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Durch die Banater Berge

(Karpatentour Oktober 2005 – Rumänien)

Inhalt

  1. Anreise
  2. Ulpia Traiana Dacia Sarmizegetusa
  3. Zu den Thermen des Herkules
  4. An der Donau
  5. Durchs Almascher-Gebirge
  6. Die Nera-Klamm zu dritt
  7. Im Banater Karst
  8. Ins Semenik-Gebirge
  9. Ausklang
  10. Informationen

Die Karpaten, das sind nicht nur Berge und Menschen. Die Karpaten, das sind auch Flüsse, und einer zwängt sich gleich zweimal durch die Karpatenkette – die Donau. Im Mai dieses Jahres stand ich an ihrem Ufer, am Anfang der Karpaten zwischen den Hundsheimer Bergen in Niederösterreich und den Kleinen Karpaten in der Slowakei. Nun war es an der Zeit, das „Ende“ zu besuchen. Im Banat zwischen Rumänien und Serbien bildet die Donau ihren zweiten Karpatendurchbruch – unser Ziel für den Herbst.

1. Anreise

Ein wolkenverhangener Himmel verabschiedete mich und Helga in Karlsruhe Richtung München. In München blieben uns knapp zehn Minuten Zeit, um den Anschlusszug nach Wien zu erwischen. Wir hetzten über den Bahnsteig und drückten uns ins erstbeste freie Abteil. Schon bald schoben sich Oktoberfestbesucher durch die Tür. Der spanisch sprechenden Dame sah man schon von weitem an, dass sie das Fest so richtig genossen hatte. Die rechte Hand hielt eine Bierdose, die andere war damit beschäftigt, ihre Digitalkamera aus der Fototasche zu befreien, um anschließend ihre Mitreisenden abzulichten. Wir gehörten offensichtlich in die Rubrik „Exotisch“ und wurden dementsprechend nacheinander auf den Chip gebannt. Pünktlich um 19:50 Uhr erreichten wir Wien. Der Zug nach Bukarest stand schon bereit, hatte aber wie üblich Verspätung, als er sich in Bewegung setzte. Wir hatten diesmal die Plätze unterm Dach erwischt. Helga kämpfte mit ihrem Bettzeug. Der Liegewagenschaffner gab uns Verhaltensregeln für eine sichere Nachtruhe: „Bitte verriegeln Sie die Tür und stellen Sie die Leiter davor. Und bitte kein Handgepäck ans Kopfende bei der Tür legen“, empfahl er uns. Letzte Woche habe es Probleme mit Dieben gegeben. Wer zum ersten Mal nach Rumänien fuhr, der musste bei dieser Ankündigung Alpträume bekommen, dachte ich mir.
Doch sowohl wir als auch unsere Siebensachen erreichten unbeschadet am nächsten Morgen Deva.
Răzvan, mein rumänischer Freund, wartete schon auf dem Bahnsteig. Wir stiegen in seinen neuen Dacia. „Nur 3 Jahre alt“, berichtete er stolz. Er wollte uns die ersten 3 Tage durchs Banat begleiten. Doch jetzt waren erst einmal Frühstück und Țuică – Pflaumenschnaps – angesagt. Anschließend versorgten wir uns am Geldautomaten mit dem nötigen Kleingeld und waren wieder für kurze Zeit Millionäre. Wahrscheinlich zum letzten Mal, denn seit diesem Jahr ist neues Geld in Rumänien im Umlauf. Man hatte die Inflation der Nullen pragmatisch gelöst, hatte einfach die letzten 4 Nullen gestrichen und die Währung auf die Art etwas übersichtlicher gemacht. Lediglich die 500 Lei Banknote war neu und das Hartgeld sah komplett anders aus. Zu meinem Bedauern war auch die Sphinx, ein Felsen im Bucegi Gebirge, welche den 50 000-Lei-Schein schmückte, verschwunden. Hatte das Geld doch somit die Verbindung zu den Karpaten verloren. Bis 2007 wird aber noch die alte Währung akzeptiert.
Über die Route 66 ging es erstmal nach Hațeg. Dort bogen wir nach Westen ab, Richtung Caransebeș.

2. Ulpia Traiana Dacia Sarmizegetusa

Wir waren im früheren Daker-Land. Kurz hinter Hațeg am Fuß des Țarcu-Gebirges gründete in den Jahren 108-110 n. Chr. der römische Kaiser Trajan die Hauptstadt der römischen Provinz Dakien – Ulpia Traiana Dacia Sarmizegetusa. Zuvor hatten seine Legionen in zwei verlustreichen Feldzügen die Daker vernichtend geschlagen und die alte Hauptstadt Sarmizegetusa Regia im Șureanu Gebirge bei Orăștie, dem Erdboden gleichgemacht.
Heute wachsen Mauerreste zwischen grünem Gras aus dem Boden. Zwischen den historischen Resten tummelte sich ein Hund auf der Suche nach etwas Fressbarem. Ein Pferd graste weiter hinten zwischen zwei Heuhaufen. Die UNESCO schützt den Ort, die hiesigen Bauern bewirtschaften ihn – eine gute Partnerschaft, wie ich finde. Den größten Platz nahm das Amphitheater ein. Noch gut zu erkennen sind die Mauern der Arena sowie die Eingänge für die Zuschauer und Gladiatoren. Eine Rinne zieht sich quer durch die Arena. Răzvan meinte, sie diente als Abflusskanal für das Blut getöteter Gladiatoren. Laut Archäologen diente sie aber als Wasserleitung.
Der Lageplan am Eingang weist noch weitere Gebäude auf. So eine Gladiatorenschule gleich neben dem Theater, dem Wohnkomplex der antiken Stadt sowie den Tempeln für Äskulap – Gott der Heilkunst, Silvanus – dem Gott des Waldes oder Nemesis – der Rachegöttin.
Bei dieser Dame schien Helga in Ungnade gefallen zu sein. Als sie ihre Kamera auspackte, um zu fotografieren, regte sich gar nichts, die Batterie war lehr. Kein Problem dachte Helga. Für solche Fälle hatte sie ja eine Ersatzbatterie im Gepäck. Doch als sie ihre Kamera damit bestückt hatte, tat sich immer noch nichts. Beiden Batterien hatten vermutlich die tiefen Temperaturen des Winters im Himalaja den Garaus gemacht. Auch ihre Stimmung viel auf den Tiefpunkt und die alte Römerstadt schien bei ihr deutlich an Interesse verloren zu haben.
Doch noch war nichts verloren. Heute hatten wir zwar Sonntag, aber morgen in Herkulesbad sollte es doch möglich sein, eine Batterie aufzutreiben. Wenn nicht, bot ich ihr an, nach der Hälfte der Tour meine Kamera zu benutzen. Sicher ein Kompromiss, aber besser als nichts, dachte ich mir.

3. Zu den Thermen des Herkules

Weiter ging die Fahrt. Durch das „Eiserne Tor Siebenbürgens“ (Poartă de Fier a Transilvaniei), einem Pass zwischen dem Țarcu Gebirge im Osten und den Bergen der Poiana Ruscă im Westen verließen wir Siebenbürgen. Ab jetzt rollten wir durchs Banat – und dass immer schön vorsichtig, denn Răzvan hatte ein höchst fürsorgliches Auge auf seinen fahrbaren Untersatz.
Es ging durch Straßendörfer, die kein Ende nehmen wollten. Bucova 6 km, Băuțar 8 km. Am Straßenrand standen Bauern, vor ihnen Flaschen mit dem ersten Selbstgebrannten. „Die banater Bauern sind die reichsten im ganzen Land“, erzählte uns Răzvan. Warum das so war, konnte er uns nicht sagen. Vom Schnapsverkauf konnte es jedenfalls nicht sein. Das Gesöff war nicht zu vergleichen mit der Tuica, die uns Răzvan als Reiseproviant mit auf den Weg gab. So ist das halt in Rumänien, die guten Dinge bekommt man geschenkt, die weniger guten werden verkauft.
Hinter Caransebeș ging es südwärts durch das Tal des Timiș-Flusses, vorbei am Abzweig nach dem Dorf Slatina Timiș. Hier würde unsere Tour in zwei Wochen enden und hier würde uns Răzvan wieder abholen. Die Gegend wurde zunehmend bergiger und bald ragten die weißen Kalkfelsen des Domogled-Massivs 1106 Meter hoch in den Himmel. Ihnen zu Füßen liegt Herkulesbad (Băile Herculane) oder die heiligen Wasser des Herkules – ad aquas Herculi sacras, wie die Römer den Ort nannten.
Seit dieser Zeit ist Herkulesbad ein Heilbad. Milde Winter und kühle Sommer prägen das Klima des knapp 180 m hoch gelegenen Ortes im Cerna-Tal. Die mittlere Temperatur beträgt 14 °C. Doch nicht nur des ausgewogenen Klimas willen ist Herkulesbad als Kurort geeignet. Seine Thermal- und Mineralwasserquellen (schwefel-, chlor-, natrium- und kalziumhaltig) machten den Ort berühmt. Kuren halfen bei Erkrankungen des Bewegungsapparates (Knochenleiden), des peripheren Nervensystems sowie Verdauungsstörungen bei Zucker, Fettleibigkeit und Frauenleiden.
Seit meinem letzten Besuch in Herkulesbad 1997 sind viele Pensionen und kleinere Hotels aus dem Boden geschossen. An jedem zweiten Gebäude hängt ein Schild mit der Aufschrift „cazare“ – Unterkunft. Damals mussten wir mit dem pompösen Hotel Roman vorlieb nehmen. Diesmal wollten wir nicht direkt in Herkulesbad übernachten, sondern etwas außerhalb im Cerna-Tal. „Șapte Izvoare – Sieben heiße Quellen“ nennt sich ein Campingplatz etwa 4 bis 5 km von Herkulesbad entfernt. Warmes Wasser sprudelt in und um Herkulesbad aus jeder Ecke hervor. Es bahnt sich seinen Weg aus bis zu 2000 m Tiefe an die Oberfläche. Meistens noch verbunden mit einem widerlich, nach faulen Eiern stinkendem Schwefelgeruch.
Die Dame von der Rezeption des Campingplatzes war gerade im Begriff, Feierabend zu machen, als wir ankamen. Wir konnten uns zwischen einem Fleckchen Wiese oder einer kleinen Hütte oberhalb des Zeltplatzes auf der Straßenseite gegenüber entscheiden. Für 500 000 Lei (14,20 EUR) entschieden wir uns für das Häuschen. Hier konnten wir unsere Rucksäcke lassen und zurück nach Herkulesbad fahren. Herkulesbad war Sommerresidenz der Kaiser während der österreichisch-ungarischen Monarchie. Heute bietet sich dem Besucher ein trauriger Anblick. Die Hotels aus der k&k-Zeit bröseln vor sich hin. Da helfen auch die Schilder nicht, welche die Gebäude als Kulturdenkmale kennzeichnen. Hotelburgen aus der Ceausescu-Ära mit klangvollen Namen wie Roman, Diana, Aphrodite und Minerva wirken vor der gewaltigen Felskulisse des Domogled etwas deplatziert. Gerade richtig dagegen war für Helga ein kleiner Fotoladen an der Hauptstrasse. Heute hatte er zwar geschlossen, doch morgen hoffte sie, dort Batterien für ihre Kamera zu bekommen. Bevor es zurück zum Campingplatz ging, deckten wir uns noch mit einer Flasche Rotwein ein. Gemütlich vor unserer Hütte hockend und Rotwein schlürfend, ließen wir den ersten Tag in den Karpaten ausklingen.
Straßenhunde und Katzen leisteten uns beim Frühstück vor der Hütte Gesellschaft. Die Dame vom Campingplatz hatte es nicht sehr eilig ihren Job anzutreten, wie es schien. Eine Dreiviertelstunde später als vereinbart ließ sie sich endlich blicken. Wir zahlten und fuhren dann nach Herkulesbad in den Fotoladen. Helga bekam ihre Batterien und der Urlaub begann ihr wieder mehr Freude zu machen. Der Cerna folgend ging es nun nach Orșova.

4. An der Donau

Die ehemalige Grenzstadt Orșova, von den Römern Tierna genannt, liegt an der Donau oder genauer am sogenannten Cerna-Golf. Aufgrund der Regulierungsarbeiten an der Donau zum Bau des Wasserkraftwerks „Eisernes Tor“ verschwand der alte Stadtteil von Orșova in den Fluten der Donau. Unser erster Besuch galt der Parkverwaltung des Naturparks „Eisernes Tor“ (Parcul Natural Porțile de Fier) im Almascher-Gebirge, die sich im Forstamt am Südrand des Städtchens befindet. Vielleicht gab es hier Wanderkarten.
Răzvans Kollegen waren sehr hilfsbereit. Auf unsere Frage nach einem Weg durch den Park bis zum Dorf Eftimie Murgu ernteten wir erst einmal Kopfschütteln. Ungläubige Gesichter, obwohl wir immer wieder mit dem Finger auf der Naturparkkarte an der Bürowand entlangfuhren, um ihnen den Weg zu zeigen. Das wäre nicht möglich, beteuerte man uns wieder und wieder. Erst als ihnen Helga mit Hilfe von Händen und Füßen zu verstehen gab, dass wir nicht mit dem Auto, sondern zu Fuß durch den Park wollten, ging den Beamten ein Licht auf. Jetzt wurden wir mit Prospekten nur so überschüttet. Doch eine brauchbare Karte war nicht dabei. Einer der Forstleute kramte aus seinem Schreibtisch eine Wanderkarte hervor, die unsere Ansprüche bestens erfüllen würde. Doch leider war diese nicht zu haben. Es war ihre einzige Karte „Tschechische Wanderer hätten sie mal da gelassen“, erklärte er uns. Die Karte zeigte das ganze Südbanat im Maßstab 1:100 000. Zumindest wussten wir nun, dass es Wanderwege gibt, die mit gelbem bzw. rotem Band markiert waren, und denen wir zumindest bis zur Hälfte durch das Almascher-Gebirge folgen konnten. Răzvan fragte noch nach einem Platz zum Zelten. „Kein Problem. Auf jedem Stückchen Wiese können Sie das Zelt aufbauen“, versicherte uns der Beamte. Auch die Grenzpolizei würde keinen Ärger machen. Dann war ja alles klar. Die Forstleute legten uns noch ans Herz, unbedingt in Eșelnița im Restaurant „Steaua Dunării“ (Donaustern) vorbeizuschauen, um dort eine Fischsuppe („die Beste der Region“) zu probieren. Keine Frage, doch bevor wir an unser leibliches Wohl dachten, mussten wir auch an unser seelisches denken, und so besuchten wir erst einmal das Nonnenkloster der Heiligen Anna (Mănăstirea Sfântul Ana) auf einem Hügel über Orșova.
Laut Klostergeschichte am Eingang zur Kirche, hatte ein Journalist namens Pamfil Șeicaru den Bau des Klosters finanziert, um an seine Kameraden zu erinnern, die während des Ersten Weltkriegs für ein „Großrumänien“ gefallen sind. Der Publizist und Verleger Pamfil Șeicaru, wurde im April 1894 im Kreis Buzău geboren, ging nach 1944 ins Exil und starb im Oktober 1980 bei München. Ob er dadurch sein Seelenheil gefunden hatte, bezweifelte ich, doch der Bau als solches war hübsch anzusehen. Helga und Răzvan zündeten ein paar Kerzen an, ich machte ein paar Fotos zur Erinnerung.
Da wir noch genügend Zeit hatten, beschlossen wir weiter dem Lauf der Donau zu folgen, um die Ursache für das Verschwinden ganzer Siedlungen in den Fluten der Donau zu besuchen – das Kraftwerk „Eisernes Tor“.
Erste Regulierungsarbeiten begannen bereits 1890. Auf einer Länge von fast 3 km ragten Felsen und Klippen aus dem Wasser, deren Spitzen selbst bei normalem Wasserstand aus der Donau hervorragten und die Schifffahrt derart hemmten, dass bei niedrigerem Wasserstand sogar kleine Fahrzeuge nur unter großen Gefahren das „Eiserne Tor“ passieren konnten. Ungarische Techniker sprengten und brachen die 2,2 km lange, 80 m breite und 3 m tiefe Wasserstrasse durch das „Eiserne Tor“, um die Gefahren führ die Schifffahrt auf diesem Abschnitt der Donau zu beseitigen. Doch selbst jetzt war eine Fahrt durch die Donauenge noch gefährlich.
1964 begannen dann Rumänien und Jugoslawien (heute Serbien) mit den Bauarbeiten für das bis heute größte Wasserkraftwerk Europas. Ein Damm staute den Wasserspiegel der Donau um etwa 35 m. Jetzt konnten auch große Schiffe den Abschnitt problemlos passieren.
Unter anderem fahren von Orșova aus Passagierschiffe in die Durchbruchsklammen der Donau, den sogenannten Engpässen Cazanele Mici und Cazanele Mari (Großer- und Kleiner-Kazan-Engpass). Ihren Namen verdanken die Abschnitte den Erscheinungen des durchfließenden Wassers. „Cazan bedeutet Kessel“, erklärte uns Răzvan. Aufgrund des felsigen Grundes bildeten sich Strömungen und Strudel, sodass der Eindruck entstand, das Wasser der Donau wäre am Kochen. Das hätte ich am liebsten aus der Nähe gesehen. Doch heute lag das Donauschiff vertäut am Kai in Orșova. „Schaden an der Elektrik“, sagte uns der Skipper. Der Ausflug für 22 Personen dauert 2 Stunden und kostete 6 Millionen Lei (170 EUR). Für 100 EUR könnten wir aber eine Stunde lang mit einem kleinen Motorboot durch die Engpässe fahren. Doch das war uns die Sache nicht Wert, zumal es zu nieseln begann. So stiegen wir wieder in Răzvans Dacia und fuhren dem kulinarischen Vergnügen im Restaurant „Donaustern“ entgegen.
Auf einer Terrasse über der Donau mit Blick auf die Felsen der kleinen Kazan-Schlucht löffelten wir unsere Fischsuppe. Danach gab es Karpfen und Wels frisch aus der Donau. Wir konnten den Fischern zusehen, wie sie ihre Netze einholten. Da schmeckte der Fisch gleich noch mal so gut. Kurz entschlossen bestellten Răzvan und ich noch mal eine Portion – immerhin weitere gute 400 Gramm pro Person! Satt und zufrieden sahen wir uns jetzt nach einem Platz für die Nacht um. Was gar nicht so einfach war. Erst als wir die Straße hinter dem Ort Dubova und dem Abzweig nach Eibenthal zum zweiten Mal entlangfuhren, entdeckten wir ein geeignetes Stück Wiese mit Blick auf die Felsen der Großen-Kazan-Enge. Nun hätte der Abend in Ruhe und Frieden mit einer Țuică-Flasche, die die Runde macht, ausklingen können. Wenn, ja wenn uns nicht jemand mit dem Lichtkegel einer Taschenlampe im Gesicht herumgefuchtelt hätte. Grenzpolizei! Einer der beiden Grenzpolizisten stellte sich als Florin vor und wollte wissen, was wir hier so treiben. Zum Glück hatten wir Răzvan dabei, der nun mit dem Beamten diskutieren durfte. Zelten wäre nur mit einer Sondergenehmigung möglich, versuchte er uns klar zu machen. Dann besann er sich aber, kontrollierte unsere Ausweise und funkte die Daten an sein Hauptquartier. Kam zurück, drückte uns die Ausweise in die Hand und forderte Răzvan auf, seinen Dacia nicht so dicht an der Straße zu parken. Dann verschwanden sie wieder in der Dämmerung. Răzvan ärgerte sich über seine Kollegen in der Forstverwaltung. Keine Probleme würde es geben, hatten sie ihm versichert. Ich fand, dass es auch keine Probleme gab. Wir krochen in unsere Zelte und schliefen unbehelligt, bis die Sonne über der Donau stand.
Die tiefen Schlaglöcher im Slalomstil umfahrend, erreichten wir nach kurzer Zeit den Abzweig nach Eibenthal. Ab hier ging es für uns zu Fuß weiter. Răzvan traute seinem Dacia den weiteren Weg nicht mehr zu. Wir verabschiedeten uns. In zwei Wochen würden wir in Slatina Timiș am Fuß des Semenic Gebirges auf ihn warten.

5. Durchs Almascher-Gebirge

Anfangs folgten wir der Donau, bis sich nach einer knappen Stunde der Weg nach Norden wandte. Nach insgesamt zwei Stunden erreichten wir das Dorf Eibenthal. Der Ort ist ein Kuriosum – ein Dorf mit deutschem Namen in Rumänien, dessen Bewohner Tschechen sind.
Tschechische Siedler wurden Anfang des 19. Jh. zur Grenzsicherung ins Banat geholt, welches damals noch zu Österreich-Ungarn gehörte. Auf der Suche nach einem Laden schlenderten wir die Betonstraße hinunter ins Dorf. Die Erwachsenen grüßten mit „Dobrý den – Guten Tag“, die Kinder auch mal kurz mit „Ahoj“. Der erste Laden – und vermutlich auch der Einzige im Dorf – befand sich direkt neben der Kneipe. Das Angebot war dürftig. Brot gab es nicht, aber Mineralwasser und, ich glaubte es kaum: Im hintersten Regal stapelten sich Wanderkarten des Banats. Es war die gleiche Karte, wie wir sie bei den Forstmännern in Orsova gesehen hatten. 70 000 Lei (2 EUR) kostete das Exemplar. Wenn wir jetzt noch Brot bekämen, konnten wir frohen Mutes die Durchquerung des Almascher-Gebirges angehen.
„Das Brotauto ist gerade durch“, sagte uns ein Mann. Wir sollten warten, bis es aus Baia Nouă, dem Nachbardorf, zurück ist. Ob wir aus Deutschland kommen, wollte er wissen. Ich bejahte. Er rief seine Frau, die verschwand im Hof und kam kurz darauf mit einem Brot in der Hand zurück. Geld wollte sie keins. Dafür bekamen wir einen Hinweis auf einen, der noch Deutsch spricht und ein Stück weiter oben im Dorf wohnt. „Besucht ihn mal, er freut sich bestimmt“, sagte der Mann zum Abschied. Ich fand es schon ein wenig kurios, bei jemandem zu klopfen mit dem Satz auf den Lippen: „Hallo, Sie sprechen deutsch? Wir auch.“ So entschlossen wir uns, doch lieber weiter zu laufen nach Baia Nouă. Vor dem Dorf zweigt rechterhand der gelb markierte Wanderweg ab. Wir folgten der roten Band Markierung durchs Dorf. Baia Nouă ist eine Bergarbeitersiedlung. Oberhalb des Dorfes liegt die Mine, aus der Anthrazit (hochwertige Steinkohle) gewonnen wird. Ein Großteil der Einwohner von Baia Nouă und von Eibenthal findet hier Arbeit. Was in Eibenthal fehlte, gab es in Baia Nouă im Überfluss. Drei Dorfläden hatte das Nest. Es gab Wurst, Käse, Bier (in 2 Liter Flaschen) – und wir erwischten sogar noch das Brotauto. Eine Wiese oberhalb des Dorfes lud zur Mittagspause ein. Weiter ging es durch Wald über steile, matschige Pfade ins Sîrînca-Tal.
Helgas Maskottchen Oimel und Charlie bekamen auf dem Rucksack einen Platz an der Sonne. Eigentlich hatte ich mit einem Liter Bier im Kopf keine rechte Lust mehr weiterzulaufen. Wir waren ständig damit beschäftigt, die Wegmarkierung zu suchen. Brombeergestrüpp und Hagebutten machten das Laufen nicht angenehmer. Helga hatte Probleme mit ihrem Knöchel, er schmerzte. Nach 3 Stunden schimmerte endlich eine Lichtung durch die Bäume. Wir hatten unseren Zeltplatz. Doch ein Hindernis in Form eines Gebirgsbaches stellte sich uns in den Weg. Das fehlte noch zu unserem Glück. Wir waren jedoch nicht die Einzigen, die über den Bach auf die andere Seite wollten. Ein Traktor mit Baumstämmen im Schlepptau hatte das gleiche Ziel. „Die könnten uns doch rüberbringen“, sagte Helga. Und tatsächlich wir waren gerade dabei, unsere Rucksäcke abzusetzen, da winkte uns der Fahrer zu. Wir sollten auf den Traktor steigen. Zwar durchgerüttelt, aber trocken, bauten wir endlich nach rund 8 ½ Stunden unser Zelt auf.
Ich hatte schlecht geschlafen. Irgendein Vieh lief mir in der Nacht direkt übers Gesicht. Da ich in einem der Prospekte, die uns die Forstleute geschenkt hatten, etwas von Skorpionen gelesen hatte, war es aus mit der Gemütlichkeit. Im Licht der Stirnlampe durchwühlte ich meinen Schlafsack, die Kleidung und schaute in jedem Zeltwinkel nach, konnte das Tier jedoch nicht finden. Erst am Morgen krabbelte unter der Isomatte ein 3 bis 4 cm langes, schwarzes Insekt hervor, das mir gänzlich unbekannt war, und dem ich auch kein Vertrauen entgegenbrachte. Helga sah die Sache lockerer, nahm das Monster zwischen zwei Finger und beförderte es nach draußen.
Bis zum Dorf Bigăr dauerte es doch länger als vermutet. Es war bereits Mittag, als wir die ersten Häuser passierten. Der deutsche Name des 1827 gegründeten Dorfes ist Schnellersruhe.
Laut den Infos auf unserer Karte verbrachte während der Österreichisch-Ungarischen Epoche ein gewisser General Andreas Schneller eine Nacht in dem Ort. Nun kannte ich neben Karlsruhe noch einen Ort, der nach einem Schläfer benannt wurde. Zwei Bars gibt es in Bigăr, einen Kiosk und einen Laden. Alle hatten geschlossen. Da Anfang Oktober Erntzeit ist, war jeder mit Kind und Kegel tagsüber auf dem Acker und dachte nicht daran, hungrigen Wanderern unter die Arme zu greifen. So füllten wir nur unsere Wasserflaschen auf und liefen weiter. Der Weg war eine Katastrophe. Teils bis zum Knöchel im Matsch arbeiteten wir uns voran bis von der Markierung rotes Band nichts mehr zu sehen war. Wir hatten uns verlaufen. Nach einem Menü aus Nüssen und Sprudelwasser gingen wir in entgegengesetzten Richtungen auf Markierungssuche. Ich lief zurück bis zu der Stelle, wo wir das Zeichen zum letzten Mal gesehen hatten. Ein schmaler Pfad bog dort nach Nordwesten ab. Ich folgte ihm und entdeckte nach einer Weile das rote Band an einem Bäumchen.
Wieder am Rastplatz angelangt beschlossen wir, nicht wie geplant auf unmarkierten Wegen nach Eftimie Murgu zu laufen, sondern dem markierten Weg nach dem Dorf Ravensca zu folgen. So musste ich leider auf dieser Tour der Rudăria Klamm mit ihren Wassermühlen Ade sagen. Die Suche nach dem rechten Weg hatte doch etwas Zeit gekostet, weit würden wir heute nicht mehr kommen. Wir schauten uns auf der Karte nach einem Flecken Wiese um. Die Karte nannte den Ort im Tal der Berzersca P-na Debeliliug, was Poiana Debeliliug bedeutete, also eine Wiese. Der Weg dort hin war feucht. Drei Flüsse hieß es, zu durchwaten. Den Ersten konnte ich noch meistern, indem ich über herumliegende Steine balancierte, die aus dem Wasser ragten. Helga war mutig und lief barfuss durchs Wasser. Beim zweiten Bach gingen keine Tricks mehr. Helga war schon auf der anderen Seite, als ich hinterher stakste. Das Wasser zwickte in den Zehenspitzen, Steine pieksten in die Fußsohlen. Ich fluchte vor mich hin. Selbst auf meinen Touren in Kanada musste ich nicht in so kurzer Zeit so oft durchs Wasser. Der letzte Bach machte zum Glück keine Schwierigkeiten.
Die Wiese war ziemlich groß, Heuhaufen standen herum, Efeuranken nahmen bereits von ihnen Besitz. Hier hatte sich also schon längere Zeit niemand mehr blicken lassen. Wir bauten in der Nähe des Bachs unser Zelt auf. Dann musste ich all meinen Mut zusammen nehmen, denn Waschen war angesagt. Nach 3 Tagen durchaus empfehlenswert. Wie ein Held fühlte ich mich nach erfolgreicher Schmutzbekämpfung im eisigen Gebirgswasser. Helga wusch noch gleich ihre Hemden. Meine ausgediente Wäsche stopfte ich in regelmäßigen Zeitabständen in die Mülltüte, welche ich dann in der Zivilisation entsorgte. Somit wurde mein Rucksack leichter und leichter, zumindest in meiner Vorstellung. Was ich mir ganz anders vorgestellt hatte, war das Abendessen. Der Kocher hatte einfach keine Lust zu kochen. Auf Sparflamme dümpelte unser Abendessen so dahin. Währenddessen verbissen sich kleine schwarze Fliegen in Hand- und Fußgelenke. Unterm Sternenhimmel im Schein unserer Stirnlampen konnten wir endlich unsere Nudeln löffeln.
Den ersten Menschen, denen wir am nächsten Morgen begegneten, waren eine Gruppe Jäger samt Hunden, die an unserem Zelt vorbeizogen, um den Wildbestand im Almascher-Gebirge zu dezimieren. Wir ließen uns Zeit, spülten Geschirr, putzten den Kocher und folgten dann einer völlig verwilderten Bahnlinie. Ab und zu schauten noch Schienen aus dem mit Laub bedeckten Boden hervor. Vermutlich diente die Bahn einst dem Bergbau. Nach etwa 45 Minuten über Stock und Stein schlängelte sich ein Pfad, kaum auszumachen nach Nordwest einen steilen Hang hinauf. Schritt für Schritt schleppten wir uns bergauf. Nach weiteren 45 Minuten standen wir endlich auf dem Kamm. Jetzt ging es leichter. Helga hatte auf ihrer linken Schulter eine Blase, fast so groß wie ein Euro. Mit einem Paar Socken polsterte sie ihre Schultern ab, um sich die Sache so etwas zu erleichtern. Auf dem Kamm lief es sich deutlich besser als durch das Gestrüpp in den Tälern. Wir befanden uns an der Grenze zum Naturpark „Eisernes Tor“, was leicht an den roten Quadraten zu erkennen war, die jemand an die Baumstämme gemalt hatte. Nach zwei Stunden gelangten wir an einen Abzweig, den ein rotes Dreieck markierte. Der Weg führte in etwa 5 Minuten zu einem Aussichtsfelsen. Unter uns breiteten sich die Hügel des Almascher-Gebirges aus. Im Osten sahen wir den Svinecea Mare mit 1225 m der höchste Berg des Gebirges. Im Südosten erhoben sich die serbischen Hügelketten über dem Donautal. So steil, wie es bergauf ging, führte der Pfad auch wieder nach unten. Im Gebüsch entdeckte ich eine Bierdose, „Pilsner Urquell“ stand drauf. Nicht genug, dass da jemand die Umwelt verschandelt, nein da wurde einem auch noch der Mund wässrig gemacht, ärgerte ich mich. Unten angekommen, stolperten wir vor einen Zigeunerwagen. Eine Familie der untersten Kaste Rumäniens war gerade dabei, einen Beitrag zur Reinhaltung des Waldes zu leisten. Sie sammelten Schrott und andere Dinge, die sich noch irgendwie verwerten ließen. Laut einem Wegweiser waren es noch 10 km bis Ravensca und 12,5 km bis zur Poiana Debeliliug, wo wir heute Morgen gestartet waren. Es war kurz vor Fünf. Weiterzulaufen machte keinen Sinn, da wir nicht damit rechnen konnten, in der nächsten Stunde eine Wiese und Wasser zu finden.
Also bauten wir am Ende des Tals unser Zelt auf. Dass wir nur 12 ½ Kilometer gelaufen waren, wollte nicht so recht in meinen Kopf rein. Meine Beine fühlten sich jedenfalls an wie nach einem 22-km-Marsch.
Da es bis Ravensca noch 10 km waren, sputeten wir uns am nächsten Morgen. Halb zehn stapften 2 Paar Wanderschuhe bereits aus dem Tal der Lung-Quelle hinauf zum höchst gelegenen Dorf in den Almascher Bergen. 866 Meter hoch liegt Ravensca und wie in den meisten Dörfern, durch die wir liefen, leben auch hier Tschechen. Und wie in den meisten Dörfern standen wir auch hier vor verschlossener Ladentür. Wir waren eine Stunde zu spät. Die Öffnungszeiten von 7-11 Uhr und von 18-22 Uhr kamen hungrigen und vor allem durstigen Wanderern definitiv nicht entgegen. Unverrichteter Dinge schulterten wir unsere Rucksäcke und traten den 14 km langen Abstieg nach Bârs, einem Dorf im Nera-Tal an. Von dort wollten wir nach Șopotu Nou, dem Ausgangspunkt zu einem neuen Abenteuer – die Durchquerung der Nera-Klamm.

6. Die Nera-Klamm zu dritt

Als bereits 26 km in unseren Beinen steckten, erbarmte sich schließlich jemand und nahm uns mit. Der Linienbus von Eftimie Murgu stoppte 2 Kilometer vor Șopotu Nou.
Der erste Weg galt dem Dorfladen. Ein Schloss vor der Tür war mittlerweile Normalität, wie es schien. Die etwas korpulente Dame mit ihrer Zigarette, die lässig im Mundwinkel hing, schüttelte nur verneinend den Kopf. Also versuchten wir es bei der Konkurrenz und siehe da, wir hatten Erfolg.
Helga war für das Tragen des Biers und die Suppen verantwortlich, ich verpackte die ebenfalls wichtigen Dinge wie Käse, Wurst und Kekse. Es dämmerte bereits, als wir am Neraufer unser Zelt aufbauten.
Die 22 km lange Nera-Klamm war mir gut bekannt, bildete sie doch den Auftakt für meine Karpatendurchquerung 1997. Damals lief ich die Klamm in umgekehrter Richtung von Sasca Română nach Șopotu Nou. An die Tunnel und Felsenwege konnte ich mich noch gut erinnern.
Es schien, als ob wir am nächsten Morgen die Klamm zu dritt laufen würden. Unser Reisepartner hatte ein gelb-braunes Fell, einen buschigen Schwanz und lief auf vier Beinen. Schon gestern Abend hatte sich der Hund vor unser Zelt gesetzt und rührte sich die ganze Nacht nicht vom Fleck. Als wir in Richtung Poiana Meliugului liefen, dem Klammbeginn, sprang er freudig mit dem Schwanz wedelnd hinter uns her. Kurz hinter dem Weiler Driștie knatterte ein Traktor hinter uns. Der Fahrer hielt und deutete auf den Hänger. Keine Frage, das ließen wir uns nicht nehmen. Der Gelbe schien von unserer Entscheidung absolut nichts zu halten. Jaulend und winselnd sprang er um den Traktor herum. Sein Blick schien zu sagen: „Das könnt ihr doch jetzt nicht machen.“ Als sich der Traktor in Bewegung setzte, nahm unser Hund seine Beine in die Hand und wetzte hinter uns her. Am letzten Gehöft vor der Klamm wurden wir abgesetzt, unser Gelber schien sichtlich erleichtert. Helga tat der Hund leid und sie wünschte sich, er würde zurückgehen.
Doch den Gefallen tat er ihr nicht. Eine Hängebrücke spannte sich über den Fluss. Wir schwankten auf die andere Seite, unser Hund rannte vorneweg und jagte einem Eichhörnchen hinterher. Wir folgten dem roten Band, welches den Weg durch die Klamm wies. Gestrüpp zerrte am Rucksack und kratzte die Arme auf. Als es etwas lichter wurde, standen wir vor einem blaugrün schimmernden See inmitten von überwucherten Kalkfelsen. Der See hieß Lacul Dracului – der Teufelssee. Der 9 m tiefe See ist ein Höhlensee, der nach dem Einsturz einer Grotte entstand. Da er anscheinend keinen Zufluss hat, musste der Teufel seine Hand im Spiel gehabt haben und so bekam der See seinen Namen.
Auch bei den Markierungen musste der Teufel seine Hand im Spiel gehabt haben. Ich konnte mich noch dunkel erinnern, vor 8 Jahren kam ich nicht an dem See vorbei. Trotzdem, am nächsten Baum leuchtete wieder das rote Band. Am Übernächsten nicht mehr. Wir liefen trotzdem weiter. Bis es nicht mehr weiter ging. Nicht nur die Markierung war weg, auch der Pfad hatte sich schließlich in nichts aufgelöst. Bäume und Gestrüpp ließen uns keinen Meter weiterlaufen. Glatte weiße Felsen ragten über uns in die Wolken. Es gab nur noch eins, den Rückzug antreten.
Am Teufelssee holte ich die Karte raus und tatsächlich, der Weg zweigte bereits ein Stück weiter südlich ab und umging die Schleife, die die Nera hier machte. Ich ärgerte mich zum einen über die Wegmarkierung, andererseits aber auch über mich. Warum hatte ich nicht schon früher auf meine Karte geschaut?! Als wir wieder auf dem rechten Pfad wandelten, war erst mal Zeit für die Mittagspause. Unser Hund sah schon leicht geschafft aus. Er legte sich auf den Bauch, die Vorderpfoten von sich gestreckt und schaute uns aus großen Kulleraugen an.
Noch konnte er umkehren. Sollten wir ihm auch was zu fressen geben? Dann würden wir ihn aber mit Sicherheit nicht mehr los und ihn 3 Tage lang durchs Anina-Gebirge bis Steierdorf mitnehmen und durchfüttern, war sicher auch keine gute Idee. Außerdem mussten wir kurz vor unserem Tagesziel, dem Forsthaus Damian, durch die Nera waten. Da wäre für unseren Freund vermutlich Endstation. Wir entschlossen uns, ihm nichts zu geben. Vielleicht trollte er sich dann wieder nach Șopotu Nou.
Doch er trollte sich nirgendwohin, wartete, bis wir mit Essen fertig waren, um anschließend die Krümel aufzufressen. Der Pfad folgte nun der Nera. Doch so gut wie vor 8 Jahren lief es sich diesmal nicht. Bäume lagen quer über dem Weg. Für uns waren sie zu hoch, um darüber wegzukriechen und zu niedrig, um drunter durchzukrabbeln. Meist verfing sich der Rucksack in irgendwelche, Astenden. Unser Gelber hatte da keine Probleme. An manchen Stellen hatte das Frühjahrshochwasser den Weg weggespült. Vorsichtig balancierten wir über die Abbruchkante. Nur den Tunneln im Fels schien kein Hochwasser etwas anhaben zu können. Dort hatte sich nichts verändert. An manchen Stellen musste ich schon tief in die Hocke gehen, um mir nicht den Kopf zu zerbeulen. An einer Stelle war der Weg unterbrochen. Vor mir klaffte glatter Fels. Mit Fototasche vorm Bauch und Rucksack auf dem Rücken ging bei mir gar nichts mehr. Helga war schon drüben, hatte es problemlos geschafft. Sie nahm Rucksack und Fototasche entgegen, ich mogelte mich ohne Gepäck über den Fels auf die andere Seite. Dass ich die gleiche Stelle damals problemlos meisterte, wunderte mich. Vielleicht hatte ich mich aber auch nur zu blöd angestellt. Unser Hund litt ebenfalls. Weiter und weiter blieb er zurück. Hatte er uns aus den Augen verloren, jaulte es wieder irgendwo zwischen den Felsen. Hatte er uns im Blick, war seine Welt wieder in Ordnung.
Kurz vor einem Felsüberhang, der sich „La Cârlige“ (bei den Haken) nennt, war es dann soweit. Wir mussten ins Wasser. Die Nera führte deutlich mehr Wasser als damals. Selbst der Hintern wurde nass. Zum Glück hielt sich die Strömung in Grenzen, und wir erreichten wohlbehalten das andere Ufer. Und der Hund? Was hatte er vor? Aufgeregt tänzelte er am Ufer auf und ab. Plötzlich rief Helga „Er schwimmt!“ Und tatsächlich, aus dem Wasser schaute eine gelbe Schnauze, die gefährlich schnell auf die Stromschnellen zu trieb, die sich hinter der Furt befanden. Dann war die Schnauze für einen Augenblick verschwunden. Das war's, dachten wir. Jetzt ist er ersoffen. Doch schon im nächsten Moment schüttelte sich unser Hund die Wassertropfen aus dem Fell, er hatte es geschafft.
Heute hatte er sich eine Wurst verdient, das stand fest. Aber was sollten wir mit ihm machen? Wie sollte es weiter gehen? Ich schlug vor unsere geplante Route ein wenig abzuändern, und nicht dem Beu-Tal zu folgen, sondern nach Sasca Montană zu laufen und von dort nach Oravița zu trampen. Von da würde man schon irgendwie nach Anina kommen. Helga hatte schon die gleiche Idee gehabt, wie sie sagte. In einem Dorf würde unser Freund schon wieder Anschluss an seinesgleichen finden, dachten wir.
Der Felsen „La Cârlige“ war das letzte Hindernis in der Klamm. Zum Glück sicherten rostige Stahlseile die Passage. Danach ging es auf einem gut ausgetreten Pfad zum Forsthaus Damian. Dort hatten wir bei meinem ersten Nera-Besuch einen Eimer voll frisch gemolkener Kuhmilch bekommen, vielleicht klappte es heute wieder. Doch die Fensterscheiben hatten fußballgroße Löcher, Tür und Tor waren verrammelt. Alles war dem Verfall preisgegeben. Warum die Menschen die Gegend wohl verlassen hatten?
Also gab es wieder Essen aus der Tüte. Für unseren Weggefährten wie versprochen Wurststückchen und Kekse. Kaum hatten wir unser Zelt aufgestellt, lag der Hund – den Kopf auf den Pfoten und die Augen geschlossen – in den tiefsten Träumen. Doch nicht nur für ihn war die Nera-Klamm ein Abenteuer gewesen, was er so schnell nicht vergessen würde.
Auf dem Weg nach Sasca Română ging es unserem Vierbeiner schon wieder hervorragend. Voll Übermut sprang er im Wald umher, stöberte hier herum, suchte dort etwas. Am Ortseingang machte er Bekanntschaft mit den ersten Dorfhunden. Gelbbraune Schlappohren, die ihm aufs Haar ähnelten. Vielleicht stammte er sogar von hier und wollte nur heim, sagten wir uns. Doch hier wollte er nicht bleiben und begleitete uns noch bis Sasca Montană dem Nachbardorf an der Straße 571. Von dort wollten wir nach Oravița. In der Dorfkneipe genehmigten wir uns erst mal ein Bergenbier. Dörfler saßen um einen Tisch und spielten Karten. Der Hund hockte sich brav in den Eingang und wartete. Er würde nun ohne uns zurechtkommen müssen. Wie wird er reagieren? Ich musste mich an eine Tour im Trascău Gebirge 2000 erinnern. Auch dort sind uns 2 Hunde 2 Tage lang gefolgt. Als wir dann ein Auto stoppten, liefen sie hinterher bis ihre Zunge fast den Boden berührte und konnten das Auto doch nicht einholen. Als kleine Punkte am Horizont verschwanden sie schließlich und blieben nur noch als trauriges Erlebnis in meiner Erinnerung. Diesmal war es nicht so. Ein Bus hielt kurz vor der Nera-Brücke. Jugendliche, so 16 bis 17 Jahre alt, stiegen aus. Ich fragte den Fahrer nach einer „ocazie“ (Mitfahrgelegenheit) nach Oravița.
Er zuckte mit den Schultern, was wohl bedeuten sollte: „Ich würde ja, weiß aber nicht, ob ich es darf“. Ein paar von den Jungs diskutierten kurz mit dem Fahrer, der nickte und wir durften unsere Rucksäcke in den Bus packen. Die Jugendlichen waren Schüler des deutschsprachigen Nikolaus-Lenau-Gymnasiums in Timișoara, der Partnerstadt von Karlsruhe. Sie waren gerade auf der Heimfahrt von einem Schulausflug. Unser Hund wurde inzwischen mit Naschereien verwöhnt, von uns nahm er kaum noch Notiz. Selbst als wir bereits im Bus saßen, trollte er sich draußen herum. Kam noch mal kurz an die Tür, so als wollte er Tschüss sagen. Dann verschwand er.

7. Im Banater Karst

Der Bus fuhr an und nach einer halben Stunde wurden wir vor dem Bahnhof abgesetzt. Oravița war ein Bergbaustädtchen, wo bereits Anfang des 18. Jh. Tiroler Bergleute siedelten. Heute sind die Stollen wo einst Kupfer, Silber und Gold gefördert wurden stillgelegt. Nach dem Krieg entdeckte man in der Nähe große Uranvorkommen, die mittlerweile auch erschöpft sein sollen. Die meisten Deutschen verließen den Ort bereits nach Ende des 2. Weltkrieges.
Wir waren aber nun mal da und überlegten bei einem Bierchen, wie es weiter nach Anina gehen sollte. Da es schnell gehen sollte, entschieden wir uns fürs Taxi. 350 000 Lei (10 EUR) kostete die rund 22 km lange Fahrt. In und um Anina wird auch heute noch Bergbau betrieben.
Kohlezechen bestimmen das Bild des Ortes. Wir holten unsere Karte raus und suchten uns den kürzesten Weg in Richtung Comarnic-Höhle, unserem nächsten Ziel. Der Weg führte über einen Stadtteil, der Celnic heißt. Er liegt auf einem Hügel über Anina. Dem Aussehen nach musste es sich um die Slums von Anina handeln. Plattenbauten, halbfertig oder schon am zerfallen, ragten in den Himmel. Wo Fenster hätten sein sollen, klafften schwarze Löcher. Zwischen den Häusern spielten Kinder, weideten Kühe und stapelte sich jede Menge Müll. Hausten hier die Bergleute? Ähnliche Zustände hatte ich auf meiner Karpatendurchquerung 1997 in den Bergarbeitersiedlugen im Schilltal erlebt. Eine Betonstraße führte durch die Wohnblöcke in Richtung Buhui-Klamm. An deren Eingang laut Karte eine Hütte sein sollte und ein See, beides hieß Mărghitaș.
Am nächsten Morgen nahm die Suche nach dem richtigen Wanderweg zur Comarnic-Höhle uns voll in Anspruch. Auf einer Tafel vor der Mărghitaș-Hütte sollte irgendwo ein Weg durch die Buhui-Klamm führen, der mit einem blauen Band markiert ist. Wir suchten im Tal und über dem Tal, fanden jedoch nirgends eine Markierung. Ich stand kurz davor, die Tour ein zweites Mal umzuplanen. In der Hütte keine Menschenseele, die wir hätten fragen können, nur eine Meute streunender Hunde tobte um das Haus, als wir uns näherten. Helga schlug vor, einfach dem Weg zu folgen, der in Richtung Höhle führte, egal ob mit oder ohne Band. Ich hatte zwar wenig Hoffnung willigte aber ein.
Wir folgten einem Karrenweg nach Norden, unter uns rauschte der Buhui-Bach. Die Sonnenstrahlen ließen die Blätter der Bäume wie Smaragde aufleuchten. Am Boden blühten Herbstzeitlosen. Nach einer Dreiviertelstunde sahen wir linker Hand zwei Löcher im Berg. Es war eine Höhle mit zwei Eingängen. Der linke war zur Hälfte zugemauert, aber der andere lud zu einer Entdeckungstour ein. Leider währte diese nicht allzu lang. Nach ein paar Metern stand ich am Rand der Nachbarhöhle. Ein Bach trat aus dem Fels hervor, und die Mauer staute das Wasser in der Höhle an.
Helga wandte sich inzwischen praktischeren Dingen zu, wie zum Beispiel Hemden waschen. Ihren Rucksack als Wäschetrockner nutzend ging es weiter. Eine halbe Stunde liefen wir so durch den Wald, als der Weg am Bach endete. Irgendwann führte hier mal eine Brücke über den Bach. Noch deutlich erkannten wir die Reste am anderen Ufer. Wir mussten durch den Bach und staunten nicht schlecht, als wir auf der gegenüberliegenden Seite den Hang raufkraxelten. Am ersten Baum leuchtete das Blaue Band. Der Weg ähnelte einer verwilderten Strasse. Es ging durch Tunnel und Durchbrüche im Fels. In den Tunneln sammelte sich Wasser zum Teil so stark, dass wir gezwungen waren, über Umwege außen herumzulaufen. Efeu rankte an den Felsdurchbrüchen empor. Jemand hatte hier vor langer Zeit einen enorm hohen Aufwand betrieben und eine Trasse durch die Wildnis geschlagen. Später las ich, dass wir auf der Eisenbahntrasse Reșița – Anina entlanggelaufen sind. Die Trasse wurde Ende des 19. Jahrhunderts gebaut. Kohle aus den Anthrazit Bergwerken von Anina transportierte die Bahn nach Reșița. Die Hochöfen der Stahlwerke benötigten das Heizmaterial. Erst als nach dem Ende des 2. Weltkrieges LKWs den Transport der Kohle übernahmen, wurde die Bahn überflüssig.
Über die vom Rost zerfressenen Träger einer alten Eisenbahnbrücke balancierten wir über den Caraș-Bach. Durch die Caraș-Klamm ging es weiter bis zu einem Tunnel, der nach Osten in das Comarnic-Tal führte. Bis zum Forsthaus Comarnic war es nun noch eine halbe Stunde. Am Forsthaus begrüßten uns wieder zwei junge verspielte Hunde. Sonst ließ sich hier keine Menschenseele blicken. Das Forsthaus war ebenso verlassen wie das an der Nera-Klamm. Waldarbeiter hatten vor der Einfahrt zum Forsthaus Holz gesägt. An einem Wagen stand ein Tisch mit einem Topf halbvoll mit Nudeln, und ein Schild warnte vor Hornvipern. Die Comarnic-Höhle ist mit über 4 Kilometern die längste Höhle des Anina Gebirges. Naturschächte bis zu 235 m tief verschwinden im Erdinneren. In meiner Beschreibung las ich was von „bizarren Felsformationen“, von „Treppen, Orgeln, Domen“ und „einer Vielfalt von Stalagmiten und Stalaktiten“.
Leider stoppte eine verschlossene Stahltür unseren Entdeckerdrang. Nirgends stand ein Hinweis auf Führungen. So mussten wir unverrichteter Dinge abziehen und unser Nachtlager aufbauen. Vor uns stand der letzte Abschnitt der Tour – das Semenic Gebirge.

8. Ins Semenik-Gebirge

Der Piatra Goznei ist mit 1447 m höchster Punkt im Semenic Gebirge. Seinen Namen verdankt das Gebirge einem weiß-rosa blühenden Blümchen, das es nur dort gibt. Im Winter ist das Semenic Skigebiet Nummer eins im Banat.
"Sechs Monate im Jahr Wintersport, sechs Monate im Jahr Bergwanderungen. Herrlichste Berglandschaft (1400m), beste Unterkunft in Hotels und Villen 1. Kategorie (4609 Betten), Restaurants mit einheimischer und internationaler Küche, Disco Bar. Der Bergort ist auf Ganzjahrbetrieb eingestellt." So die Werbung der Tourismusbranche.
Zwei Wege führten zum Semenic. Einer mit blauem Band, der andere mit rotem Kreuz markiert. Wir wählten den Roten. Durchs Unterholz und über steile Waldhänge arbeiteten wir uns Schritt für Schritt unserem Ziel entgegen. Als wir nach 7 Stunden auf dem Semenic Plateau standen und uns ein eiskalter Wind um die Nase wehte, kam die Ernüchterung. Sendetürme, Strommasten, Skilifte, Windräder in den kuriosesten Formen ragten in den Himmel. Das Semenic machte auf mich einen Eindruck wie ein überdimensionales Nagelbrett. Verrostete Wegmarkierungen, die ich kaum noch entziffern konnte, zeigten mir, dass Bergwanderer mit Sicherheit nicht die umworbene Zielgruppe war, die hier oben erwartet wurde.
Mein Eindruck verstärkte sich noch, als am Horizont eine Schafherde auftauchte. Schafe Mitte Oktober, das wunderte mich. Die hätten doch schon längst wieder in den Tälern sein müssen. Wir liefen weiter. Doch nicht lange und die Schutzhunde hatten uns erspäht. Kläffend rannten sie auf uns zu. Helga packte einen Stein, groß wie ein Kinderkopf, und hielt ihn der Meute drohend entgegen. Das wirkte: Die Hunde kläfften zwar noch blieben aber in respektvollem Abstand, sodass wir einen Bogen um die Herde machen konnten. Den Trick musste ich mir merken. Stöcke oder gar Hundeabwehrgeräte hatten bis jetzt nie 100%ig funktioniert. Was Narben an meinem Unterschenkel bewiesen.
Wir steuerten auf ein Schild zu, auf dem unter zwei Sternen Bett sowie Speis und Trank offeriert wurden. Die Hütte nannte sich Cabana Andra. Ein kleiner Husky begrüßte uns schwanzwedelnd. Rex, der alte Schäferhund, mochte uns weniger. Zwei Männer und eine Frau machten sich an der Hütte zu schaffen. Der eine kümmerte sich mit einem Beil in der Hand um die Brennstoffvorräte für den Winter. Der andere nagelte Bretter auf das Vordach. Die Frau half ihm bei der Arbeit. „Cazare aveți?“ fragte ich. Die Frau beendete ihre Arbeit und führte uns schnurstracks ins Haus. Da wir die einzigen Gäste waren, hatten wir freie Auswahl bei den Zimmern. Es gab Zimmer mit zwei, drei, fünf und acht Betten. Wir entschieden uns für ein Zweibettzimmer. Aber was viel wichtiger war: Die hatten eine Dusche mit warmem Wasser. Ein guter Grund, zwei Nächte zu buchen und morgen einen Ruhetag einzulegen.
Fit und munter setzten wir uns am nächsten Morgen pünktlich um 9:00 Uhr an den Frühstückstisch. Wollten sich die Wirtsleute für die verschandelte Landschaft des Semenic entschuldigen oder sahen wir nach fast zwei Wochen Karpaten so mitgenommen aus? Das Frühstück war der Hammer.
Auf dem Tisch stapelten sich die Speisen. Von dem Brot, das in einem Korb in der Mitte des Tisches stand, hätte ich daheim wohl eine Woche essen können. Unsere Teller bedeckte Schafskäse, Schnittkäse, Salami, Paprika und Tomaten mit Oliven. Hatte man das alles vertilgt, konnten wir zwischen Pastete, Fruchtmarmelade oder Gemüseaufstrich wählen, hier Zacusca genannt. Damit noch nicht genug servierte uns der Koch noch zwei Spiegeleier für jeden. Wasser und Kaffee spülten auch den letzten Bissen hinunter. Bis zum Platzen voll schlenderten wir nach draußen, um ein wenig herumzulaufen. Die Bäume hatten die meisten Blätter schon abgeworfen, der Rest hatte eine rostige Farbe angenommen. Es wollte sich keine rechte Herbststimmung bei mir einstellen. Die Hotels des Skiortes schlummerten zwar noch vor sich hin, doch Drumherum herrschte schon emsiges Treiben. Schließlich würde es bis zum ersten Schnee nicht mehr lang dauern.
Ein LKW brachte Teile für einen Skilift, und einige Bauarbeiter versuchten emsig, ein Projekt in Form eines neuen Hotels zu beenden. Andere Arbeiter hockten in einem Kiosk bei Zigarettenqualm, Bier und Kartenspiel. Das mit dem Bier war eine gute Idee, da ich heute eh ne ruhige Kugel schieben wollte, könnten wir uns ein Bierchen kaufen und mit aufs Zimmer nehmen, dachte ich mir. Gesagt getan. „Avem Tuborg, Stella Artois, ...“ bot mir der Verkäufer an. „Două Ursus, vă rog“, verlangte ich. „Ah Ursus, din Cluj“ freute sich der Verkäufer und auch von den Sitzen traf uns ein zustimmendes Gemurmel. Warum mir in Rumänien nie rumänisches Bier angeboten wurde, verstand ich nicht. Hielten die Rumänen ihre eigenen Produkte für minderwertige Ware?
Zurück auf dem Zimmer tranken wir unser Ursus und vertrieben wir uns die Zeit bis zum Abendessen mit Mensch-ärger-dich-nicht-Spielchen. Hier sei erwähnt, dass ich drei Spiele in Folge gewann. Das Abendessen rückte näher. Wir hatten Steak bestellt. Nach einer Tuica, die der Wirt spendierte, kam er mit dem Essen. Auf dem Teller lag nicht nur ein Stück Fleisch, nein, es waren zwei Steaks, die jeder nun zu verdrücken hatte. Seit 1988 habe ich keine Berghütte in den Karpaten kennengelernt, wo wir so durchgefüttert wurden. Es war ein gelungener Abschluss unserer Tour. Morgen mussten wir absteigen bis in das Dorf Slatina Timiș. Dort wollte uns Răzvan wie vereinbart abholen. Auf meiner Karte war der Weg vom Semenic bis zum Dorf mit 5 bis 5 ½ Stunden angegeben. Nach 3 ½ Stunden erreichten wir Brebu Nou, auf deutsch Weidenthal. Das Dorf, 1828 von deutschen Auswanderern aus Böhmen gegründet, liegt an einem Stausee der „Trei Ape“ („Drei Wasser“) heißt. Die meisten Deutschen leben schon lang nicht mehr in ihrem Dorf, dafür hat es jetzt Mülltonnen aus Singen. Auf einem Schild am Ortsrand stand „18 km“ bis Slatina Timiș. Der Verfasser meiner Wanderkarte musste Marathonläufer gewesen sein. Für uns stand fest, vor dem Einbruch der Dunkelheit würden wir Slatina Timiș nicht mehr erreichen. Es sei denn, ein Auto würde uns mitnehmen. Doch wir hatten kein Glück. Helga hörte zwar schon weitaus früher als ich die Motorengeräusche, doch die Fahrzeuge kamen uns meist entgegen. Lediglich auf den Schutzblechen eines Traktors hätten wir es uns bequem machen können. Wir verzichteten dankend.
Auf einer Wiese im Tal des Slatina Baches bauten wir unser Zelt auf. Es fing an zu regnen. Auch am nächsten Tag regnet es noch. Gegen Mittag erreichten wir Slatina Timiș. Hunde, Kühe und Frauen mit Broten kamen uns entgegen. Wir fanden zwar keinen Laden, dafür aber die Dorfkneipe. Innen war die Luft so neblig wie draußen. Es herrschte Hochbetrieb. Männer spielten Karten, Jugendliche gaben sich die Kante und in der Ecke schien jemand den Spielautomaten zu vergewaltigen. Wir tranken einen Kaffee und überlegten uns, wo wir heute schlafen sollten. Als wir ins Dorf liefen, hatte ich an einem Haus auf der linken Straßenseite „Cabana“ gelesen. Wir entschlossen uns aber, einen Platz für unser Zelt zu suchen. Wir fanden ihn auf der Dorfweide zwischen der Fernverkehrsstraße und dem Timiș-Bach. Ich machte mich noch einmal auf die Suche nach dem Dorfladen, um etwas zum Abendessen zu kaufen und war diesmal erfolgreicher. Ein alter Mann zeigte auf eine Tür am Haus gegenüber. Und tatsächlich: Hinter der Haustür war der Laden. Als besondere Spezialität gab es Zacusca, den Gemüseaufstrich wie wir ihn in der Cabana Andra auf dem Semenic gegessen hatten. Sie schmeckte zwar nicht so gut, war aber eine willkommene Abwechslung zur rumänischen Einheitssalami. Zum Abend hörte es auf zu regnen und am nächsten Tag weckten uns Sonnenstrahlen und Milchkühe. Neugierig glotzten sie in unser Zelt, wedelten mit dem Schwanz und trabten weiter. Wir packten unsere Sachen und schlenderten vor an die Hauptstraße, um auf Răzvan zu warten.

9. Ausklang

Wie versprochen bog der graue Dacia gegen 11:00 Uhr um die Ecke. Als Kultureinlage fuhr uns Răzvan nach Hunedoara zur dortigen Burg. 1452 ließ der Fürst Johann Hunyadi die Burg auf den Resten einer Festungsanlage aus dem 12. Jh. errichten. Eine Attraktion ist der über 18 m tiefe Brunnen, den 3 gefangene Türken in den Fels gegraben haben sollen. Der Fürst versprach ihnen die Freiheit, wenn sie auf Wasser stießen. Nach 9 Jahren war es endlich so weit. Doch die Freiheit bekamen sie nicht, da der Fürst mittlerweile gestorben war und sein Versprechen nicht mehr einlösen konnte. Sein Nachfolger ließ die drei von der Burgmauer werfen. Ihre letzten Worte an den Fürsten waren: „Wasser habt ihr jetzt, aber kein Herz“, erzählte uns Răzvan. Der Autor Jules Verne soll die Burg als Vorbild genommen haben für seinen Roman „Das Schloss in den Karpaten“.
Bis Deva war es nun nicht mehr weit. Da unser Zug erst kurz vor Mitternacht fuhr, fuhren wir mit Devas neuester Attraktion – einer Seilbahn, die auf den 371 m hohen Burgberg führte. Der Berg, ein Vulkankegel, gehört zur Poiana Ruscă. Die Burg diente den siebenbürgischen Fürsten als Grenzfestung über dem Muresch-Gebiet. Eine Explosion von Schießpulver zerstörte die Burg 1849.
Als die Sonne hinter den Hügeln verschwunden war, traten auch wir den Heimweg an. Wir verabschiedeten uns von Răzvan, der uns noch bis zum Bahnhof begleitete. Der Zug kam pünktlich, die Abteiltür musste diesmal nicht verriegelt werden. Anscheinend brauchte man Reisenden, die aus Rumänien kommen, keine Warnhinweise mehr erzählen. Die wissen Bescheid, heißt wohl das Motto. Mal sehen, was uns so alles auf der nächsten Tour ins Land der unbegrenzten Unmöglichkeiten aufgetischt werden würde.

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