosenbeinen bei Leuten zu klingeln, die mir
irgendwann mal kurz über den Weg gelaufen sind.
Es wehte ein kühler Wind auf dem Bahnsteig, als ich in den wartenden Zug kletterte.
Drinnen war es warm, außer mir saß noch eine Frau mittleren Alters im Abteil, zwei
Taschen bis zum Rand gefüllt, bewachten sie. Ich hatte eine Bank für mich, konnte
also auf etwas Schlaf hoffen, bevor es ernst wurde.
Etwas benommen taumelte ich am nächsten Morgen, dem 30. Mai, in Hummené aus dem
Waggon, geschlafen hatte ich kaum. Am Bahnhofskiosk hockten schon die ersten
Kunden und versenkten einen Halben Liter nach dem anderen. Bier wollte ich so
früh am Morgen noch nicht, es war gerade mal kurz nach Sieben. Mein Anschlusszug
ging in einer guten Stunde.
Es war ein Triebwagen mit Holzbänken und ziemlich voll. Heute war Sonntag und
die Menschen hatten sich dementsprechend fein angezogen. Auf dem Straßenschild
von Stakčín stand der Name des Ortes in slowakischen und darunter in
kyrillischen Buchstaben. Hier leben Ruthenen, Menschen ukrainischer Abstammung.
Sie strömten alle in die Kirche zur Sonntagsmesse. Die Mehrheit der Ruthenen
lebt heute in der Ukraine, nach dem der tschechoslowakische Staat 1945 einen
Teil Rutheniens an Stalin abtreten musste.
Gegen 11:30 Uhr sollte ein Bus nach Nová Sedlica fahren, er kam pünktlich.
„28 Kronen“, sagte der Fahrer, schaute auf meinen Rucksack und verlangte noch mal
5 Kronen. Die Fahrt dauerte etwa eine Stunde, ich schlief die meiste Zeit.
Nová Sedlica war das letzte Dorf vor der ukrainischen Grenze und für mich
Startloch zur Karpatendurchquerung zweiter Teil. Mit „Na shledanou!“
verabschiedete ich mich beim Busfahrer, der schaute mich an, als ob ich seinen
Nationalstolz aufs tiefste beleidigt hätte. Mir war nun definitiv klar, dass
mein Tschechischkurs in Deutschland umsonst gewesen war. Ich stieg etwas
deprimiert aus und entdeckte auf dem ersten Strommasten einen alten Bekannten.
Das rote Band hatte mich bereits durch fast zwei Drittel der Karpaten geführt.
Ich folgte ihm und erreichte ein Schild. „Polonina Nationalpark“, stand dort.
Darunter eine Reihe Symbole: Feuer, Radio, Hand mit Blume, Zelt usw. - rot
durchgestrichen. Das durchgestrichene Zelt ärgerte mich, doch darüber wollte
ich mir zu gegebener Zeit Gedanken machen. Im Moment hatte ich erst einmal mit
den Teerbatzen unter meinen Schuhen und mit den Schweißtropfen in meinen Augen
zu kämpfen.
Eine dunkle Wolkenwand und leises Grummeln hinter meinem Rücken ließ auf eine
Abkühlung hoffen. Doch es dauerte noch ein Weilchen, bis die ersten Regentropfen
auf meinem T-Shirt verdampften. Der Weg schien endlos und der Rucksack ärgerte.
Zu meinen Füßen blühte Waldmeister weiter oben Buschwindröschen noch weiter oben
stolperte ich über einen Feuersalamander. Ich machte Pause, um ihn eine Weile zu
beobachten. Er mühte sich ebenfalls einen Hang hinauf, kullerte zurück, versuchte
es wieder und verschwand schließlich im Laub unter einem Strauch.
Punkt 18:00 Uhr stand ich endlich keuchend auf dem 1221 m hohen Kremenec. Nach
Osten reihten sich Grenzsteine mit einer blau-gelben Markierung, hinter ihnen
lag die Ukraine. Im Norden war die Markierung der Grenzsteine rot-weiß und somit
polnisch. Ich hockte im Dreiländereck, lief ein Stück auf der Grenze lang und
staunte nicht schlecht, als ich etwa 10 m im Wald auf der slowakischen Seite
eine Hütte entdeckte, ein Tisch mit 'ner Bank und 'nem Holzdach. Das Zeltproblem
hatte sich von selbst gelöst.
Ich war viel zu müde, um mir noch eine Antwort auszudenken, falls mir hier ein
Grenzwächter dumme Fragen stellen würde. Zum Glück störte mich, von ein paar
Mäusen mal abgesehen, niemand.
Ab jetzt würde ich etwa eine Woche dem Kamm des Bukovsker Gebirges folgen, immer
auf der polnisch-slowakischen Grenze entlang, bis zum Dukla-Pass. Ich beginne bei
„Kilometer Null“, einem Obelisken, der das Dreiländereck symbolisiert.
Die weißen Grenzsteine sind besser als jeder Wegweiser - Fixpunkte in einem
bewaldeten Hügelmeer, das sich weit nach Norden zieht; kaum touristisch
erschlossen. Die Bäume, meistens Bergbuchen, leuchteten saftig grün in der
Morgensonne. Sie sind hier bei etwa 1000 m Höhe nicht sehr groß, ab und zu
erhaschte ich einen Blick über die Ostbeskiden nach Polen.
Es herrschte eine feierliche Stille über den Wäldern. Kaum zu glauben, dass hier
eine der größten Schlachten des 2. Weltkrieges tobte - die am 8. September 1944
begonnene Ostkarpaten-Operation mit der Schlacht um den Dukla-Pass.
Bei Regen, Nebel und Kälte wurde um jede Höhe, jeden Berg und jede Ortschaft
hart gekämpft. 5 deutsche Infanteriedivisionen und zwei Panzerdivisionen
leisteten erbitterten Widerstand. Am 6. Oktober 1944, 8:00 Uhr gelang es dem 1.
Tschechoslowakischen Armeekorps unter General Svoboda mit Unterstützung der 38.
Armee der 1. Ukrainischen Front und verschiedenen Partisanenverbänden, die im
Hinterland operierten, den Pass zu besetzen. Erst einige Kilometer südlich des
Passes konnte der Gegner gestoppt werden. Fehlentscheidungen (bewusst oder
unbewusst) während der Kämpfe kosteten fast 100 000 tschechisch-slowakischen
und sowjetischen Soldaten das Leben. Über 66 000 deutsche und ungarische Soldaten
starben oder wurden verwundet, 28 000 gerieten in Gefangenschaft. Das Ziel, zur
ungarischen Tiefebene vorzudringen und die Aufständischen des slowakischen
Nationalaufstandes zu unterstützen wurde nicht erreicht. Auch aufgrund einer
anderen Tatsache erwies sich die Karpatenoffensive als sinnlos: Bereits am 23.
August 1944 wechselte Rumänien die Fronten und gab somit den Weg nach Westen
über die Karpaten frei.
Auch mein Weg schlängelte sich nach Westen flankiert von weißen Grenzsteinen mit
roten Kappen, Geschoßteilen, Handgranaten und Schützengräben. Stahlhelme und
Klappspaten waren dagegen seltener. Kurz vor dem Čiert'až-Sattel
raschelte es plötzlich rechts im Gebüsch. Meine erste Begegnung mit zwei
Karpatenwölfen dauerte leider nur wenige Augenblicke. Im Handumdrehen machten
sie eine Kehrtwendung und verschwanden im Unterholz.
Den Waldboden überwucherte Bärlauchkraut, blätterkauend lief ich weiter, geplagt
von blutsaugenden Mückenschwärmen. Ich lebte von der Natur, die Natur von mir.
„Kommst du aus Polen oder aus der Ukraine? Hast du Wodka?“ fragten mich drei
Typen in Tarnuniform auf meinen Rucksack deutend. Ich hatte gerade wieder eine
Hütte entdeckt und wollte etwas essen. Sie hielten mich tatsächlich für einen
Wodkaschmuggler. Es waren jedoch keine Grenzer, auch wenn es im ersten Moment so
aussah. Einen deutschen Wanderer hier oben anzutreffen schien für die drei noch
interessanter zu sein als die Begegnung mit einem Schmuggler. Prompt luden sie
mich ein, mit nach Nová Sedlica zu kommen. „Es gibt genug Bier.“ - das Angebot
war verlockend, doch ich blieb standhaft.
Immerhin hatte ich nur begrenzt Zeit und wollte keinen Tag verschenken. Dann
sollte ich wenigstens noch was essen, bevor es weiterging. Mit Brot, Speck und
Zwiebeln im Gepäck lief ich bis Kilometer 26. Das mit den Grenzsteinen war eine
feine Sache, wusste ich doch jeden Abend exakt, wie weit ich am Tag gelaufen war.
Nach ein paar Tagen erreichte ich einen Durchschnitt von 30 km.
Ich wühlte Zelt, Kochzeug und Teebeutel aus dem Rucksack und begann auf einem
der Steine Tee zu kochen. Ich drehte die Benzinzufuhr des Kochers auf, es
zischte. Ich klickte auf mein Feuerzeug und der Kocher begann sein Lied zu
singen. Wasser hatte ich noch genügend im Rucksack. Ich goss es in den Topf,
von dort lief es auf den Brenner des Kochers, wo es lebhaft verdampfte. Ich hob
den Topf gegen die bereits tiefstehende Sonne. Das Loch im Boden war nicht groß,
doch es reichte, um meinen Teetopf zu verschrotten. Alu-Draht zum Vernieten hatte
ich nicht mitgenommen. Ab jetzt musste ich mich mit einem Kochtopf begnügen, es
funktionierte. Ich lernte daraus, auf meinen zukünftigen Touren nur noch einen
Topf mitzunehmen, jedoch nie wieder ohne Draht loszuziehen.
Meine größten Schwierigkeiten bestanden in den folgenden Tagen darin,
rechtzeitig den Wasservorrat zu erneuern. Die auf meiner Karte eingezeichneten
Quellen konnte ich nirgends finden und in der Trinkflasche dümpelte ein
kläglicher Rest vor sich hin, der nur noch bis zum Mittag reichte. Auch die
nächste Quelle, laut Karte unterhalb des Černiny-Gipfels gelegen, blieb
verschollen. Erst gegen Abend entdeckte ich etwas, was mich hoffen ließ.
Huflattich und Sumpfschierling überzogen den Waldboden, ein gutes Zeichen hier
evtl. auf Wasser zu stoßen. Und richtig, nach etwa 100 m entdeckte ich ein
Rinnsal. Tasse auf Tasse füllte ich in meine Trinkflasche, bis sie randvoll war.
Würde das so weitergehen, müsste ich den Grenzpfad vorzeitig verlassen.
Im Moment war es jedoch wichtiger mir Gedanken zu machen, wo ich heute schlafen
würde. Ein Schild mit der Aufschrift „Balnica“ zeigt bei Kilometer 52 nach
Norden. Ich folgte ihm und gelangte zu einer Bahnstation. Laut Karte müsste es
hier ein Hotel geben. Nun ja, Hotel ist etwas übertrieben. Das Gebäude
erinnerte mich an ein Bahnwärterhäuschen. Vor der Tür hockte ein Typ mit
Rollkragenpullover und Raster-Frisur. Ich versuchte ihm klar zu machen, ob es
möglich wäre, hier irgendwo zu zelten. Es war ihm egal ich könnte auch ein Zimmer
bekommen. Zelten kostete 3 Złoty.
Mist, ich hatte ganz vergessen, dass ich ja bereits in Polen war. Ob er auch mit
Kronen zufrieden sein würde? Ich versuchte es, doch Fehlanzeige. Auf einmal
änderte er seine Meinung und erklärte mir, dass ich Schwierigkeiten bekommen
würde, falls ich einer Grenzpatrouille in die Arme laufen würde. Jetzt hätte
ich ihm auch noch Mark anbieten können, doch ich ließ es, das war's mir nicht
wert. Ich schnappte meinen Rucksack und lief wieder zurück auf slowakisches
Gebiet. Auf einer Wiese bei Kilometer 56 war Endstation, ich baute mein Zelt
auf - mitten im Biosphärenreservat.
Was das Trinkwasser anging, sah es auch am nächsten Tag nicht gerade gut aus.
Erst bei Kilometer 91, sollte laut Karte wieder eine Quelle kommen. Dort konnte
ich auch den Pfad verlassen. Ein Weg, grün markiert, führte nach Palota, dem
ersten Dorf nach der Grenze. Das hieß für mich 35 Kilometer laufen. Jeder volle
Kilometer wurde durch einen Grenzstein markiert, der höher als die
dazwischenliegenden war. Die Höhe war perfekt um meinen Rucksack darauf abzusetzen,
ohne ihn von den Schultern zu nehmen. Das Laufen von Kilometer zu Kilometer
klappte ausgezeichnet. Immer wenn ich einen vollen Kilometer geschafft hatte,
pausierte ich auf die Art ein Weilchen. 57 - Pause, 58 - Pause, 59 - Pause usw.
usw. Bei Kilometer 91 flog mein Rucksack von den Schultern, ich kramte
Trinkflasche und Tasse raus und begann nach Wasser zu suchen. Ich konnte keines
finden und schaute mich nach dem Weg ins Dorf um. Aber den fand ich auch nicht,
stattdessen fand mich jemand.
Hinter einem Grashügel erschienen plötzlich zwei grüne Gestalten. Einer mit 3
Sternen auf jeder Schulter, der zweite hatte keine Sterne auf den Schultern statt
dessen eine Kalaschnikow umhängen. Die Grenzer wollten meinen Pass sehen.
„Wohin gehen sie?“ wollte der Sternchenträger wissen. „Hohe Tatra“, antwortete
ich - ungläubige Gesichter. Dann versuchte er mir zu erklären, dass ich auf dem
Gebiet der Slowakei bleiben musste. Ich verstand. Nur mein Kontrolleur verstand
nicht, dass ich ihn verstanden hatte, und wiederholte sich immer aufs Neue. Ich
wusste nun nicht mehr, was ich ihm noch erwidern sollte. Noch einmal versuchte
ich ihm klar zu machen, ich sei unterwegs zur Hohen Tatra. Dass ich bis
Bratislava wollte, hätte er mir sowieso nicht geglaubt. „Vysoké Tatry? dobre“,
endlich gab er auf. Bevor sich die Beiden wieder aus dem Staub machen konnten,
nutzte ich die Gelegenheit und fragte, auf meine Flasche deutend, nach Wasser.
Der Offizier kam zurück schnappte sich die Flasche und bedeutete mir zu warten.
Der Waffenträger leistete mir derweil Gesellschaft.
Nach etwa 5 min kam er zurück, die Falsche randvoll mit kristallklarem Quellwasser.
Es war wie Weihnachten, feine Tröpfchen schlugen sich an der Außenseite der
Flasche nieder. Wenn die sich hier auskannten, konnten sie mir bestimmt auch den
Weg nach Palota zeigen. Der Offizier winkte mir, ich sollte ihm folgen. Durch
kniehohes Gras und Brombeergestrüpp führten sie mich auf eine Forststraße, den
Weg kannten vermutlich nur Schmuggler und Grenzer, dachte ich mir. Die beiden
Soldaten drückten mir die Hand, wünschten noch viel Glück und verschwanden wieder
im Gebüsch in Richtung Polen. Nach etwa 300 m entdeckte ich auf der rechten
Straßenseite auch die Quelle, ich vertraute meiner Karte wieder.
Der nächste Tag war nass. Ich hätte wieder zurück zum Grenzpfad laufen können,
wählte aber den Weg ins Dorf, besser gesagt zum Dorfladen. Das Bier hieß
Šariš, 12% Stammwürze. Auf dem Weg hinter dem Laden erreichte ich
wieder die Grenze. Aus einem Container dudelte Dylans „Blowing in the wind“. Vor
der geöffneten Tür hockte ein Schäferhund, der nicht so recht wusste, wie er sich
verhalten sollte. Lief auf mich zu, wich wieder zurück und entschloss sich
schließlich seinem Herrchen mein Kommen anzukündigen. Herrchen hörte jedoch
nicht. Erst mein „Dobrý deň!“ ließ Herrchen aufschrecken. Ich musste
mich wieder ausweisen. Dann kam das Übliche: Adresse notieren, ich durfte nicht
nach Polen und „Gute Reise.“ Die Grenze erreichte ich bei Kilometer 101. Nach
Kilometer 113 fing es an zu regnen und bei Kilometer 124 ähnelten meine Schuhe
zwei aufgeweichten Semmeln.
Links von mir auf einer Wiese sah ich ein Gebäude. Ich verließ den Pfad, um
mich unterzustellen.
Das Haus, oder besser die Ruine, musste mal ein Kuhstall gewesen sein. Auf dem
Boden türmte sich eine etwa 10 cm hohe Schicht Mist. An den Wänden waren Gebilde
angebracht, die kleinen Klobecken ähnelten. Ob die Kühe da drauf gingen? Im
Vorderteil befand sich ein Zimmer mit 'nem Bettgestell, Ofen und Tür lagen
daneben. Ich rollte meine Iso-Matte aus und machte es mir erst mal bequem,
immerhin war es hier drin trocken, wenn auch kalt und dreckig. Ich rollte mich
in meinen Schlafsack ein, über mir trommelten die Regentropfen auf die Dachpappe.
Am nächsten Morgen, es war der 4. Juni, quatschten die aufgeweichten Semmeln
wieder der Grenze entgegen. Hinter dem Čertižské-Sattel, auf dem
sich ein provisorischer Grenzübergang befand, lief ich meiner zweiten Patrouille
in die Arme. „Ich halte eigentlich nichts vom Kontrollieren, muss trotzdem ein
paar Daten von dir haben.“ Jozef notierte sich Name und Geburtsdatum. Er war
Karpatendeutscher aus Kesmark.
Die Geschichte der Karpatendeutschen reicht zurück bis ins 12. Jahrhundert.
Wahrscheinlich siedelten bereits zwischen 1141 - 1162 Deutsche in diesem Gebiet,
die dem Ruf des Ungarnkönigs Geza II. nach Siebenbürgen folgten. Zur
großflächigen Besiedlung kam es aber erst unter Bela IV., der, nach dem
Mongoleneinfall 1241, deutsche Handwerker und Bergleute in das Territorium der
heutigen Slowakei holte.
Vor seinem Wehrdienst arbeitete Jozef als Dolmetscher. „Ich war schon oft in
Deutschland: Zugspitze, Neuschwanstein ... Hier ist kaum was los. Der
Grenzübergang ist neu, im Sommer kommen die Polen rüber und lassen sich vollaufen.
Der Wodka bei uns ist billiger. Im Winter sind's die Wölfe, kommen bis vor den
Kuhstall. Sogar Elche und Wisente hatte man schon gesehen.“
Nach 4 Kilometern verließ ich die Grenze endgültig. Ich brauchte wieder Wasser
und stieg ab. Auf einem verwilderten Pfad gelangte ich nach Nižný Komárnik.
Das Dorf lag an der Europastraße 371, die rauf zum Dukla-Pass führte. Ich
folgte ihr ein Stück in Richtung Pass. Dort müsste ich auf den Europäischen
Fernwanderweg E8 „Atlantik - Istanbul“ - stoßen.
Medvedie, Vyšná Pisaná und Nižná Pisaná lagen noch vor mir, dann
erreichte ich das „Tal des Todes“. Links und rechts der Straße standen noch immer
Geschütze und Panzer, deutscher und sowjetischer Herkunft, in erstaunlich gutem
Zustand. Irgendjemand schien von Zeit zu Zeit mit Farbe und Pinsel den Blechkisten
zu altem Glanz zu verhelfen. Kurz vor Svidník erinnerte ein Denkmal an die Kämpfe
im Oktober 1944. Ein sowjetischer Panzer überfährt einen Schützenpanzerwagen der
Wehrmacht. Eigentlich nicht ganz korrekt, denn deutsche Truppen stoppten hier
den Vormarsch der Roten Armee. Die Kämpfe forderten hohe Verluste unter den
sowjetischen Einheiten, sodass sich deren Oberbefehlshaber gezwungen sahen, die
Hauptstoßrichtung zu ändern.
Ab und zu sind Änderungen halt notwendig und ich beschloss nach Svidník, der
ersten Stadt auf meiner Tour, nicht dem Wanderweg zu folgen sondern der Straße.
Svidník eine Stadt inmitten der Karpaten gelegen, ist Zentrum der ruthenischen
Kultur. Durch schwere Kämpfe zwischen deutschen und sowjetischen Truppen im
November 1944 stark zerstört, bestimmen heute sozialistische Plattenbauten das
Stadtbild. Am Fuß der Čierna Hora befindet sich der Skansen. Ein
Freilichtmuseum mit alten Holzhäusern, einer Holzkirche und, hinter dem Zaun,
einer Wiese mit Kühen, die neugierig zu mir rüberschielten, als ich mich beeilte
mein Zelt aufzubauen, bevor es dunkel wurde.
667 m misst der Gipfel des Čierna Hora (Schwarzer Berg). Er ist nicht
schwarz und streng genommen ist es auch kein Gipfel, sondern nur die höchste
Stelle des Kamms. Aber er hatte etwas, was ich sonst nur von heimischen
Kletterfelsen kannte - ein Gipfelbuch. Ich grüßte alle die nach mir kommen
sollten und drückte den beigelegten Stempel des Karpatenvereins-Svidník auf
meine Wanderkarte.
Nach Kurimka begleitete mich Nebel - schemenhafte, düstere Bäume zwischen grauen,
feuchten Wolkenfetzen, Gestalten, die etwas im Schilde zu führen schienen.
Vor dem Bushäuschen in Kurimka warteten Leute auf den Bus nach Svidník. Ich
setzte mich dazu und riss einen Müsli-Riegel auf - „Pure American Cranbery“.
Im Gegensatz zu den Dörfern in Rumänien waren die slowakischen Dörfer sauber.
Asphaltierte Straßen (ohne Löcher und Kuhfladen), blühende Vorgärten, viele neue
Häuser mit Blechdächern - Ziegel waren vermutlich zu teuer, und nirgends
weggeworfene Coca-Cola-Flaschen, alte Latschen oder Plastiktüten.
Nirgends? Kurz vor Šarišske Čierne rannte ein Typ aus einem
Haus und pinkelte an den Straßenrand. Das Haus war eigentlich eine Baustelle.
Fensterscheiben konnte ich nirgends entdecken, die Tür bildete eine Art Brücke
zum Eingang und der Müll landete im Straßengraben. Die Frau hockte mit ihren
Kindern vorm Eingang und fragte nach Zigaretten. Eins hatten die Karpaten also
doch gemeinsam - Zigeuner. Ich war zufrieden.
Morgen würde ich nach Bardejov/Bartfeld kommen, die zweite Stadt auf meinem Weg,
und meine erste Auszeit. Heute war der 6. Juni, eine Woche lief ich nun schon
durch die Berge. Ich würde mir ein Zimmer suchen, ein Zimmer mit Dusche. Ich
blätterte in meinem Lonely-Planet-Reiseführer. Drei Hotels - Republika,
Topľa und Šport - hatte der Autor in Bardejov aufgestöbert.
„There's a cheap beer hall downstairs.“ Guter Tipp, ich entschied mich fürs
Hotel Topľa.
Topľa heißt auch der Fluss in der Stadt. Ihn gab's noch, das Hotel nicht
mehr. „Zum Hotel Šport? Gehen sie über die Brücke und dann nach links.“,
erklärte mir eine Frau. Das Zimmer im Hotel „Šport“ kostete 500 Kronen,
das war günstig. Verzichten musste ich dafür auf den Luxus einer heißen,
belebenden Dusche. Das Wasser war eisig wie in einem Gebirgsbach. Auf der Post
herrschte reges Treiben, ich schickte ein paar Karten nach Deutschland - Nemecko.
Im Zentrum war überhaupt nichts los, nach 18:00 Uhr wurden die Bürgersteine
hochgeklappt. Langsam schlenderte ich zurück zum Hotel - das Wasser war jetzt warm.
Punkt halb Sieben verließ ich das Hotel am nächsten Morgen. 5 Stunden lief ich
auf der Straße bis Hervartov, einem Dorf mit einer wunderschönen Holzkirche. Es
soll die älteste Holzkirche der Slowakei sein, 1593 erbaut.
Die meisten Holzkirchen der Ostslowakei sind griechisch-katholisch bzw. unierte
Kirchen, manche sind russisch-orthodox. Die in Hervartov gehört zu den wenigen
römisch-katholischen Holzkirchen. Geweiht wurde sie Franz von Assisi. Gleich
dahinter geht es steil bergauf ins Čergov-Gebirge. Ich verließ den E8 und
steuerte auf den höchsten Berg des Massivs zu. Von hier hätte ich bei gutem
Wetter zum ersten Mal auf der Tour die Hohe Tatra sehen können. Doch das Wetter
verarschte mich. 1157 m schiebt sich der Minčol in die Wolken. Seit meinem
Start an der ukrainischen Grenze, zum ersten Mal wieder über 1000 Meter.
Von Livovská Huta, im Topľa-Tal, schleppte ich mich Schritt um Schritt
nach oben, knietiefe Rinnen zwischen meinen Füßen. Der Wind rüttelte an meinem
Rucksack und feiner Nieselregen klebte im Bart. Ich zerrte die Kapuze fest und
vergrub meine Hände in den Jackentaschen. Nur auf den Pfad starrend erreichte
ich nach zwei Stunden den Gipfel, mit einem halb zerfallenen Obelisk aus Beton.
In einem Blechkasten steckte auch hier das Gipfelbuch. Da ich weder Stift noch
Stempel fand, flog es wieder zurück in die Kiste. Ich wollte jetzt nur noch
runter. Gestern in Hervartov stieg das Thermometer noch auf über 30°C, jetzt
begannen sich kleine Eiskörnchen zwischen die Regentropfen zu mischen.
Den Weg nach Kyjov markiert ein blaues Band. Ich verlor es nach der ersten
Kreuzung. Ich blieb auf der Forststraße und schlüpfte in Kyjov's erstbesten
Dorfladen. In der Ecke stand ein Tischchen, daneben zwei Hocker. Auf einem saß
ein Typ mit Armeejacke und schaute fern, auf den anderen setzte sich ein
frierendes, durchnässtes Häufchen Unglück. Im Fernseher lief gerade Boxen. Der
Bauer beugte sich über seinen Wodka, ich beugte mich über meine Karte und
überlegte mir die nächsten Schritte in Richtung Hohe Tatra. Die Letschauer Berge
umschloss eine dicke rote Linie - Sperrgebiet. Ich würde nicht durchkommen. Doch
im Norden fand ich einen Flecken, der weit interessanter zu sein schien.
Ein Bus nach Stará Ľubovňa sollte um 14:22 Uhr fahren. Der Bus kam
die Straße rauf, ich stieg ein - es war gerade 14:00 Uhr. Der Ort, wo ich hin
musste heißt Červený Kláštor (Rotes Kloster), benannt nach dem,
von Kartäusermönchen gegründeten Kloster aus dem 14. Jh. Die Farbe der zum Bau
verwendeten Steine gab dem Kloster den Beinamen „Rot“.
Mein Problem bestand darin, herauszufinden welcher Bus vom Busbahnhof in Stará
Ľubovňa zum Roten Kloster fuhr. Beim fünften Busfahrer hatte ich
schließlich Erfolg. Ich ergatterte zwar nur noch einen Stehplatz, eingeklemmt
zwischen Hintermann und Vordertür. Doch der Bus fuhr nach Spišská Stará
Ves über Červený Kláštor. Er hielt direkt vor der Klostermauer.
Doch nicht wegen des Klosters wollte ich hier her, der Grund war der etwa 10 km
lange Durchbruch des Dunajec-Flusses durch das Pieninen Gebirge.
Goralen nennen sich die Menschen in diesem Teil der Karpaten, noch in den 50er
Jahren des letzten Jahrhunderts flößten sie auf dem Dunajec Holz und Waren.
Wochenlang waren die Männer unterwegs, über die Weichsel fuhren sie bis zur
Ostsee. Von jeder Fahrt brachten sie eine Muschel mit nach Hause. Die sie sich
dann an den Hut steckten, so konnte jeder sehen, wie viele Touren ein Flößer
schon auf dem Buckel hatte. Heute besteht die Ladung der Flößer aus Touristen.
Der Floßtrip reizte mich, brachte er immerhin etwas Abwechslung in meinen
Wanderalltag. Palo gehört zur Vereinigung der Dunajec-Flößer und fährt von Mitte
April bis Ende Oktober mit seinen Gästen den 10 km langen Abschnitt auf dem
Dunajecdurchbruch. Ich saß in der ersten Reihe, mit 11 weiteren Passagieren und
unseren beiden Flößern. Auf dem Fluss wimmelte es von Flößen. Die meisten kamen
von der polnischen Seite, denn der Dunajec ist an dieser Stelle gleichzeitig
Grenzfluss. „Die Polen sind Expressflößer:“ sagte Palo. „Sie können 5 km weiter
flößen, da der Fluss dann nach Polen fließt. Sie wollen es aber in der gleichen
Zeit schaffen wie wir.“
Tatsächlich überholten uns ständig Polen, kraftvoll schoben sie das Floß mit den
langen Holzstangen durchs Wasser. Die Slowaken gingen ihre Arbeit wesentlich
lockerer an. Oft ließen wir uns von der Strömung tragen, nur in den Stromschnellen
hatten Palo und sein Kollege am Heck zu kämpfen. Majestätisch erhoben sich die
Kalkklippen der „Drei Kronen“ über den Eingang zur Klamm.
Der aufgelöste Kalkstein ist auch die Ursache für lauter kleine Schaumflecken
auf dem Fluss. Dieser Schaum, auf slowakisch „pena“, gab dem Gebirge seinen Namen.
Die Flöße sind zwar aus Holz, jedoch nicht aus zusammengebundenen Baumstämmen.
Vielmehr bildeten sie eine Konstruktion aus fünf Pontons, mit darübergelegten
Sitzbrettern für die Passagiere. Den Bug bedeckte ein Stapel Fichtenzweige. „Die
Zweige sind recht nützlich“, erklärte uns Palo. „Sie dienen als Dekoration,
schützen vor Spritzwasser, und wenn einer ersäuft, haben wir gleich Material für
einen Trauerkranz.“
Zwischen bis zu 500 m hohen Felsen trieb unser Floß langsam durch die Schlucht,
Kalkplatten schauten wie Krokodile aus dem grünlichen Wasser. Der nächste markante
Kalkklotz hieß „Schweinefelsen“. „Zum Treideln mussten die Männer an dieser
Stelle ins kalte Wasser, das ihnen oft bis zum Bauch reichte. Es war halt 'ne
Schweinearbeit.“ So kannte Palo zu jedem Felsen eine Geschichte. „Seht ihr die
sieben Mönchsfelsen auf unserer Seite? Die Mönche schlichen sich zu den Nonnen
nach Polen, zur Strafe ließ Gott beide versteinern. An den Nonnen kommen wir
noch vorbei.“ Ein Loch im Fels ist für Palo der „Mund der Schwiegermutter“.
„Klein aber immer offen.“ sagte er grinsend. Den letzten, landschaftlich
reizvollen Teil bildet der 747 m hohe Falkenstein mit seinen 300 m hohen Wänden.
Kurz dahinter, der etwas kleinere Zuckerhut. „Warum ist der Zuckerhut kleiner?“
fragte Palo. Schulterzucken. „Na ist doch ganz einfach, während des Kommunismus
herrschte in Polen Zuckerknappheit.“
Ein Grenzhäuschen auf der rechten Uferseite war für uns Endstation, der Fluss
schlängelte sich jetzt nach Polen. Ein Wanderweg, der parallel zum Fluss lief,
führte mich wieder zurück nach Červený Kláštor - an den Bierstand.
Petra, Marcela und Iveta sind Schwestern, sie betrieben den Imbiss- und
Souvenirstand vor dem Kloster. Petra, die jüngste sprach perfekt deutsch. Sie
hatte als au pair Mädchen in der Nähe von Nürnberg gearbeitet, und war von
Deutschland nicht gerade begeistert. „Die schrieben mir sogar vor, wie viel ich
zu essen hatte“, sagte sie. Ich freute mich endlich mal jemanden zu treffen, für
den der Westen nicht die Länder waren in denen Milch und Honig floss. Wir
verabredeten uns zu einer Grillparty auf dem Campingplatz unten am Fluss. Die
drei Mädels brachten aus ihrem Imbiss-Stand Fleisch und Bier mit, ich hatte mich
ums Feuer zu kümmern.
Am nächsten Morgen fühlte ich mich ziemlich unausgeschlafen. Doch es half nichts,
der Bus würde nicht warten und ich wollte zurück auf die Hauptroute zu meinem
nächsten Ziel.
Der Bus spuckte mich aus in Slovenská Ves, einem Dorf an der Straße 542 von Spišská Stará Ves nach Kežmarok.
Die nächsten 8 Kilometer lief ich auf der Straße. Hinter Výborná konnte ich die
Tatra zum ersten Mal sehen, blaue Berge - sie gehörten zur Weißen Tatra -
versteckten sich in grauen Wolkenbetten. Tatranská Kotlina/Höhlenhain das waren
aneinandergereihte Villen, Kur- und Ferienhäuser für asthmakranke Greise. Ich
fühlte mich ziemlich unwohl, alles sah so gestellt aus wie in einem schlechten
Heimatfilm. Das einzig Interessante war ein Wegweiser: „Chata Plesnivec 2 h,
Chata Pri Zelenom 4 h“. Es war Viertel vor zwei, ich überlegte nicht lang,
schnappte meinen Rucksack und begann mit dem Aufstieg. Vor der Pelsnivec Hütte
hockte ein ziemlich frustrierter Ire, mit einem Rucksack fast so groß wie meiner.
Er war der erste Wanderer, dem ich begegnete.
„Keiner spricht Englisch, Deutsch verstehen die meisten, aber Englisch kaum
jemand. Muss mich immer mit Händen und Füßen verständigen.“ klagte er mir sein
Leid. Ich kaufte zwei Bier und tröstete den armen Kerl. Er wollte ein paar
Touren in der Weißen Tatra machen. Er holte seine Karte aus dem Rucksack. Sein
Finger huschte über rote und blaue Linien, braune und grüne Flächen. „Die haben
ein paar Wege für Touristen geöffnet.“ Früher war das Gebiet für Touristen
gesperrt. „Will mich nur mal umschauen, hab nicht viel Zeit. Will noch ins
Slowakische Paradies. Kennst du es?“ Ich hatte vom Slovenský Raj gehört, Petra
hatte mir einen Bildband gezeigt. Doch es wäre für mich ein zu großer Umweg
gewesen. Ich verabschiedete mich vom Iren und setzte meinen Aufstieg fort.
Durch Wald und Latschenkiefern - ich mochte diese kleinen widerspenstigen Büsche
nicht, verhakelten sich deren Äste doch jedes Mal am Rucksack - gelangte ich zum
„Großen Weißen See“. Laut Karte gab es hier Seen in allen Farben: schwarze, rote,
grüne. Mein See war zwar nicht weiß, dafür hatte ich von ihm aus einen grandiosen
Panoramablick auf den Hauptkamm der Hohen Tatra. Ich trödelte herum, rannte mit
Stativ und Kamera mal hier mal dorthin und erreichte die Chata pri Zelenom plese
(Hütte neben dem Grünen See) pünktlich zum Abendessen. Es gab Krautsuppe und
Gulasch.
„Haben Sie einen Schlafsack?“ Dass ich kein Halbschuhtourist war, hätte die
Hüttenchefin eigentlich sehen müssen. „Dann macht es 190 Kronen“, sagte sie.
Ich bekam ein Zimmer mit vier Betten und zwei weiteren Wanderern.
Das jaulende, heulende Geräusch, was mich am nächsten Morgen weckte, kannte ich.
Sturmböen tobten die Hänge herunter, Wolkenfetzen jagten über den Grünen See - er
war tatsächlich grün. Ich wollte über das Ratzenbergjoch zum Steinbachsee. Zum
ersten Mal auf meiner Wanderung würde ich 2000 Meter erreichen. Ich lief los und
fast gegen ein Schild. „Der Wanderweg ist aus Naturschutzgründen bis zum 30. 06.
gesperrt“, stand dort - heute war der 12. Juni. Ich fühlte mich wie ins kalte
Wasser geworfen. Nach all den Hügeln, die ich überquerte, befand ich mich in der
Hohen Tatra das erste Mal zwischen echten Bergen, und jetzt das! Sollte ich
einfach weitergehen?
Ich ging nicht weiter. Zähneknirschend drehte ich um, und überlegte wen ich wohl
jetzt stören würde, den ich am 1. Juli nicht mehr stören würde. Dabei rannte ich
fast gegen einen Geländewagen, der, vollgestopft mit Touristen, rauf zur Hütte
wollte. Warum die nicht laufen konnten, fragte ich mich. Wohl auch wegen dem
Naturschutz. Darüber grübelnd, ob es nicht besser wäre, alle Hütten zu schließen
und dafür alle Wege zu öffnen, kämpfte ich mich auf Umwegen zum Steinbachsee.
Der Weg kam aus Tatralomnitz und hatte eine blaue Markierung. Am See wimmelte es
wie auf einem Jahrmarkt. Dicke Frauen, plärrende Kinder und Anzugtouristen spuckte
eine Seilbahngondel nach der anderen aus. Ich setzte meinen Rucksack neben einem
Typen ab, der wie gebannt durch sein Fernglas in den Nebel starrte. Den Gipfel
des zweithöchsten Bergs der Tatra, die Lomnitzer Spitze (2632 m) konnte er aber
auch nicht sehen. Ein Regenschauer verzögerte mein Vorhaben zur Zamkovského chata
abzusteigen um eineinhalb Stunden. Dort erfuhr ich die niederschmetternde Nachricht,
dass alle Höhenwege in der Hohen und Westlichen Tatra erst ab Juli zugänglich sind.
Das hieß, ab durchs Erdgeschoß und verzichten auf den höchsten Gipfel der Karpaten
- die 2655 m hohe Gerlsdorfer Spitze.
„Erst ab Juli, nur mit einem Bergführer und mindestens 4 Personen.“ erklärte mir
die Dame hinter der Rezeption des Berghotels „Sliezský dom“, als ich sie nach dem
Weg zum Gipfel fragte. Dass der Bergführer 300 Kronen kosten würde, interessierte
mich schon gar nicht mehr. Erst ab Juli ... und 4 Personen, geisterte es mir durch
den Kopf. Sollte ich mit 'nem Schild um den Hals durch die Tatra rennen: „ M 33,
tageslichttauglich, sucht zum 1.7. drei Wander(er)innen zur 99er Sommer-Erstbesteigung
der Gerlsdorfer Spitze. Bei Interesse schreiben sie an Chiffre A2655.“
Immerhin erklomm ich auf meinem Weg zur Popperseehütte doch noch die 2000-Meter-Marke,
wurde vom Nachmittagsgewitter gründlich eingeweicht und stolperte über ein Zelt,
mitten auf dem Wanderweg. War Zelten in der Hohen Tatra nicht verboten?
Auch die Popperseehütte hatte mit meiner Vorstellung von einer klassischen Berghütte
eigentlich nichts gemeinsam. Der slowakische Name „Horský Hotel“ war treffender.
Auf der Terrasse des Berghotels hockten bereits drei Gestalten, ebenfalls nass bis
auf die Haut. Vor ihnen fauchte ein Benzinkocher mit aufgesetztem Teetopf. Die Drei
kamen aus Polen. Sie wollten noch mit dem Bus nach Dolný Smokovec auf den
Campingplatz. Wir tranken einen Tee, danach musste auch ich mir langsam über einen
Schlafplatz Gedanken machen. Ich betrat die „Hütte“. „Sie wollen also ein Zimmer?“
fragte die Hotelangestellte. Ihr Blick scannte mich von oben nach unten ab.
„Wissen Sie, was das kostet?“ Ich wusste es natürlich nicht, würde es aber sicher
sofort erfahren. „490 Kronen!“ Wow, das war schon gewaltig, da hätte ich auf den
anderen Hütten zweimal schlafen können.
Ob sie etwas gegen mich persönlich oder gegen Gäste im Allgemeinen hatte, war mir
nicht ganz klar. Klar war jedoch, dass sie mich wie den letzten Penner behandelte.
Der nächste Campingplatz ist in Tatranská Štrba.
Als ich endlich ein Stück Wiese ohne Ameisen gefunden hatte, baute ich mein Zelt
auf. Von hier wollte ich morgen über Štrbské Pleso zur Zapadné Tatry.
Am zweitgrößten See der Tatra, dem Štrbské Pleso, stellten die
Imbissverkäufer gerade die Sonnenschirme raus. Der Ort selbst ist eine Ansammlung
von Hotels und somit nicht dazu geeignet, länger zu verweilen. Der rot markierte
Weg verschwand hinter den letzten Häusern sofort im Wald, ich fühlte mich wieder
wohler, schimpfte noch ein wenig mit meinem Rucksack, doch das legte sich.
Kurz vor Podbanske lief ich wieder einem Sternchenträger in die Arme: „Ihren Pass
bitte. Woher kommen Sie? Und wo wollen Sie hin? Sie dürfen nicht über die Grenze,
wissen Sie das?“ Ich glaube der hatte nur lange Weile.
Lange Weile hatten auch die Hunde vor einer Sennstation oberhalb des Rackova Tals.
Schon von Weitem sah ich sie vor dem Schafpferch lümmeln. Erst jetzt wurde mir
bewusst, dass ich auf der gesamten Strecke ab der ukrainischen Grenze noch keinem
Hirten begegnete. Der Pferch war leer, der Hirte musste mit seinen Schafen demnach
auf der Weide sein. Nicht gut für mich. Ich tastete nach meinem Hundeabwehrgerät
im Deckelfach des Rucksacks. Ich hatte es zu Hause in einem Jagdgeschäft bekommen.
Wenn ich auf eine Taste drücke, sendet das Teil einen Ton, den Menschen nicht hören.
Für Hunde soll es jedoch recht unangenehm sein, sodass sie sich in der Regel trollen.
So etwas wie in Rumänien sollte mir nicht mehr widerfahren, das hatte ich mir geschworen.
Hochgerüstet näherte ich mich dem Feind. Irgendetwas stimmte nicht. Ich hörte die
Meute toben und wüten, doch ich wurde nicht attackiert. Waren die Hunde hier besser
dressiert? Nach ein paar Metern wusste ich warum. Die Hunde waren angebunden. Rings
um den Schafpferch hatte der Hirte Pflöcke in die Erde gerammt. Zu jedem Pflock
gehörte ein Hund. Die Kette war lang genug, um den Nachbarhund zu erreichen. Somit
waren die Schafe perfekt geschützt und die Hunde konnten sich auch nicht aus dem
Staub machen.
Immerhin ist es in Rumänien schon vorgekommen, dass sich ein Wolfsrudel aufteilte.
Ein Wolf lockte die Hunde an, der Rest beschäftigte sich mit den Schafen. Hier
war das ausgeschlossen. Ich steckte meinen Hundeschreck wieder ein, gab der Meute
ein deutliches Zeichen mit dem Finger und lief weiter.
Gegen 19:00 Uhr entdeckte ich einen Campingplatz, der auf meiner Karte fehlte.
„Sie können ihr Zelt aufbauen, wo sie wollen.“ sagte eine ältere Dame. Sie musste
mit ihrem Mann eben vom Pilzesuchen zurück sein. Auf einem Campingtisch
stapelten sich Steinpilze, Maronen, Rotkappen und andere, die ich nicht kannte.
„Der Zeltplatz ist offiziell noch geschlossen. Wenn jemand kommt, müssen Sie halt
zahlen.“ Außer einem heftigen Gewitterschauer kam niemand.
Bevor ich zu meinem nächsten Abschnitt, dem Chočgebirge aufbrach, musste
ich noch mal Proviant kaufen. Ich fuhr nach Liptovský Mikuláš, die Stadt,
wo Juraj Jánošík, der slowakische Robin Hood hingerichtet wurde. Juraj,
geb. 1688 in Terchová, einem Dorf am Fuße der Malá Fatra, musste als Junge mit
ansehen, wie sein Vater von den Bütteln des hiesigen Feudalherrn erschlagen wurde.
Er ging in die Berge, schloss sich Räubern an und wurde später selbst Führer
einer Räuberbande. Zu seinen Opfern zählten reiche Grundbesitzer und Adlige. Er
beraubte sie und verteilte die Beute unter die Armen. Als man ihn ergriff, war er
25 Jahre alt. An einem Haken, der ihm durch die Rippen gebohrt wurde, hing man
ihn auf dem Marktplatz von Liptovský Mikuláš auf. Er gehört heute zu den
slowakischen Volkshelden. Die Stadt in der auch George wohnt liegt zwischen
Westlicher und Niederer Tatra, hinter ihr der Stausee - Liptauer Meer.
Ich hamsterte Nudeln, Tütensuppen, Tee und Kekse, ärgerte mich über den Anstieg
des Rucksackgewichts und schlenderte, einen Mohrenkopf kauend, zum Busbahnhof. Der
Ort, der dem Chočgebirge am nächsten liegt heißt Liptovský Michal. Ich
hatte wenig Lust auf der Straße den ganzen Stausee abzuwandern. So hielt ich
Ausschau nach einem freien Plätzchen auf einer der Bänke am Busbahnhof. Ich kam
neben einem Herrn zu sitzen, dessen Anzug so grau war wie seine Haare.
„Du bist aus Deutschland?“ fragte er. „Weist du, hier leben viel zu viel Zigeuner.
Familien haben 10 Kinder oder noch mehr. Die kriegen vom Staat 20 000 Kronen im
Monat für jedes Kind. Die brauchen nicht zu arbeiten. Und die Politiker? Die
debattieren und debattieren, aber keiner sagt denen, dass die weniger Kinder
machen sollen.“
Als ich in den Bus stieg, kam eine Gruppe Straßenfeger aus dem Bahnhofsgebäude - Zigeuner.
Es nieselte am nächsten Morgen. Ich hatte es noch bis Lúčky-kúpele
geschafft, ein Kur- und Ferienort am Fuße des Chočgebirges. Da es nicht
aufhören wollte zu nieseln, packte ich schließlich doch und lief weiter.
Ich folgte die nächsten drei Stunden einem Pfad, der, wie es schien aus
Schmierseife bestand. Trotz meiner Stöcke, die ich pausenlos zum Einsatz brachte,
fand ich keinen Halt. Noch lästiger war ein Schwarm Fliegen, die mir ständig im
Nacken hingen und nur darauf lauerten, dass ich mal stehen lieb. Erst als ich
den Kamm erreichte, wo der Wind wehte, ließen mich die Biester in Ruhe.
1607 m misst der Velky Choč, höchster Berg des Gebirges. Auf einer
Eisenplatte las ich die Namen der umliegenden Gebirge, die ich hätte sehen können.
„Hohe Tatra, Niedere Tatra, Malá Fatra“, stand dort geschrieben. Was ich im
Moment sah, waren die nächsten Latschenkiefern, die nur darauf warteten mich
einzuweichen wie ein Stück schmutziger Wäsche. Der blaue Kolbenenzian zwischen
den nassen Grasbüscheln brachte etwas Abwechslung in den ansonsten eintönig
bewachsenen Kamm des Choč.
Der Abstieg nach Dolný Kubín dauerte 4 Stunden. Es regnete den ganzen Weg. Die
einzige Attraktion des Ortes ist eine überdachte Holzbrücke über den Fluss Orava.
Unter dem Dach gab es lauter kleine Ramschläden. Ich kaufte Brot, Wurst, Bier und
überlagerte Schokolade. Packte meine Stöcke in den Rucksack und holte die Karte
raus. Meine Karte, inzwischen völlig aufgeweicht, ähnelte nur noch einem bunten
Lappen. Morgen würde ich zum Gebirgszug Kubínska Hoľa aufsteigen und zum
zweiten Mal auf einen Fernwanderweg gelangen, dem E 3 „Schwarzes Meer - Iberische
Halbinsel“. Ich würde ihm bis in die Malá Fatra folgen.
Drei Meter hohe Holzpfähle markierten den E3. Sie endeten an einem Berg der
ebenfalls Minčol hieß, wie der Gipfel im Čergov. Die Berge waren
im Winter ein beliebtes Skigebiet. Der Abstieg nach Zázrivá war wieder feucht.
Es regnete nicht, aber die Fichtenzweige speicherten das Wasser der letzten Tage
wie Schwämme. Auf dem ersten Stück Wiese setzte ich den Rucksack ab, und legte
mich in die Mitte des Weges. Als ich wach wurde, stand die Sonne schon fast im
Westen. Ich folgte ihr und erreichte das Dorf, aus dem Musik ertönte.
Lautsprecher, an jedem zweiten Strommasten, beschallten die Dorfstraße. Ich
fühlte mich wie auf 'nem Rummelplatz. Schon in mehreren Dörfern hatte ich die
Lautsprecher an den Strommasten gesehen, konnte mir jedoch nicht erklären, wozu
sie gut waren.
Hinter dem Ort begann der Nationalpark Malá Fatra. Laut Karte sollte es am Ende
des Dorfes eine Hütte geben. Die Hütte gab es jedoch nicht. Das heißt gab es doch,
nur fehlten die Fensterscheiben und vor die Eingangstür hatte man ein Brett
genagelt. Somit betrat ich den Nationalpark, um ein zweites Mal zu freveln.
Der Waag spaltet die Malá (Kleine) Fatra in zwei Teile, die Krivánská Fatra und
die Lúčanská Fatra. Beide Gebirgsteile erhielten ihren Namen von dem
jeweils höchsten Berg in diesem Gebiet. Veľká lúka (1476 m) bzw.
Veľký Kriváň (1709 m). Nationalpark ist lediglich der östliche
Teil, die Krivánská Fatra.
Die Bestimmungen in der Malá Fatra ähnelten denen in der Tatra, zelten war
verboten. Ich zog die Heringe aus dem Boden und stopfte ein nasses Bündel in den
Rucksack. Über den Hauptkamm wollte ich heute bis zur Chata na Grúni. Es machte
mir Spaß durch die Fatra zu laufen. Der Charakter war nicht alpin, auch wenn
sich hin und wieder Felswände aus den Grasbuckeln streckten. Dort blühten Enzian,
Alpenastern und Teufelskralle.
Aus den Tälern zogen Wolken rauf. Bald versteckten sich die Berge hinter ihnen,
bald schauten sie wieder neugierig auf mich herab. Dummerweise lag die Hütte rund
650 m unter mir. Das bedeutete, morgen würde der Kamm auch 650 m über mir liegen.
Im Făgăraș war das ähnlich, doch dort konnte ich mein Zelt aufbauen. Hier ging
das nicht, wollte ich mir keinen Ärger einhandeln. Ich rutschte und stolperte
also nach unten, für Morgen würde sich schon eine Lösung finden.
Ich fand sie in Form des Sessellifts zwischen Vrátna Hütte und Snilov Sattel,
unterhalb des Veľký Kriváň. Erleichtert um 70 Kronen, setzte ich
mich unter den höchsten Fatra-Gipfel und aß meine letzten Nüsse. Am Horizont
ballten sich Wolkenberge zusammen. Sie waren noch weit, ich brauchte nicht zu
hetzen. Trotzdem rappelte ich mich auf, bis zur Suchý-Hütte war es auch noch
ein Stück. Ich brauchte 7 Stunden.
„Sie haben Schlafsack? Dann es kostet 90 Kronen.“ sagte die Hüttenwirtin, eine
gemütliche freundliche Dame mittleren Alters. Es war mit Abstand meine billigste
Unterkunft. Wir gingen eine steile Treppe nach oben zu den Schlafräumen.
„Wenn jemand kommt, er muss schlafen mit auf Zimmer. Sonst sie sind allein.“
Mir war es egal, ob noch jemand kam. Nicht egal war es, ob ich was zum Essen
bekommen würde. Seit meiner Rast am Kriváň, hatte ich nichts mehr zu
beißen. Um das leibliche Wohl ihrer Gäste war die Wirtin sehr besorgt.
„Essen ist meeglich. Ich kann kochen Eiern, Käse oder Wursten, lang mit ...,
ich weiß nicht auf Deutsch, ist auch egal. Zum Trinken wir haben Pilsner, Martin,
Šariš oder Dunkles, das haben wir auch.“ Ich bestellte Rührei mit
Schinken und Kartoffeln. Zum Nachtisch genehmigte ich mir ein Schwarzbier. Als
ich mich in meinen Schlafsack rollte, prasselten die ersten Regentropfen an die
Fensterscheiben. Die Schlechtwetterfront hatte mich eingeholt.
Der Sommer begann am nächsten Tag nicht schlecht - auf dem Kamm der Fatra
schneite es. Ich machte mich winterfest, steckte Plastiktüten in die Schuhe,
fummelte mich in Fleece und Goretex und marschierte los, in Richtung Waagtal.
Mauerreste lugten zwischen den Bäumen hervor. Sie gehörten einer Burg, Starý
hrad las ich auf der Karte. Im Burghof wuchsen junge Buchen, in der Mitte Reste
einer Feuerstelle jüngeren Datums. Der Fußboden zweier Nischen im Mauerwerk war
mit Zweigen ausgelegt. Jemand hatte hier übernachtet. Wohnten hier im Mittelalter
reiche Adlige, die den Maut für die Waag-Übersetzung einholten und die
Handelsstraße schützten. So sind es heute arme Wanderer, die sich das Geld für
die Hütte sparen wollten.
Die Fähre setzt immer noch bei Strečno über den Fluss. Es gibt an dieser
Stelle nur zwei Brücken, eine für die Eisenbahn und eine für Fußgänger und Radfahrer.
Strečno selbst ist ein Dorf am nördlichen Ende des Waag-Durchbruchs durch
die Malá Fatra. Auch hier stehen die Reste einer Burg aus dem 14. Jh. Da es wie
aus Eimern schüttete, rettete ich mich erst mal in den Dorfladen, um meine
Verpflegung aufzufüllen. Nebenan hatte es eine Kneipe, 12 Kronen kostete ein Bier.
Das war billig, und ich hatte auch gleich einen Gesprächspartner. Auch wenn
Palo vor lauter Wodka-Konsum nicht mehr viel auf die Reihe brachte, waren doch
noch ein paar Worte deutsch hängen geblieben. „Deutschland? Aah - Opel, Mercedes,
Hitler - Nein! Hitler nicht, Hitler Teufel! Ahoi.“
Der Weg auf den Kamm der Lúčanská Fatra schlängelte sich allmählich
bergauf, durch dichten Fichtenwald. Oben angekommen, tobten die Elemente. Schnee,
Sturm, Nebel und Regen versuchten die Oberhand zu gewinnen. Der Pfad ähnelte
einem Bachbett, bis zu den Knöcheln reichte mir das Wasser. Die Plastiktüte, die
ich über den Rucksack gebunden hatte, klebte mir vorm Gesicht. Einen Platz zum
Zelten würde ich hier oben nicht finden. Die nächste Hütte lag unterhalb des
Veľká lúka, an einer Straße, die nach Martin führte. „Chata Martinské hole“,
stand auf meiner Karte. Gegen 17:00 Uhr erreichte ich die Straße. Der Sturm hatte
inzwischen fast die Stärke eines Orkans angenommen. Die ersten Bäume lagen quer
über dem Asphalt. Rechts und links von mir knackte und krachte es, ich konnte mich
kaum noch auf den Beinen halten. Es war seltsam, je weiter ich abstieg desto stärker
tobten die Windböen. Ich begann mir ernsthaft Sorgen zu machen. Nach einer knappen
Stunde tauchten schemenhaft Häuser aus dem Nebel auf. Aber keine Hütte. Nur
verrammelte Imbissbuden und ein ebenfalls abgeschlossenes Skihotel mit Bar,
Sauna und Solarium. Ich begann jeden Skifahrer abgrundtief zu hassen. Auch hier
konnte ich kein windgeschütztes Plätzchen finden.
Weiter unten zweigte ein verwachsener Waldweg nach rechts ab. Er schmiegte sich
an einen Hang und lag somit einigermaßen im Windschatten. Ich überlegte nicht
mehr lang, sondern holte mein Zelt raus, viel Zeit bis zur Dämmerung hatte ich
nicht mehr. Alles an mir war nass. Ich schmiss meine Sachen unter die Apsis und
verkroch mich im Schlafsack. Dann holte ich den Kocher raus und kochte mir erst
mal einen Tee. Meine Knie und mein Nacken schmerzten, an den Fersen zeigten sich
Blasen. Es war definitiv nicht mein Tag. Auch der nächste Tag war nicht besser.
Der Wind legte sich zwar über Nacht, doch es war saukalt und regnete noch immer.
Ich blieb einfach liegen. Zum Glück sprudelte nicht weit vom Zelt eine Quelle
zwischen den Steinen hervor, sodass ich mir wenigstens meine Spaghetti kochen
konnte.
Ich beschloss am anderen Morgen nach Martin abzusteigen, zurück auf den Kamm
wollte ich nicht mehr. Gegen 6:30 Uhr brach ich auf. Der Weg war übersät mit
abgerissenen Ästen, später waren es abgebrochene oder entwurzelte Bäume.
Richtige Schneisen hatte der Sturm in den Wald geschlagen. Wie Mikadostäbchen
lagen die Bäume durcheinander. Zum Glück war ich vorgestern nicht weiter
gelaufen. Unten im Ort saßen die Waldarbeiter schon in den Startlöchern. Der
erste Traktor mühte sich den Berg hinauf. Sie würden eine Weile brauchen, den
Weg wieder passierbar zu machen.
Der Bus Nr. 41 nahm mich mit ins Zentrum von Martin. Die Stadt gilt als geistige
Wiege der Slowakei. 1861 wurde hier ein Memorandum verfasst, das einen
slowakischen Distrikt innerhalb Ungarns forderte. Der nächste Ort, wo ich ohne
größere Umwege zurück ins Gebirge kam, hieß Kláštor. Dort würde ich im
Vrícke sedlo wieder auf den E8 treffen, den ich damals im Čergov Gebirge
verlassen hatte. Der Weg kam vom Slowakischen Paradies und der Niederen Tatra.
Zwei Gebirge, die ich sicherlich ein anderes Mal besuchen werde. Bis auf kleinere
Korrekturen sollte mich das rote Band des E8 ab jetzt bis Bratislava führen.
Jedoch das tat es nicht. Das einzig Rote waren nach einer halben Stunde nur noch
die Walderdbeeren zwischen den Grasbüscheln.
Schimpf - Rucksack vom Rücken! Wühl - dort? Nein! Wo steckt das Mistding? Nach
10 Minuten lief ich weiter, den Kompass vor der Nasenspitze. Ich trottete über
Wiesen der Abendsonne und meinem nächsten Gebirge entgegen.
Hinter dem Fačkovské sedlo folgte ich den stählernen Masten eines Skilifts
auf den Kamm und fand mich dort in stachligen Hagebuttensträuchern wieder. Wie
frisch gepierct erreichte ich Čičmany.
Interessant waren in dem Dorf die bemalten Holzhäuser. Einige Häuser waren weiß
gestrichen und über und über mit Ornamenten verziert. Ich konnte diese Art der
Malerei nirgends sonst entdecken. Hinter dem Dorf geht es zum Strážov
(1213 m), dem das Gebirge seinen Namen verdankt. Bremsen stachen, Schweiß rann,
Knie schmerzten und Atem keuchte - die Sicht von dort oben war beeindruckend.
Ich konnte mich einfach nicht von meiner Kamera losreißen. Knipste hier, stellte
das Stativ dorthin. Die Sonne kroch immer tiefer, schließlich war sie
verschwunden, nur ein roter Streifen markierte die Stelle am Horizont, wo sie
noch vor wenigen Augenblicken leuchtete.
Noch im Morgengrauen packte ich meinen Rucksack und verließ das Naturreservat.
Füllte an der ersten Quelle meine Trinkflasche und grüßte freundlich den vom Dorf
kommenden Oberförster. Eigentlich hätte ich ein schlechtes Gewissen haben sollen.
Doch da ich weder Schokoladenpapier, Bonbontüten noch Monatsbinden in die
Landschaft schmiss, setzte ich meinen Weg beruhigt fort. In Kopec kam ich wieder
zum Stehen. Die Dorfkneipe befand sich in einer Garage. Über einem Stapel
leerer Bierkisten warb Milka in lila Farbtönen. Der Kanonenofen neben der Theke
wirkte etwas unsicher. Draußen, unter einem Sonnenschirm, den die
„Staroprameň“-Brauerei spendiert hatte, hockte bereits eine Gruppe
Kampftrinker. Dem Aussehen nach, genauso alt, wie das Bier was sie tranken.
Leider hatte ich kaum Gelegenheit mich dazuzuhocken, die Kneipe schloss vor
meiner Nase.
Etwas missgelaunt trabte ich weiter. Auf dem Vápeč, einem Kalkfelsen,
kurz vor einem Dorf das Horná Poruba hieß, hielt ich Ausschau nach einem
Schlafplatz. Ich fand ihn zwischen Farnwedeln auf der anderen Seite des Ortes.
Der Weg nach Trenčianske Teplice war anders. Bäume, mächtig, wie
Fossilien aus vergangenen Zeiten. Manche lagen sterbend auf dem laubbedeckten
Boden. Abgebrochene Äste, über die Blätter huschten Lichtreflexe. Armdicke
Lianen wanden sich an zerfurchten Stämmen empor. Zwischendrin undurchdringliches
Brombeergestrüpp - ein Märchenwald. Der Boden unter dem Laub war weich, meine
Stiefel schmatzten bei jedem Schritt. Ich hätte stundenlang weiterlaufen können.
Der kleine Kurort Trenčianske Teplice war nicht mehr weit, und schon
joggten und biketen die ersten Fitness-Anbeter über den Weg. Zwischen den Tennis-
und Minigolfplätzen wirkte ich etwas exotisch. Dunkle Typen mit Spiegelbrillen
hockten in chromblitzenden Geländewagen. Rentnerpärchen promenierten zwischen den
Grünanlagen. Deutsche und englische Wortfetzen streiften meine Ohren. Immerhin
gab es genügend Restaurants, um mal wieder was Vernünftiges zwischen die Zähne
zu bekommen.
Ich bestellte Trenčiansker Spezialität, was auch immer sich dahinter
verbarg. Die Kellnerin schlug die Beilagenseite der Speisekarte auf. Aha, Gemüse
lief also extra, dachte ich mir. Die Dame machte eine schnippische Bemerkung und
verschwand. Hatte ich etwas falsch gemacht? Eine dreiviertel Stunde verging,
unruhig zappelte ich auf meinem Stuhl hin und her. Endlich war ich an der Reihe.
Das Stück Fleisch und das Gemüse wirkten auf dem Teller etwas verloren. Es fehlten
Kartoffeln oder Pommes - ich hätte sie auch separat bestellen müssen. Anstatt
einem naiven Wanderer darauf hinzuweisen, hatte sich die Frau über mich lustig
gemacht. Ich revanchierte mich selbstverständlich beim Bezahlen, in dem ich ihr
keinen Heller Trinkgeld gab, was sie wiederum nicht lustig fand.
Kubrá, ein Vorort von Trenčín, ist bekannt durch seine Mineralwasserquelle.
Dort ging es zu, wie bei 'nem Computerangebot von Aldi. Mit leeren Flaschen
drängelten sich die Leute vor dem begehrten Nass. Kistenweise verschwand das
Wasser im Kofferraum der Skodas, oder wurde auf Moped- und Fahrradgepäckträger
gebunden.
„12 Kronen“, brummelte der Fahrer von Bus Nr.11. Ich wollte eigentlich in der
Nähe der Quelle zelten, doch hier war eindeutig zu viel Betrieb. Immerhin gab es
einen Campingplatz in Trenčín. Auf einer Insel mitten im Waag standen
Wohnmobile aus Holland, Deutschland, Tschechien und der Slowakei. Vor kleinen
Hütten hockten dicke weiße Bäuche mit Bierflaschen in der Hand. Zelte gab es
kaum. Im Wasser des Flusses spiegelte sich die Trenčíner Burg, angestrahlt
von der untergehenden Sonne. Bereits im Jahre 179 befand sich an dieser Stelle
Laugaricio, ein Militärlager der Römer. Eine Inschrift im Fels unterhalb der
Burg verweist auf den Sieg der 2. Legion über die Quaden.
Nachdem ich der Dame an der Rezeption erklärt hatte, weshalb meine Schuhe so
dreckig waren, mietete ich ein Häuschen für zwei Nächte. Weshalb ich in
Trenčín einen Ruhetag einlegte, hatte in erster Linie praktische Gründe.
Ich brauchte Geld. Wieder und wieder zählte die Bankangestellte meine
zerknautschten Dollarscheine, hielt sie gegen eine blaue Lampe. Sie traute mir
nicht. Genauso wie die Verkäuferin im Lebensmittelladen. Entweder überlegte ich
zu lange oder meine Nase passte ihr nicht. Nach fast 5 Wochen Karpaten hatte
ich nun mal verbrannte Ohren, aufgesprungene Lippen, Vollbart und keine Dauerwelle
mehr. Ich wartete, bis sie sich ausgezetert hatte, und zeigte weiter auf die Dinge,
die ich haben wollte.
Mit einem Handschlag verabschiedete ich mich am nächsten Morgen beim Nachtwächter
des Campingplatzes. Die letzte Etappe stand mir bevor. Die Berge westlich der Stadt
Nové Mesto gehören nicht nur zu den Karpaten, sie nennen sich auch so - Malé Karpaty.
Eine bleiche Schotterstraße verschwand unter einem grünen Blätterdach. Im Wald
war es nicht so heiß, besonders dann, wenn der Pfad einem Bach folgte. Der
Jablonka führte lehmgraues Wasser, die Bäume über ihm bildeten eine Art Spalier,
Schlangen verschwanden im Geäst. Ich fühlte mich wie am Oberlauf des Amazonas.
Nur schmückten das Ufer dort sicher keine Reinigungsmittelflaschen, Plastiktüten
oder alte Stühle.
In Višňové trat ich wieder ans Licht und blickte auf ein Relikt
aus dem finstersten Mittelalter. Unter der Burgruine von Čachtice bewegten
sich violette Mohnblüten im Wind. Ein steiler, staubiger Weg mäandert den Hang
hinauf. Für viele Mädchen war es vor etwa 400 Jahren ein Weg ohne Rückkehr.
Elisabeth Báthory, (1560 in Nyírbátor/Ungarn geboren) Nichte des polnischen
Königs Stefan Báthory. Schon mit 12 Jahren wurde sie Herrin auf der Burg
Čachtice, als Verlobte von František Nádašdy, ihrem späteren
Ehemann. Als Soldat musste Nádašdy öfters in den Krieg gegen den Sultan.
Alleingelassen konnte seine Gemahlin ihrer lesbisch-sadistischen Veranlagung
freien Lauf lassen. Ihre Bediensteten lockten die Mädchen der umliegenden Dörfer
auf die Burg, wo sie die Báthory bereits erwartete. Die Kleider wurden den
Frauen vom Leib gerissen. Nackt kauerten die Mädchen bei Schnee und Eis im
Innern des Burghofs und harrten ihrem Schicksal. Die Gräfin stürzte sich auf
ihre Opfer, verhöhnte sie. Sie soll die Mädchen geschlagen, gepeitscht, gebissen
und gekratzt haben. Dem Wahn verfallen, dass Blut ihre Haut verjüngen würde,
wälzte sie sich im Blut ihrer Opfer. Niemand konnte etwas unternehmen, welchen
Adligen kümmerten auch die Probleme der Bauern. Als Elisabeth später nur noch
Mädchen aus aristokratischen Familien für ihre Machenschaften bevorzugte, änderte
sich die Situation schlagartig. Georg Thurzo und Mitglieder der eigenen Familie
stürmten im Jahre 1610 die Burg. Elisabeth Báthory wurde auf Čachtice
eingekerkert, ihre Helfer in einem Schnellverfahren verurteilt und verbrannt.
Die „Blutgräfin“ starb, dem Wahnsinn verfallen, 1614 in ihrem Verlies. Ihr
Ehemann war bereits 1604 gestorben, als Mitwisser über die Gräueltaten seiner
Gemahlin. Mindestens 80 Mädchen fanden auf Čachtice ein grausiges Ende,
manche Quellen berichten sogar von mehr als 600. 1708 wurde die Burg von
Soldaten Franz II. Rákoczi zerstört, doch selbst heute noch scheint der Geist
der Báthory in der verwunschenen Ruine nach Opfern Ausschau zu halten. Eine
einstürzende Mauer tötete eine Studentin.
Mittlerweile stützen Balken das marode Mauerwerk. Ich kletterte ein wenig
zwischen den Torbögen und Mauerresten herum. Mich wunderte, dass niemand am
Eingangstor hockte und Eintritt kassierte, so wie ich es von anderen Burgen her
gewohnt war. Auch stören keine Imbiss- und Kramläden auf dem Burghof das
geschichtsschwangere Flair dieses Ortes. Ich hätte jetzt dem E8 in die Weißen
Karpaten folgen können, doch das wäre ein Umweg von mehreren Tagen. So blieb
ich auf dem Kamm der Kleinen Karpaten und würde bei dem Dorf Dobrá Voda wieder
auf den E8 stoßen. Mein Wasservorrat näherte sich dem Ende und ich stieg zu
einem Dorf ab, das Šipkové hieß. Der Dorfladen hatte seit 12:30 Uhr
geschlossen. Dafür regte sich etwas in der Kneipe. Vor dem Eingang hockten zwei
Typen vor ihren Biergläsern. Ich grüßte - keine Antwort. Innen war es kühl und
leer. Ich kaufte 5 Bier und füllte meine Trinkflasche. Einer der Typen fragte
mich etwas - keine Antwort. Ich schnappte meine Flasche und lief in Richtung
Dorfende, die zwei schauten mir noch 'ne Weile dumm hinterher.
Ein Opa mit 'nem roten Fahrrad, Marke „Lady“ hatte den gleichen Weg. Ich machte
gerade Pause, als er mit seinem Drahtesel den Pfad heraufholperte. „Deutschland?
Meine Söhne arbeiten dort.“ sagte er. „Die letzten Deutschen, die ich gesehen
habe waren Offiziere - 44 war das. Waren immer adrett gekleidet.“
Die mussten ja auch nicht 1000 Kilometer durch die Karpaten latschen, dachte
ich mir. „Mein Vater ist 102 Jahre alt geworden“, erzählte mir der Opi stolz.
Dann zeigte er mir Kirschbäume, an denen tatsächlich Kirschen über Kirschen
hingen. Leider hingen sie zu hoch. Die wenigen, die ich erwischte, waren madig.
In Dobrá Voda lernte ich Ervi kennen. Ervi war Boxer und im Dorf kannte ihn jeder,
weil er derjenige war, den man zu jeder Zeit in der Kneipe antraf, obwohl ihn mit
Sicherheit nie jemand suchte. „Meine Kamerad alles gut?“ Ich musste mich setzen
und Ervi spendierte mir ein Bier.
Seine Bemerkungen kamen schluckweise. „Deutschland gut, ... war in Halle, ...
Bier ...ja, ...schöne Mädchen, ...Katzen? ...alles gut.“ Sein Glas ist leer,
meines noch nicht.
„Hast du Probleme?“ Er griff nach meiner Hand, um dort meine Probleme zu entdecken.
Im Moment hatte ich nur ein Problem. Ich wollte weiter und konnte noch nicht.
„Wie heißt deutscher Boxer? ...Schulz?“ „Wohin gehst du?“
Ich ging noch fast bis
Bukova, in der Mitte einer verwilderten Forststraße baute ich mein Zelt auf.
Forststraßen, die im Winter als Skipisten dienten, bildeten den Großteil der
Wanderwege in den Kleinen Karpaten. Abstecher in Dörfer, um meinen Proviant
aufzufüllen, zwangen mich ständig zu Umwegen. Da es in den Läden keine Powerriegel
und Trekker-Mahlzeiten gab, blieb mir nichts weiter übrig, Dinge wie Brot,
Tomaten, Äpfel und Marmelade zu kaufen.
Warum ich beschloss, über Modra zu laufen hatte einen anderen Grund. „...besitzt
den besten Rot- und Weißwein der Slowakei.“ stand in meinem Reiseführer. Außerdem
konnte ich mir noch Červený Kameň (Roter Stein) anschauen, eine
restaurierte Burg aus dem Jahre 1230, südlich von Častá. Anton Fugger,
ein Augsburger Handelsherr, ließ die Burg 1535 zu einer Festung ausbauen.
Die Burg war noch geschlossen, als ich am nächsten Morgen dort ankam. Vor dem
Eingang postierte sich ein tarnfarbengekleideter Wichtigtuer. Seine Sonnenbrille
und die Pistole am Gürtel beeindruckten mich nicht so sehr, die Tatsache noch
eine Stunde warten zu müssen, war dagegen lästig. Ich wartete nicht, kaufte mir
in Častá eine Limo, die nach Bonbon schmeckte und trampte nach Modra.
Doch auch hier war mir das Glück nicht holt. Das Hotel war belegt und eine Pension,
die mir die Dame in der Touristeninformation vermitteln wollte, hätte 950 Kronen
gekostet. Sollte der Wein an den Rebstöcken gedeihen. Ich stürzte mich wieder in
den Wald und in die Saugrüssel lästiger Moskitoschwärme. Die Biester waren
schlimmer als Dracula – warteten nicht erst auf eine Einladung und saugten einem
am hellerlichten Tag das Blut aus den Adern. Zum Glück wurde es auf dem Hauptkamm
etwas besser. Wenige Meter hinter der Bergstraße Svätý Jur - Lozorno erblickte
ich einen Unterstand. Die überdachten Bänke luden müde Autofahrer zu einer Rast
ein. Ich konnte darunter meinen Schlafsack ausrollen. Morgen würde ich von den
Karpaten Abschied nehmen.
Ich verließ meinen Schlafplatz, noch bevor die Sonne ihren Dienst antrat und die
Moskitos erwachten. Ich konnte die Nähe von Bratislava förmlich riechen. Der Weg
war größtenteils asphaltiert. Bunt gekleidete Radfahrer grüßten mich. Bald schon
leuchtete die rot-weiße Spitze des Fernsehturms zwischen den Baumkronen hervor.
Die Bierstände öffneten gerade. Erste Ausflügler parkten ihre Autos auf dem 439 m
hohen Kamzík, Bratislavas Hausberg. Ich hockte mich vor einen der Bierstände und
ließ mein letztes „Karpatenbier“ die Kehle runterlaufen. Hier erhoben sich die
Karpaten aus dem Tal der Donau, um nach rund 1500 km sich ein zweites Mal zur
Donau herabzulassen. Ich kannte sie nun. Als ich zur Stadt abstieg, hatte ich
ein bisschen das Gefühl, gute Freunde hinter mir zu lassen. Ich erreichte die
Donau am 3. Juli 11:00 Uhr vormittags.