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Tatras Westen

(Karpatentour Oktober 2010 – Polen)

1. Teil

Inhalt

  1. Information und Desinformation
  2. Bären und Gämsen
  3. Unter Tage
  4. Über Stock und Stein
  5. Informationen

Bisher hatte ich die Westliche Tatra nur am Rande berührt, es wurde also Zeit, das Gebirge einmal ausführlich kennenzulernen. Von meinen früheren Wanderungen durch die Hohe Tatra wusste ich, dass der Herbst dort oft recht schön ist, so legte ich den Termin auf die ersten beiden Wochen im Oktober, in der Hoffnung, der Winter würde noch ein Weilchen warten.

1. Information und Desinformation

Die Zugfahrt von Freiburg in Richtung Osten hatte etwas, die Schaffnerinnen sprachen nur russisch und in den Liegewagen zierten rote Teppiche den Fußboden – ich hatte das Gefühl, mit der Transsib von Freiburg nach Warschau zu fahren.
Es erforderte etwas Geschick, mich auf die Pritsche zu hieven, da russische Liegewagenabteile offensichtlich ohne Leiter auskommen, mit der man ins obere Bett klettern könnte. Ich kraxelte also hoch und oben angekommen, wurde mir klar: Du hast etwas vergessen mitzunehmen – Ohropax. Das Abteil lag neben der Toilette und alle fünf Minuten plätscherte es in die Blechschüssel.
Doch auch gegen schnarchende Zeitgenossen auf Berghütten hätten mir die Ohrstöpsel einen wertvollen Dienst erwiesen – ich musste damit leben.
Mit fast zwei Stunden Verspätung erreichte ich die polnische Hauptstadt. Was an sich kein Problem war, musste ich so laut meinem Fahrplan nur noch 15 Minuten auf den Anschlusszug nach Zakopane warten. Ich studierte den Abfahrtsplan auf dem Bahnhof, um herauszufinden, auf welchem Bahnsteig der Zug abfuhr – und schaute und schaute und konnte keinen Zug um 12:15 Uhr in Richtung Zakopane entdecken. Langsam nervös werdend versuchte ich mein Glück am Fahrkartenschalter. Ein Passant, der neben mir stand, übersetzte mein Anliegen, da die Dame am Schalter kein Englisch und ich kein Polnisch sprach.
Um 12:15 Uhr fahre kein Zug nach Zakopane, erst wieder um 14:02 Uhr vom Gleis 3. Da staunte ich nicht schlecht, denn laut meiner Zugverbindung, die ich übers Internet herausgesucht hatte, sollte um 12:15 Uhr der Anschlusszug nach Zakopane fahren. Und auch auf dem Fahrplan stand diese Zeit, den man mir in Freiburg auf dem Bahnhof beim Kauf der Fahrkarte mitgegeben hatte. Zwei Mal war ich geballter Desinformation aufgesessen.
Jetzt hatte ich nicht nur Zeit ohne Ende, auch meinen Plan, noch am gleichen Abend ins Gebirge aufzusteigen, konnte ich begraben. Abends gegen halb neun würde ich erst Zakopane erreichen, vorausgesetzt der Zug ist pünktlich. Ich erreichte mein Ziel kurz vor neun. Eiskalte Abendluft schlug mir entgegen, als ich aus dem Zug kletterte. Ich konnte mich noch blass an das Hotel Adria erinnern, in dem wir vor drei Jahren übernachtet hatten, und lenkte meine Schritte in Richtung Innenstadt.
Das Adria-Hotel selbst finde ich ganz nett, es liegt zum einen sehr zentral an Zakopanes Flaniermeile, zum anderen aber auch recht ruhig aufgrund des benachbarten Stadtparks. Ich hatte Glück, ergatterte ein Einzelzimmer für 100 Zł (25 EUR) und konnte mich am nächsten Morgen durchs Frühstücksbuffet schlemmen. So gestärkt machte ich mich auf den Weg in Richtung Westtatra.

2. Bären und Gämsen

Ich wählte den Weg durch den „Weißen Wald“ ins Tal Strążyska Dolina, entrichtete am Eingang meinen Wegezoll und folgte dem Bach Strążyski Potok zur Strążyska-Alm. Den Weg markierte das rote Band. Die Sonne schüttete ihr Licht auf den Hauptkamm, der weiß und kalt weit vorn unter blauem Himmel funkelte. Wie düstere Riesen reckten sich die Jelinka-Felsen über dem Tal. Noch waren recht wenig Wanderer unterwegs. Erst eine halbe Stunde später an den Almhütten wurde es lebendiger. Die meisten Tageswanderer kehrten hier kurz ein auf einen Tee, ein Stück Kuchen. Ich wollte mir den Siklawica-Wasserfall ansehen, bevor es weiter hoch zum Giewont ging, es sind nur 15 Minuten bis dorthin. Nur ein dünnes Rinnsal plätscherte den Fels hinunter – ich war enttäuscht.
Nun wurde es anstrengend, laut Wegweiser sind es knapp 3 Stunden bis zum Giewont-Gipfel und die Zeit brauchte ich auch. Das erste Drittel des Weges führte durch dichten Bergwald steil bergauf. Als sich der Wald lichtete, wurde es etwas flacher. Kalkfelsen neben und über mir. Ich machte nur eine kurze Pause, schubste meinen Rucksack von links nach rechts, je nachdem, welche Schulter gerade am heftigsten ärgerte. Je höher ich kam, desto mehr Wanderer kommen mir entgegen. Wo die wohl auf einmal alle herkommen? Im Sattel Wyżnia Kondracka Przełęcz unterhalb des Gipfels ist Mittag. Ich futterte einen Energie-Riegel, trank einen Schluck Sprudelwasser und ging den mit Ketten gesicherten Gipfelweg an. Der Weg folgt entgegen dem Uhrzeigersinn auf der Ostseite bergauf, auf der Westseite bergab, damit sich die Wandermassen nicht in die Quere kommen. Mit meinem wuchtigen Rucksack musste ich etwas exotisch zwischen all den Tagestouristen gewirkt haben. Irgendeiner faselte was. Ich verstand nur Himalaja – ob der sich über mich lustig machte? Noch unten am Aufstieg träumte ich von einem Gipfelfoto unterm Giewont-Gipfelkreuz. Als ich oben ankam, musste ich aufpassen, den Leuten nicht auf die Zehen zu treten. So schnell es ging, hangelte ich mich wieder nach unten, meinem Tagesziel der Berghütte Schronisko na Hali Kondratowej entgegen.
Vor der Hütte herrschte Oktoberfeststimmung. Auf den Bänken und der Almwiese hockten die Leute, futterten Bigos, Würstchen und tranken Bier. Ich grübelte: Sollte ich überhaupt nach einer Übernachtung fragen oder besser gleich weiterlaufen in Richtung Zakopane? Dann entschied ich mich auf ein Żywiec-Bierchen in die Hütte zu gehen und fragte nach einer Unterkunft für eine Nacht. Es klappte. Von den 6 Betten im Zimmer waren nur zwei belegt, zwei polnische Wanderinnen wollten morgen weiter in Richtung Hohe Tatra. Mit der Sonne verschwanden auch die Tagestouristen und es wurde ruhig in den Bergen. Es war noch hell und ich raffte mich auf zu einem kleinen Spaziergang, auf die Hala Kondratowa-Alm.
An einer Böschung über dem Wanderweg standen drei Typen herum. Zwei von ihnen hatten ein Fernglas dabei, durch das sie den Hang gegenüber beobachteten. Einer der Drei rief mir etwas zu, ich verstand natürlich kein Wort. Als ihm das klar wurde, rief er aufgeregt: „Urs, Urs, tam“ – und zeigte auf den Hang nach oben. Jetzt kapierte ich, die hatten einen Bären entdeckt. Ich kletterte die Böschung hoch und bekam das Fernglas. Angestrengt scannte ich den Berghang ab, konnte aber außer Latschen und Heidelbeerkraut nichts entdecken. Der Mann zeigte immer wieder in die Richtung, wo der Bär sein sollte und rief „tam, tam“ (dort, dort). Und wenn ich den Kopf schüttelte, kommentierte er es mit einem „kurwa“ (Scheiße).
Doch endlich, zwischen den Büschen bewegte sich ein grau-brauner Fellbrocken, ich hatte ihn entdeckt. Der Bär trottete durch die Heidel- und Preiselbeerbüsche und fraß sich seinen Winterspeck an. Da musste es 22 Jahre dauern, bis ich meinen ersten Karpatenbären zu sehen bekam. Und das gleich am ersten Tag meiner Tour in einem Gebiet, das wahrlich nicht als einsame und abgelegene Wildnis durchgehen würde.
Mit den ersten Sonnenstrahlen verließ ich die Berghütte am nächsten Morgen und stieg 530 Höhenmeter in Richtung Hauptkamm hinauf zum Sattel Przełęcz pod Kondracką Kopą (1863 m). Je höher ich kam, desto windiger wurde es. Das Jaulen am Kamm verhieß nichts Gutes. Im Sattel angekommen, hätte mich der Wind fast wieder ins Tal geblasen. Ich zog meine Kapuze auf, drehte den Kopf zur Seite und folgte dem Nebel und dem roten Band nach Westen. Der Hauptkamm der Westtatra bildet hier die Grenze zwischen Polen und der Slowakei. Weiße Steine mit roten Kappen zeigten den Grenzverlauf an.
Vier Gipfel – alle jenseits der 2000 Meter – stellten sich mir in den Weg. Auf dem zweiten Gipfel, der laut Wanderkarte Małołączniak (2096 m) heißt, riss der Nebel auf. Ich schaute nach Süden und Osten auf ein Wolkenmeer unter mir und einem strahlend blauen Himmel über mir. Die Gipfel der Hohen Tatra schauten durch die Wolkendecke, die Berge im Norden und Westen waren frei. Stolz erhob sich die Bystrá, der höchste Berg der Westtatra, am Horizont. Der Wind blies jedoch immer noch recht kräftig. Der nächste Berg, die Krzesanica, war mit 2122 m der höchste für heute. Ab dort änderte sich auch die Landschaft, steil und felsig ging es auf der Nordseite in die Tiefe, nach Süden zog sich der Kamm mit goldgelbem Gras bewachsen ins Tal Tomanovská dolina auf slowakischer Seite. Am Ciemniak-Gipfel verließ ich den Hauptkamm und wendete mich zum Abstieg nach Norden. Ein Wanderer kam mir auf dem Bergrücken entgegen, blieb an der Hangkante stehen und fotografierte etwas. Neugierig lief ich hinunter und staunte nicht schlecht – keine 10 Meter unterhalb des Wanderweges saß bestimmt ein Dutzend Gämsen seelenruhig am Hang und grasten. Der Mann meinte, dass die Tiere vermutlich aus der Slowakei herüber gekommen sind. Mir war egal, ob die nun illegale Grenzgänger waren oder vom Schengen-Abkommen profitierten, so zahme Gämsen hatte ich bisher noch nicht gesehen. Ich schaute den Tieren eine Weile zu, machte ein paar Fotos und setzte meinen Abstieg fort.
Ein Weg, markiert mit grünem Band, zweigt nach einer Weile nach Süden ab und führt in reichlich 2 ½ Stunden zur Berghütte Schronisko na Hali Ornak, ich folgte ihm. Der Hüttenname über der Einganstür beeindruckte mich schon: Schronisko Górskie im. Walerego Goetla na Hali Ornak stand dort. Dahinter die Höhenangabe – 1108 m. Ob die zuviel Karl May gelesen hatten? Der Bau von 1948 machte einen recht rustikalen Eindruck. Geradeaus steuerte man direkt auf den Speiseraum zu, rechter Hand lag die Bar, auf die ich erst mal zusteuerte. Da ich morgen eine Tagestour geplant hatte, buchte ich für 2 Nächte. Mit einem Bierchen Marke Okocim hockte ich mich erstmal an einen der Tische. Eine Polin setzte sich dazu und erzählte mir, dass es morgen regnen würde. Es war mir egal, auf meinem Programm standen ein paar Höhlenbesuche.

3. Unter Tage

Die Tageswanderer verabschiedeten sich nach und nach, übrig blieb eine Handvoll Leute. Das 8-Bett-Zimmer hatte ich für mich allein.
Am Morgen hingen graue Wolken in den Bergen und es nieselte leicht, die Polin hatte recht gehabt. Eine reichliche halbe Stunde von der Hütte in Richtung Süden liegt der Bergsee Smreczyński Staw, mein erstes Ziel. Das Wasser war fast schwarz, an den Ufern leuchteten goldgelbe Grasbüschel, nur die Berge hatten sich immer noch in Wolken gehüllt. Ich schaute ein Weilchen einem Specht bei der Nahrungssuche zu, er ließ sich durch mich nicht stören. Dann ging es zurück ins Kościeliska-Tal, mein Höhlenabenteuer wartete. Etwa 20 Minuten von der Berghütte talwärts zweigt ein Wanderweg als Einbahnstraße nach Westen ab. Zur Mylna Höhle (rot markiert, 15 Minuten) und zur Raptawicka Höhle (schwarz markiert, 20 Minuten). Dabei ist die Bezeichnung Wanderweg etwas irreführend, denn schon nach den ersten Metern musste ich mich an Ketten am Fels hochzerren. Ich gewann schnell an Höhe. Es hatte aufgehört zu nieseln dafür wehte der Wind wieder stärker.
Nach ein paar Minuten zweigt der schwarz markierte Weg nach rechts den Hang hinauf, ich folgte dem roten Weg und stand bald an einem Loch in der Felswand. Laut meiner Karte handelte es sich um die Höhle Oblazkowa Jama. Das nächste Loch gehörte der Mylna Jaskinia, dort verschwand auch die Rote-Band-Markierung des Wanderweges. Ich folgte ihr. Linker Hand konnte ich durch riesige Felsfenster auf den Osthang des Kościeliska-Tals schauen. Fast eine Stunde soll es dauern, bis man am anderen Ende der Höhlengänge wieder ans Tageslicht tritt. Leider hatte ich weder eine gescheite Lampe dabei noch überzeugte mich mein Orientierungssinn. Jedenfalls stand ich nach einigen Minuten wieder am Eingang der Höhle. Ich hatte keine Lust, es noch mal zu versuchen und nur bis zu meinen Fußspitzen sehend über Geröllbrocken ins Dunkle zu stolpern. Ich wendete mich der zweiten Höhle zu. Der Weg zur Raptawicka-Höhle hatte Klettersteigcharakter. Senkrecht ging es mehrere Meter den Fels hinauf. Ketten sicherten meinen Aufstieg. Die Kraxelei endete auf einem Felssims, auf der anderen Seite ging es an einer Eisenleiter hinab in die Tiefe. Mir viel es nicht leicht, meine steifen Knochen über den Grat auf die Leitersprossen zu fädeln. Langsam, Schritt für Schritt tatstete ich mich nach unten. Dort angekommen verschwindet der Fels links und rechts in der Finsternis. Es machte für mich keinen Sinn weiterzulaufen. Den Weg, den ich gekommen war, kletterte ich wieder zurück. Hier müsste man noch mal mit einer gescheiten Lampe im Gepäck zurückkommen, dachte ich mir.
Das nächste Highlight im Kościeliska-Tal hieß Krakauer Schlucht. Ein gelb markierter Wanderweg weist an der Ostseite zum Schluchtbeginn. 55 Minuten soll der Weg durch die Schlucht bis zur Pisana-Alm dauern. Es war nicht das erste Mal, dass ich auf Wegweisern solch minutengenaue Zeitangaben las, wo 5 Minuten bis zur vollen Stunde fehlten. Ob da Psychologie eine Rolle spielte? 2 Stunden und 55 Minuten klingt halt weniger als 3 Stunden, ist wie mit den .99 EUR Preisen.
Schon nach ein paar Metern verengt sich das Tal. Dunkle feuchte Felsen ragen auf beiden Seiten in die Höhe, auf dem Boden liegen nackte Baumleichen zwischen abgerundeten Felsbrocken. Durch die Bäume drangen ab und zu Sonnenstrahlen, die wie Spotlichter leuchtende Akzente setzten. Ich mochte Schluchten und diese hier gefiel mir sehr gut. Wo die Felsen auseinanderrücken, klettert der Pfad links den Hang hinauf. Das erste Stück ging es auf einer Leiter nach oben, anschließend sicherten wieder Ketten den Aufstieg. Ein schwarzes Loch rechts am Weg gehört der Höhle Smocza Jama, Ketten verschwanden in der Finsternis. Bald erreichte ich die Pisana Almwiese und das Kościeliska-Tal.
Das Tal hatte sich mittlerweile in eine Touristenautobahn verwandelt. Mehrere Schulklassen strebten der Berghütte entgegen, angeführt von einem Bergführer der polnischen Bergwacht. Die Nationalparkidee finde ich auf beiden Seiten des Tatra-Nationalparks beispielhaft umgesetzt. Wenn ich mir überlege, wie viele Menschen jährlich das relativ kleine Gebirge besuchen, hat es doch von seiner Ursprünglichkeit nichts verloren. Es ist in großen Teilen wild, natürlich und vor allem sauber.
Ich näherte mich dem letzten Abschnitt des Tals und auch meinem letzten Unternehmen hier. Etwas abseits am Osthang liegt die Höhle Mroźna Jaskinia. Die Höhle wurde als Schauhöhle eingerichtet, ist also beleuchtet, ich konnte meine Stirnfunzel stecken lassen. 3 Zł kostete der Eintritt. Ich hatte Glück, Schulkinder schoben sich gerade durch den engen Gang ins Bergesinnere zu einer Höhlenführung. Ich schob mich hinterher. Es war eng, kalt und feucht. Manchmal so eng und niedrig, dass ich auf allen Vieren vorwärts krabbeln musste. Im Grunde genommen ist die ganze Höhle nur ein enger Gang, der ohne nennenswerten Höhenunterschied im Berg verläuft. Die sonst für Höhlen typischen Sinterformen, wie Stalaktiten und Stalagmiten fehlten, auch große geräumige Hallen hatte sie nicht. Dafür etwas, was ich bisher noch in keiner Höhle gesehen hatte – an der Höhlenwand hing kopfüber eine Fledermaus beim Mittagsschläfchen. Nach einer reichlichen halben Stunde trat ich wieder ans Tageslicht. Eine steile Holztreppe führte mich hinunter, zurück ins Kościeliska-Tal.
Mehrmals schon hatte ich auf den Berghütten beobachtet, wie Polen mit einem Trinkröhrchen Bier schlürften, das rot im Glas leuchtete. Das musst du auch mal probieren, hatte ich mir gedacht. Der Dame an der Bar meinen Wunsch zu erläutern, war jedoch alles andere als leicht. Englisch verstand sie kaum. Mit der Kombination von „red“ und „pivo“ konnte sie scheinbar nichts anfangen. Sie wollte mir partout einen Rotwein kredenzen. Nach ein paar erfolglosen Minuten stellte sich bei ihr doch der Aha-Effekt ein. Sie lachte, füllte das Bierglas und gab einen Schuss Himbeersirup dazu. Dann steckte sie ein Röhrchen ins Glas und ich konnte meine polnische Version eines Radlers oder einer Berliner Weiße genießen.

4. Über Stock und Stein

Etwas ungeduldig trampelte ich am Morgen von einem Bein auf das andere. Es war kurz vor acht. Der Himmel war blau, die Sonne schien. Ich wollte schon längst in den Bergen sein, hatte aber noch meinen Zimmerschlüssel und die Rezeption war noch geschlossen. Um acht Uhr kam Bewegung in die Hütte. Schlüssel klapperten, die Tür wurde geöffnet, ich konnte endlich weiter.
Der Weg, mit gelbem Band markiert, führte in den Sattel Iwaniacka Przełęcz. Zwei Polen überholten mich. „Bystrá“, fragte der eine. Ein Hauch von Sliwowitz schlug mir entgegen. Ich wollte nicht auf den höchsten Berg der Westtatra, sondern zur nächsten Berghütte, der Schronisko na Chochołowskiej Polanie. Da gab's zwei Möglichkeiten: Dem gelb markierten Weg über den Sattel folgen oder einen grün markierten Weg nach Süden zum Hauptkamm gehen. Ich entschied mich für den Kammweg. Steil ging es bergauf zum Gipfel des Ornak (1854 m). Bergkiefern streiften meinen Rucksack. Links unter mir erstreckte sich das Kościeliska-Tal, rechts konnte ich schon die Bergwiese Chochołowska Polana und die Hütte erkennen. Bis dort sind es aber noch gut 6 Stunden. Weit vor mir liefen die beiden Polen in Richtung Bystrá. Stolz erhob sich die Gipfelpyramide des höchsten Berges in den blauen Himmel. Ich wendete mich nach Westen. Vor mir baute sich der Gipfel des Starorobocianski Wierch (slowakisch: Vysoký vrch – der Hohe) auf, 2176 m hoch. Schritt für Schritt stapfte ich über hart gefrorene Restschneeflecken, meinem höchsten Gipfel auf dem Hauptkamm der Westtatra entgegen. Er wurde lediglich vom Banikov, im Roháče-Massiv, um 2 Meter übertroffen. Die noch höheren Berge der Westtatra liegen alle auf Nebenkämmen.
Der Gipfel war komplett schneefrei, der Regen gestern hatte ganze Arbeit geleistet. Nur an den Nordseiten der Berge leuchteten noch widerspenstige Schneeflecken zwischen schwarz-grauen Fels. Auf dem Gipfel des Kończysty Wierch (2002 m) verließ ich den Hauptkamm, wendete mich nach Norden und begann meinen Abstieg. Auf dem Trzydniowiański Wierch (1758 m) hatten bereits Wolken die umliegenden Pässe eingehüllt. Nur ab und zu schaute die eine oder andere Bergspitze aus dem Nebel. Ich holte meine Trinkflasche und einen Knabberriegel raus und hockte mich auf die Wurzel einer Bergkiefer. Bunte Punkte klebten unter mir an den Hängen. Ich tippte auf Wanderer, doch dort, wo sich die Punkte bewegten, gab es keine Wanderwege. Als ich näher kam, erkannte ich es – Preiselbeerpflücker standen mitten im Steilhang und machten den Tatra-Bären Konkurrenz. Der Weg ins Tal lief sich schlecht, stellenweise hatte man ihn zum Holztransport missbraucht. Ich wunderte mich. Durfte man in einem Nationalpark Bäume fällen?
Die Sonne war gerade im Begriff unterzugehen, als ich die Bergwiese Chochołowska Polana erreichte. Bis zur Hütte war es nicht mehr weit. Handwerker wuselten um den Bau, der in einem Gerüst steckte. Die Schronisko na Chochołowskiej Polanie, ist die bisher größte Hütte, die ich in der Westtatra kennenlernte. Ich leistete mir den Luxus eines Doppelzimmers für 40 Zł und zum Abendessen ein Hühnersteak.
Der Morgen war klar und kalt, die Bergwiese überzog eine Raureifdecke. Heute würde ich den polnischen Teil der Westtatra verlassen. Der Aufstieg zum Gipfel Grześ (slowakisch: Lúčne, 1653 m) war nicht so steil wie der Gestrige. Ein blau markierter Weg zieht sich über den Bergrücken Długi Upłaz bis zum Gipfel des Rakoń (1879 m). Hier endete für mich die polnische Westtatra. Vor mir im Süden baute sich der wohl spektakulärste Teil des Gebirges auf – das Roháče-Massiv. Mit einem Schritt überquerte ich die Landesgrenze und betrat die Slowakei – Schengen sei Dank. Slowakei

– Ende des ersten Teils –

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