(Karpatentour September 2007 – Slowakei)
Für unsere Herbst-Tour durch die Tatra-Berge sprach einiges: So interessierte ich mich für den polnischen Teil der Westtatra, zudem reizte mich, mal ein Stück auf dem Kamm der Hohen Tatra entlang zu kraxeln. Vor allem aber wollte ich dem höchsten Berg der Karpaten, der Gerlsdorfer Spitze (Gerlachovský štit, 2655 m), einen Besuch abstatten. Für die Tatra sprach letztlich auch die relativ gute Versorgung mit Hütten, denn wir wollten auf dieser Karpatentour einmal auf Zelt, Isomatte und Schlafsack verzichten, also mit leichtem Gepäck durch die Bergwelt wandern.
Bei der Gerlsdorfer Spitze wollte ich auf die sichere Seite gehen. Als Alpenvereinsmitglied
hätte ich laut Nationalparkordnung die Tour zum höchsten Berg der Karpaten auch ohne
Bergführer machen dürfen. Doch da ich kein Bergsteiger bin, wollte ich auf einen Bergführer
nicht verzichten. Schon früh nahm ich per E-Mail Kontakt mit Tibor Hromadka auf, einem
Bergführer aus Spišská Nová Ves (Zipser Neudorf) am Rande des Slowakischen Paradies.
Zwei gute Gründe sprachen für ihn: Tibor sprach Englisch, vor allem aber war er ein nach
der UIAGM (Internationale Vereinigung der Bergführerverbände) geprüfter Bergführer. Der
damit verbundene Standard war mir wichtig. Außerdem war er in meinem Alter und stand
laut seiner Homepage schon auf dem Everest. Wir hatten den 11. September für den
Aufstieg vorgesehen und wollten uns frühmorgens am Sliezsky dom (Schlesierhaus), einem
Berghotel am Fuße der Gerlsdorfer Spitze, treffen und hofften am Nachmittag wieder zurück
zu sein.
Zu meinen weiteren Vorbereitungen gehörten ein Klettersteigkurs mit dem DAV im Sommer,
ein neues Klettersteigset im Rucksack und neue Wanderschuhe. Mit Letzteren an den Füßen
startete ich am 8. September gegen 13 Uhr in Freiburg und hatte am Hauptbahnhof schon
meine erste Blase.
Helga stieg in Karlsruhe zu. Wir fuhren über Mannheim und Fulda nach Dresden, unser Ziel
hieß Poprad (Deutschendorf) am Fuße der Hohen Tatra in der Slowakei. Unser Zug hatte
etwas Verspätung, weshalb ich wie immer unruhig wurde wegen des Umsteigens in
Dresden. Ich mochte den Bahnhof nicht. Musste man doch mitunter hoch und runter, kreuz
und quer, fast Tageswanderungen bewältigen, um vom Ankunftsgleis zum Abfahrtsgleis zu
kommen. Dieses Mal hielt sich die Strecke zwar in Grenzen, aber unser Zug stand schon
abfahrbereit auf Gleis 14, und da der Kurs-Wagen in die Slowakei das Schlusslicht bildete,
rannten wir dann doch die letzten Meter.
Das Schlafwagenabteil war zwar eng, aber man hat es im Gegensatz zu den Liegewagen für
sich alleine. Und mit dem eigenen Waschbecken und den zwei Flaschen Mineralwasser aus
den Karpaten kam schon fast ein gewisser Komfort auf. Ich war zufrieden und erwartete voll
Spannung den nächsten Morgen.
Der erste Blick aus dem Fenster brachte mich auf den Boden der Realität zurück – es
regnete. Poprad bereitete uns einen kühlen Empfang, von den Bergen der Hohen Tatra
schauten nur ab und zu Fragmente aus der Wolkenschicht heraus, und selbst die verhießen
nichts Gutes – auf den Berghängen lag Neuschnee.
Die Wechselstube auf dem Bahnhof hatte trotz Sonntag geöffnet, das freute mich. Auf etwa
20 Euro pro Person und Tag hatte ich unsere Ausgaben geschätzt. So tauschten wir erst mal
600 Euro und bekamen einen ganzen Packen Geldscheine dafür, etwas über 20 000
Slowakische Kronen.
Die Gemeinden am Fuße der Hohen Tatra sind verkehrsmäßig sehr gut verbunden. Von
Poprad fahren Busse oder die „Elektritschnaja – die Elektrische“ – ein Triebwagen. Wir
entschieden uns für das Bähnle bis Starý Smokovec (Altschmecks). Von dort wollten wir zur
Zamkovského chata (Zamkovský-Hütte) laufen und je nach Lust und Laune vielleicht noch
weiter bis zur Téryho chata (Téry-Hütte).
Es regnete gerade nicht mehr, als wir nach einer halben Stunde Zugfahrt in Starý Smokovec
aus dem Bähnle stiegen. Der Weg, mit einem grünen Band markiert, führte durch das vom
Orkan am 19. November 2004 verwüstete Waldgebiet am Fuße der Hohen Tatra. Auf einer
Fläche von 50 x 3 km, von den Ortschaften bis zum Fuße der Berge, streckten nur noch
vereinzelt Fichten wie windschiefe Fahnenmasten ihre Wipfel zum Himmel. Die Flächen
waren weitestgehend abgeräumt. Von einem deutschen Wanderer erfuhr ich später, dass
das Holz überwiegend nach Deutschland und Österreich gegangen sei. Schon einmal, vor
rund 70 Jahren, hatte ein ähnlicher Sturm über der Hohen Tatra gefegt mit ähnlich
verheerenden Auswirkungen auf den Wald. Helga entdeckte vereinzelt junge Bäume. Sie
erinnerte sich, dass Förster bei einer Begehung von Sturmflächen in Karlsruhe vor einigen
Jahren darauf hingewiesen hatten, vereinzelt stehende überlebende Bäume sollten
möglichst bald wieder „Nachbarn“ bekommen. Denn einzelne Exemplare auf weiter Flur
sterben oft in den ersten Jahren nach dem Sturm dann noch ab, da sie schutzlos der
intensiven Sonneneinstrahlung ausgesetzt sind.
Der Wanderweg folgte zum Teil der Straße nach Hrebiniok (Kämmchen), einem Skigebiet
am Fuße der Berge. Irritiert schauten wir auf die deutlichen Zeichen auf dem Rad- und
Rollerweg, die uns belehrten, dass dort Fußgänger unerwünscht waren. Also liefen wir auf
der Seite, die den Autos vorbehalten war, das schien immerhin in Ordnung zu gehen. Später
erfuhr Helga auch den Grund des Fußgänger-Verbotes. Vom Kämmchen rasten Touristen
mit Rollern die Straße herunter, die jeden Spaziergänger platt gemacht hätten, der ihnen in
die Quere gekommen wäre.
Auf dem Weg bis zum Hrebiniok regnete es. Danach ging es bis zur Zamkovského chata
meistens über die berüchtigten Buckelpisten der Tatra. Um der Erosion entgegenzuwirken,
sind viele Teile auf dem Hauptwanderweg, der sogenannten Tatra-Magistrale, mit Steinen
gepflastert worden. Diese Steine sind nicht mehr bündig verlegt, sondern haben sich mit der
Zeit abgerundet, liegen uneben – und waren so recht nervig zu laufen. Diese Wege stehen
einem Geröllfeld in nichts nach. Im Gegenteil: Auf einem Geröllfeld können wir von Stein zu
Stein hüpfen. Auf den Wegen aber liegen die Steine irgendwie immer so, dass der Fuß in
eine Richtung abknickt, egal wie man die Sache angeht, was auf die Dauer zermürbt.
Immerhin war das für mich nichts Neues, neu waren die Menschenmassen, die sich die
Magistrale entlang wälzten. „Hier ist es wie in Delhi auf dem Bahnhof“, frotzelte Helga.
Slowakische, polnische, russische, ungarische, französische, englische und deutsche
Sprachfetzen drangen uns in die Ohren – und wollte man stehen bleiben und sich die
Gegend ansehen, musste man auf die Seite treten, da sonst ein Stau unweigerlich die Folge
wäre. Helga hatte in zurückliegender Zeit immer wieder mal gesagt, dass ihrer Einschätzung
nach die Hohe Tatra „in“ ist und das nicht nur im Osten Europas. Bislang habe ich das nie so
recht glauben wollen. Die internationalen Horden hier auf dem Weg sprachen aber für diese
Annahme. Vor der Hütte sah es aus wie auf dem Oktoberfest. Sie spüre bereits erste
Anzeichen einer Menschenallergie, meinte Helga süffisant, wohl wissend, dass ich ihr die
Tatra außerhalb der Sommerferien als weitgehend ruhige einsame Gegend beschrieben
habe. Auf der rummeligen Hütte wollte sie nicht bleiben. Selbst die buddhistischen
Gebetsfähnchen, die an der Hütte flatterten, konnten sie nicht umstimmen. Mir war es recht,
auf der Téryho chata hatte ich noch nicht übernachtet. Von dort könnten wir je nach Wetter
und Wegverhältnisse morgen über die Zbojnícka chata (Räuberhütte) zum Berghotel
Sliezsky dom (Schlesierhaus) gehen.
Der Weg zur Hütte folgte dem Tal Malá Studená dolina (Kleines Kohlbachtal) und lief sich
deutlich angenehmer als die Magistrale. Je weiter wir bergauf stiegen, desto kälter wurde es.
Am Ende des Tals fielen die ersten Schneeflocken, und vor der Hütte hatte der Winter
Einzug gehalten. Eine dichte Schneedecke verdeckte die Seen, die umliegenden Berge
konnten wir nur erahnen.
Die Hütte schien von außen größer als von innen. Um die 5 Tische drängten sich die
Wanderer in ihren feuchten Klamotten. Hoffentlich haben die noch Betten frei, dachte ich mir.
Doch wir hatten Glück, in einem engen dunklen Raum standen zwei 3-Etagen-Betten. Diese
„Konservendose“ teilten wir mit zwei Holländern. Die Tische schienen nach Nationalitäten
aufgeteilt zu sein. Die Holländer saßen am Nachbartisch, links von uns sowie in der äußeren
rechten Ecke hockten Slowaken, der Tisch ihnen gegenüber gehörte einer Gruppe Russen.
Da wir Halbpension gebucht hatten, ließen wir uns beim Abendessen überraschen. Der
Hüttenwirt brachte uns je einen Teller mit Klößen, Buchty genannt. Sie schmeckten süß,
etwas gewöhnungsbedürftig, aber sie machten satt. Die Holländer aßen das Gleiche, bei den
Slowaken dominierten Knoblauchsuppe und Bier, bei den Russen kreiste die Wodka-
Flasche. Wegen des Wetters sorgte ich mich um meine Tour auf die Gerlsdorfer Spitze. Ich
rief Tibor an. Er wollte sich aber noch nicht festlegen. Ich sollte ihn morgen Abend anrufen.
In der Nacht hatte es kräftig geschneit. Den Geröllhang unterhalb der Hütte bedeckte jetzt
eine weiße Decke. Die Felsen ringsum versteckten sich wie gestern im Nebel. Die
Räuberhütte konnten wir vergessen. Der Weg wäre bei Schnee und Eis zu schwierig
gewesen. Wir entschlossen uns abzusteigen, und auf der Tatra-Magistrale zum
Schlesierhaus zu laufen. Auf dem Abstieg war Vorsicht geboten. Der Schnee machte die
Steine extrem rutschig.
Vorsichtig arbeiteten wir uns Schritt für Schritt ins Kleine Kohlbachtal hinunter. Das Wetter
klarte auf. Zwischen lockeren Wölkchen schaute der blaue Himmel durch. In der
Zamkovského chata aßen wir Linsensuppe und genehmigten uns ein Bierchen.
Nach Hrebiniok wählten wir den Weg über die Vodopády Studeného potoka
(Kohlbachwasserfälle). Am Veľký Studený vodopád (Großer Kohlbachwasserfall) machten
wir Pause. Der Wasserfall ist eine Anreihung von mehreren Kaskaden und bildet die
vorletzte Stufe der vier Kohlbachwasserfälle. Seine höchste Kaskade misst 13 Meter.
Schäumend tobte der Bach ins Tal, über Felsen und Wurzeln direkt unter unseren Füßen
hindurch, die auf der den Bach überspannenden kleinen Holzbrücke standen. Ein Wanderer
aus Thüringen, der die Hohe Tatra seit 25 Jahren regelmäßig besucht, meinte, noch nie
habe der Bach im September so viel Wasser wie in diesem Jahr geführt.
Hinter Hrebiniok wurde es deutlich ruhiger. Der Weg führte stetig bergauf und war auch nicht
mehr so extrem buckelig. Oberhalb der Baumgrenze konnten wir weit in die Ebene bis zur
gegenüberliegenden Niederen Tatra schauen. Das ganze Ausmaß der Orkankatastrophe
war deutlich auszumachen: Der komplette Wald unterhalb des Gebirges war wegrasiert
worden, den Dörfern war die „grüne Hülle“ genommen. Es wurde zunehmend kälter.
Bleigraue Wolken krochen die Berghänge herab, als wir das Schlesierhaus erreichten.
Die Beton-Architektur erinnerte an den real existierenden Sozialismus. In einem rechteckigen
Kasten schauten die Fenster der Zimmer in Reih und Glied schmucklos auf uns herunter.
„Der Preis ist aber nicht sozial“, bemerkte ich angesichts der 990 SKK (ungefähr 30 Euro),
die die Dame an der Rezeption verlangte – und das pro Person! Immerhin war das Frühstück
inklusive und wir konnten uns mal wieder gescheit duschen. Das Wetter war alles andere als
gescheit, der geplante Aufstieg morgen würde ins Wasser fallen. Tibor schätzte die Chance,
auf den Gipfel zu kommen, auf 50:50. Doch so richtig überzeugt schien er auch nicht zu sein.
Bei Nebel, Sturm und Schneetreiben auf dem Berggrat herumzuturnen, wollte ich nicht. Wir
verschoben die Tour. Ich sollte noch mal anrufen, wenn unsere Tourplanung es erlaubte und
das Wetter sich gebessert hat. Glücklich machte mich die Vertagung natürlich nicht.
Bei der derzeitigen Wetterlage machte es keinen Sinn, weiter auf halber Höhe durch die
Hohe Tatra zu laufen. Wir suchten nach einer Alternative. Diese zeigte sich in der kleineren
Schwester der Hohen Tatra – der Niederen Tatra.
Wir stiegen ab. Durch mystischen Nebelwald auf einem Weg, der stellenweise an ein
trockenes Bachbett erinnerte, erreichten wir Tatranská Polianka. Wir hatten Glück, auf den
Zug nach Poprad brauchten wir nicht lang zu warten. Von dort ging es auch gleich weiter
nach Liptovský Mikuláš (Sankt Nikolaus in der Liptau).
Auf Helga machte der Ort keinen einladenden Eindruck. Auch mir gefiel der
Bahnhofsvorplatz nicht besonders: Biersaufende Gestalten lungerten an den Kiosken herum,
und die Herberge gegenüber vermittelte das Flair eines Stundenhotels. Wir wollten ins 15 km
lange Demänová-Tal. Dort hatten wir von interessanten Höhlen gehört. Der nächstgelegene
Ort heißt Pavčina-Lehota. Der Bus dorthin fuhr in einer halben Stunde vom Bussteig 3. Von
dort wollten wir zu Fuß bis zur ersten Höhle, der Demänovská ľadová jaskyňa (Demänová-
Eishöhle), gehen. In der Nähe der Höhle sollte es laut Karte die chata Odboj geben. Doch
besagte Hütte konnten wir nirgends finden. Wir sahen Nobelhotels und schmucke Pensionen
- aber keine Hütte mit dem Namen Odboj. Dafür stand am großen Parkplatz der Eishöhle ein
Haus mit dem Namen Kamenná chata. Leider sprach die Dame an der Rezeption nur
Slowakisch. Ich hätte zu gern gewusst, wo die Odboj Hütte verschütt gegangen ist. Was die
Kamenná chata (Steinhütte) betraf, trug sie zwar die Bezeichnung „Hütte“, war aber meiner
Meinung nach keine. Der Preis von 830 Kronen (etwa 25 Euro) und die Ausstattung hatten
Hotelcharakter. Ein Phänomen, das uns auf unserer Tour noch öfters begegnen sollte.
Manche der im Reiseführer oder auf der Karte aufgeführten Hütten entpuppten sich als teure
Hotels. Das warf unser geplantes Reisebudget über den Haufen.
Die erste Führung durch die Eishöhle startete um 9:30 Uhr. Die Höhle ist bereits seit dem
Mittelalter bekannt. Sie ist Teil eines mächtigen Höhlensystems im Demänová-Tal. Von
unserem Hotel ging es etwa 20 min bergauf zum Höhleneingang auf etwa 840 m. Neben den
Eisformationen wurden in der Höhle auch verschiedene Knochen unter anderem vom
ausgestorbenen Höhlenbären (Ursus spelaeus) entdeckt. Früher hatten die Menschen in den
Gebeinen Drachenknochen vermutet, was der Höhle auch den Beinamen „Drachenhöhle“
einbrachte.
Nach der Scărișoara-Höhle in den Siebenbürgischen Westgebirgen war dies die zweite
Eishöhle, die ich in den Karpaten kennenlernte. Ich hatte meine Erwartungen wohl etwas zu
hochgeschraubt. Die Eisformationen befinden sich lediglich im letzten, tiefsten Abschnitt der
1975 m langen Höhle. Im grünlichen Licht der Leuchtstofflampen leuchteten etwa 500 Jahre
alte Stalaktiten (hängende Tropfsteine) aus Eis. Aus dem Eis am Höhlenboden wachsen
Stalagmiten (steigende Tropfsteine) empor. Zu Eisbildung kommt es aufgrund der kalten
Winterluft, die durch die Felsspalten in die Höhle weht und im untersten Teil der Höhle auf
Temperatur unter 0 °C trifft. Durch verschüttete Öffnungen an der Oberfläche kann die Luft
von hier nicht mehr entweichen. Das allgegenwärtige Wasser und die hohe Luftfeuchtigkeit
in der Höhle erstarren in diesem Bereich zu Eis. Im Sommer ist die Mächtigkeit des Eises
geringer als im Winter. Nach einer dreiviertel Stunde gelangten wir wieder an die
Erdoberfläche. Wir holten unsere Rucksäcke in der Kamenná chata und folgten dem
Demänová-Tal nach Süden. Auf einem grün markierten Wanderweg erreichten wir die zweite
bedeutende Sehenswürdigkeit im Tal – die Freiheitshöhle (Demänovská jaskyňa slobody).
Die nächste Führung war in einer knappen Stunde.
„Yes, it is possible“, sagte die Dame an der Rezeption des Hotels FIM auf meine Frage, ob
wir unsere Rucksäcke mal kurz unterstellen dürften. Ihrem Tonfall nach schien sie jedoch
nicht so richtig begeistert von unserem Anliegen. Trotzdem schloss sie uns eine
Abstellkammer auf, wo wir unser Gepäck verstauen konnten. Vor dem Höhleneingang
warteten schon deutlich mehr Besucher als am Morgen vor der Eishöhle. Die Freiheitshöhle
ist die meistbesuchte Höhle der Slowakei. Wir wurden in zwei Gruppen geteilt, eine
polnische und eine slowakische. Wir blieben bei den Slowaken, die Gruppe war kleiner und
somit ruhiger. Da es an der Kasse eine Beschreibung in Englisch gab, konnten wir uns
schon mal vorab etwas orientieren, verstehen würden wir unseren Höhlen-Führer sowieso
nicht. Der erste Höhlensaal war ein großes schwarzes Loch, aus dessen Decke Wasser
herunterplätscherte. Je tiefer wir uns in den Berg begaben, umso interessanter wurde es. Ich
hatte noch nie eine solche Vielfalt an Sinterwasserfällen, Stalaktiten, Stalagmiten,
Stalagnaten (Tropfsteinsäulen) und sogenannte Sinterseerosen gesehen. Manchmal
quetschten wir uns so nah zwischen den Säulen hindurch, dass ich den Bauch einziehen
musste, um die Dinger nicht anzurempeln. Nach fast eineinhalb Stunden endete unser
Rundgang durch die Freiheitshöhle.
Wir überlegten, welche Unterkunft wir anlaufen sollten. Mikulášska chata, lasen wir auf der
Karte. Es war die einzige Hütte im Skiort Jasná am Ende des Demänová-Tals. Ansonsten
reihte sich ein Hotel ans andere. Wir folgten einem blau markierten Wanderweg zum 7 ha
großen Vrbické pleso, dem einzigen Bergsee in der Niederen Tatra. Der See ist ein
Überbleibsel aus der Zeit, als das Gebirge noch von Gletschern bedeckt war. Die Hütte
entpuppte sich als Nobelherberge. Fragen, was es kostet, wollten wir trotzdem einmal. Doch
entweder konnte oder wollte man uns kein Zimmer geben. Da die Dame an der Rezeption
nur Slowakisch sprach, konnten wir auch den Grund nicht in Erfahrung bringen. Sie meinte in
schlechtem Englisch, das Hotel sei geschlossen. Komisch, denn ein paar Gäste bzw. Autos
hatten wir vor dem Haus gesehen. Sie empfahl uns das „Grand Hotel“ und das Hotel „Jan
Šverma“. Ersteres schien nicht so recht unsere Preisklasse zu sein. Das Zweite war eine
Bruchbude und zum Glück geschlossen. Wir liefen die Straßen entlang und entschieden uns
für das Hotel SNP (Abkürzung des Slowakischen Nationalaufstandes – Slovenské národné
povstanie). Ein Doppelzimmer mit Halbpension kostete 1 900 SKK (etwa 57 Euro). Wir
buchten für zwei Tage, ab drei Tagen hätten wir Rabatt bekommen. Doch so lange wollten
wir uns nun nicht in Jasná aufhalten. Für morgen hatten wir eine Tagestour geplant.
Das Zimmer war okay. Es gab eine etwas zu kurz geratene Badewanne, die aber trotzdem
ihren Zweck erfüllte. Dass in der Slowakei recht zeitig zu Abend gegessen wird, erfuhren wir
kurz nach 19 Uhr im Hotelrestaurant. Das Salatbuffet war schon abgeräumt, ich bekam
gerade noch die letzte Suppe, und die Kellnerin wollte schauen, was die Küche außerdem so
hergab. Zwei Schälchen voll Krautsalat hatte sie noch bekommen. Helga hätte gerne
Rinderbraten gehabt, den gab es aber nicht mehr, sie bekam wie ich einen Fleischspieß. Wir
wurden sehr zügig bedient: Ich löffelte noch an meiner Suppe, als uns schon das
Hauptgericht unter die Nase geschoben wurde. „Die üben noch am Service“, konnte Helga
sich nicht verkneifen. Unser Vorsatz für morgen: Pünktlich um 18:00 Uhr wollten wir zum
Abendessen erscheinen.
Auch zum Frühstück gingen wir recht früh herunter ins Restaurant. Helga musterte die
anderen Gäste, wie sie sich große Mengen an Speisen vom Frühstücksbuffet rafften.
Ausgesprochen eingespielt war ein älteres Ehepaar. Gemeinsam schwärmten sie wie mit
einem Lageplan ausgestattet zu den einzelnen Buffetplätzen, sackten ein, was sie kriegen
konnten, ehe sie sich an ihren Platz setzten. Horten, sobald es was gibt und soviel es gibt,
meinte Helga ironisch mit Blick auf die frühere sozialistische Mangelversorgung. Auch ich
wunderte mich, dass sich die Tischplatte der Beiden nicht bog. Doch noch mehr wunderte
uns, dass sie alles aufaßen. Nichts, aber auch gar nichts, blieb übrig.
Unsere Tour sollte uns heute auf den Kamm der Niedren Tatra führen. Wir folgten einem
gelb markierten Weg in Richtung sedlo Poľany (Wiesen-Sattel, 1873 m). Es war nebelig,
Wolkenfetzen zogen die Berghänge hinauf, aber es regnete zum Glück nicht. Das erste
Stück ging es durch dunklen Fichtenwald. Pilzsammler huschten zwischen den Bäumen
hindurch. Ihre Körbe waren noch leer. Das Gelände wurde zunehmend steiler, der Weg
folgte nun einem Gebirgsbach, querte mal auf die eine, mal auf die andere Seite. Der Nebel
wurde immer dichter, auch der Wind nahm deutlich an Stärke zu. Über der Baumgrenze
schlüpften wir in unsere Regenjacken. An den Hängen leuchtete gelb das herbstlich gefärbte
Gras, weiße Nebelschwaden jagten nach oben. Der Weg schlängelte sich nun an einem
steilen Hang in Serpentinen zum Pass hoch. Dort angekommen erlebten wir eine
Überraschung. Im Sattel tobte ein Sturm, der einen schier aus den Wanderschuhen pustete.
Aus dem Nebel erschienen wankende Gestalten, eine Gruppe Wanderer, die weiter in
Richtung Westen dem Tatra-Kamm folgte. Gegen den Wind gelehnt, stapften wir vorwärts.
Hinter Felsen oder Hügel, im Windschatten, war vom Wind nichts zu spüren. Es war grotesk,
hier stand ich und es regte sich nicht mal der leiseste Luftzug, und 3 m hinter mir kämpfte
Helga noch gegen die Naturgewalten an.
So mühten wir uns die nächsten 2 Stunden auf dem Kamm entlang bis zum dritthöchsten
Berg der Niederen Tatra, dem 2024 m hohen Chopok. Die Sicht war gleich null, aber der
Wind hatte sich etwas gelegt. Von Jasná aus pilgerten die Leute trotz des miesen Wetters
hoch zum Gipfel. Wir stiegen ab. Morgen wollten wir den östlichen Abschnitt zum Ďumbier
(2046 m), dem höchsten Berg der Niederen Tatra erkunden. Über Skihänge ging es auf
kurzem Weg zurück nach Jasná, Helga hatte sich für diese sehr steile Variante entschieden,
da diese allemal besser zu laufen war als die eigentlichen Wege, die steinernen
Buckelpisten.
Der Sturm gestern hatte ganze Arbeit geleistet und die Wolken weggeblasen, über uns
strahlte erstmals auf unserer Tour ein blauer Himmel. Gleich nach dem Frühstück stiegen wir
ab nach Záhradky. Dort sollte der Nordic-Walking-Weg Nr. 5 ins Široká-Tal führen. Was
bergauf führte, war nur eine Art Holzabfuhrpiste, die sich aber recht gut laufen lies. Bis auf
einen stinkenden Tatra-Lkw begegnete uns auf dem Anstieg niemand. Nach 1 ½ Stunden
standen wir auf dem roten Querweg, den wir gestern an seinem Beginn, einem Ort, der sich
Tri vody (Drei Wasser) nennt, erreichten. Wir machten gerade ein Päuschen, als sich flotten
Schrittes das ältere Ehepaar aus unserem Hotel näherte. Sie wollten wie wir zum Ďumbier.
So viel Energie hätten wir denen gar nicht zugetraut! Jetzt ahnte ich, warum die beiden jeden
Morgen so viel gegessen hatten. Sie spurteten an uns vorbei, wir holten sie nicht mehr ein
und das, obwohl wir nicht die Langsamsten in den Bergen sind. Der Anstieg zum Krúpova
hoľa Sattel (1922 m) führte durch eine wunderschöne alpine Bergwelt. Die Berghänge
leuchteten in der Sonne von gelb über orange bis rot. Neugierig schauten Murmeltiere auf
uns herab. Unter den dunklen Felsen der Ďumbier-Nordwand grasten Gämsen, und am
Horizont leuchteten die schneeweißen Gipfel der Westlichen und Hohen Tatra. Die Südseite
dagegen war ein riesiger Geröllhaufen mit Latschenkiefern, auf den Steinen leuchteten
gelbgrüne Flechten. Ein grüner Weg führte parallel zum Südhang des Ďumbiers in Richtung
chata generála M. R. Štefánika (Štefanik-Hütte), unserem Tagesziel. Der rote Weg bis zur
Hütte, den meine aus dem Jahr 1993 stammende Karte noch verzeichnete, führte nur noch
bis zum Gipfel des Ďumbier. Der Abstieg war aus Naturschutzgründen gesperrt worden. Er
darf jetzt nur noch ab einer 15 cm hohen, geschlossenen Schneedecke betreten werden. Die
Štefanik-Hütte ist nach Milan Rastislav Štefanik, einem slowakischen Politiker und
Mitbegründer der Tschechoslowakei im Jahre 1918, benannt. Früher hieß sie Hütte der
Helden des Slowakischen Nationalaufstandes (chata hrdinu SNP). Vor der Hütte sonnten
sich die Wanderer und ignorierten den kalten Wind, der ihnen um die Ohren pfiff. Der
schwarze Hüttenkater verspeiste gerade die zuvor gefangene Maus. Wir nahmen mit
Bohnensuppe und Bier vorlieb. Da ich meine Schokolade blöderweise ins Deckelfach des
Rucksacks getan hatte, hatte sie sich verflüssigt, weshalb wir auf sie bei unserer Mittagsrast
im Sattel verzichtet hatten. Jetzt waren wir hungrig.
Im Zimmer 1 standen 4 Doppelstockbetten. Noch war es leer, aber das sollte sich bis zum
Abend ändern. Nach und nach füllte sich der Raum. Die Niedere Tatra schien nicht ganz so
international zu sein wie ihre hohe Nachbarin. Tschechen, Polen, Slowaken und Deutsche
Wanderer übernachteten mit uns. Helga hatte wie immer auf Touren Ohropax dabei. Ihr
Glück - ich konnte nur hoffen, schnell einzuschlafen.
Die Schönwetterperiode hielt leider nicht lang, am nächsten Morgen hing der Hauptkamm
schon wieder in den Wolken. Nicht mal der Hüttenkater wollte ins Freie. Wir beschlossen,
eine Etage tiefer unsere Tour auf einem blau markierten Weg fortzusetzen. Wir holperten 3
Stunden bei anfangs heftigem Regen über Geröllbrocken bis ins Tal Vajskovská dolina. Es
war wie verhext, kaum lag der Kamm der Niederen Tatra hinter uns, schob sich die Sonne
hinter den Wolken hervor. Auf der asphaltierten Forststraße im Tal wuchs Moos. Na ja, kein
Wunder, meinte Helga, so oft, wie es hier regnet. Die Straße mündet bei Črmné auf den
Heldenweg. Das Gebirge war nach dem gescheiterten Slowakischen Nationalaufstand im
Jahre 1944 Rückzuggebiet slowakischer Partisanen. Ein mächtiges Betondenkmal erinnert
an die Geschehnisse. Auch ein Denkmal bei der Štefanik-Hütte erinnert an die Kämpfe im
Gebiet der Niederen Tatra.
Heute würde man die Partisanen vermutlich Terroristen nennen und Denkmäler würden
ihnen auch nicht mehr gewidmet werden.
Im Hotel Biotika im Ferienort Krpáčovo kehren wir ein, nach fast 7 Stunden mit nur einer
kurzen Pause. Das Hotel hatte richtige kleine Wohnungen als Doppelzimmer. Ideal für
Familien mit Kindern. Aber auch uns gefiel es. Die Dame an der Rezeption war so nett,
unsere Ansichtskartengrüße in den Briefkasten zu werfen. Neben dem Hotel zeigte ein
Schild mit der Aufschrift „Almhütte“ um die Ecke. Das wollte ich näher wissen. Der Bau hatte
den Charakter eines runden Blockhauses. In der Raummitte befand sich ein kreisrunder
offener Holzkohlegrill, auf dem sich auf langen Spießen Hühnchen drehten. Solide
Holzmöbel reihten sich an der Wand, die mit Knüpfwerk und gehäkelten Tüchern verziert war.
Mir gefiel die Hütte. Helga mag solche rustikalen angeblich „originalen“
Lokalitätenrestaurants ausschließlich für Touristen eigentlich nicht so sehr. Wir hockten uns
trotzdem rein und genehmigten uns ein gut schmeckendes Grillhähnchen mit
Karpatenbrandy als Dessert.
Auch am folgenden Tag schien die Sonne. Ursprünglich wollten wir die Höhle Bystrianska
jaskyňa (Bystrianka-Höhle) in Bystrá besuchen. Doch die Busverbindung war nicht so
optimal, wie wir im 4-Sterne-Hotel „Partizán“ in Tále erfuhren. Optimal sollte dagegen das
Wetter bleiben, das zumindest versprachen die Wetterdienstaushänge an der
Hotelrezeption, die Helga entdeckte.
So trotteten wir die Straße durch das Bystrá-Tal rund sieben Kilometer bergauf in Richtung
Srdiečko, einem Hotelort ähnlich Jasná. Von dem Gedanken, uns könnte einer der
Autofahrer mitnehmen, trennten wir uns bald. Auf dieser kurvenreichen Touristenstraße hielt
keiner, wie wir die erste halbe Stunde feststellten. Daher rückte unser Ziel Čertovica
angesichts der fortgeschrittenen Zeit in weite Ferne. Wir entschlossen uns, ein zweites Mal
auf der Štefanik-Hütte zu übernachten. Beim Aufstieg zur Hütte kreuzten zwei sogenannte
Sherpas unseren Weg. Sherpas versorgen in der Slowakei die Berghütten. Mit
überdimensionalen Holzkraxen schleppen sie Lebensmittel, Bierfässer,
Gebrauchsgegenstände, Brennmaterial, halt alles, was auf einer Hütte benötigt wird, nach
oben. Es sind meist sportliche Studenten, die sich so ein paar Kronen dazu verdienen.
Sicher spielt auch die Liebe zu dieser Tradition eine Rolle. Allerdings setzt man in der Hohen
Tatra auch schon vereinzelt auf Helikopter.
Als in den 70er Jahren ein Hubschrauber abstürzte, wurde diese Art der Hüttenversorgung
bis auf Weiteres eingestellt. Seitdem verrichten wieder die Sherpas zuverlässig ihren Dienst.
Dass Helikopter in der Tatra mitunter Probleme haben, sollte ich später bei einem tragischen
Ereignis noch miterleben.
Beim Aufstieg kamen wir an der Fledermaushöhle vorbei. Leider wurde aus einem Besuch
nichts. Heute war Sonntag, die letzte Führung kam uns gerade entgegen, als wir die Info-
Tafel studierten - und morgen, am Montag, sind Höhlen wie auch Museen in der Slowakei
grundsätzlich geschlossen. Wir setzten unseren Aufstieg fort. Der Pfad führt steil zwischen
Latschenkiefern bergauf. Die Sonne schien, wir kamen mächtig ins Schwitzen. Erst an der
Hütte wehte wieder ein kalter Wind. Trotzdem blieben wir draußen, aßen unsere
Gulaschsuppe und tranken ein Corgoň-Bier. Wir bekamen wieder Zimmer Nummer 1 und
hatten auch wieder freie Bettwahl. Da wir nun wussten, dass sich das Wetter schlagartig
ändern konnte, nutzten wir den Abend noch zu einem kleinen Spaziergang auf dem Kamm.
Am Horizont streckte sich wieder die Hohe Tatra. Schnee lag deutlich weniger. Wir konnten
einen zweiten Versuch wagen.
Der rot markierte Kammweg über die Niedere Tatra bildet gleichzeitig einen Teil des
Europäischen Fernwanderweges Nummer 8. Leider gibt es noch zu wenige bewirtschaftete
Berghütten auf dem Kamm. Außer der Štefanik-Hütte und der Kamenná chata pod Chopkom
(Steinhütte unter dem Chopok), beide sind ganzjährig bewirtschaftete Berghütten, gibt es nur
noch 3 Notunterkünfte, von denen immerhin eine teilweise bewirtschaftet ist. Ein deutscher
Wanderer, mit dem wir uns über die Übernachtungsmöglichkeiten unterhielten, meinte, er
komme sehr häufig in die Gegend, nach seiner Einschätzung können die Notunterkünfte
Útulňa Andrejcová und Útulňa Ramža „einem Mitteleuropäer nicht zugemutet werden“.
Alternativen bieten sich dann noch in einer der Pensionen in Čertovica, die Unterkünfte am
Chopok, Ďumbier und Čertovica liegen allerdings zu dicht aufeinander für sinnvolle
Tagesetappen. Wer dagegen auf den anderen Abschnitten ohne Zelt durch die Berge zieht,
Zelten ist hier im Nationalpark bis auf wenige Ausnahmen sowieso verboten, muss sich
mächtig strecken, um die Unterkünfte zum Abend zu erreichen. Uns war dies heute egal, wir
hatten noch genug Zeit für eine Partie Mensch-Ärger-Dich-Nicht. Ein Spiel, das mich
eigentlich immer ärgert, denn ich verliere oft. Dieses Mal schien ich auch Glückssträhnen
zu haben, denn einige Mal hatte ich schon mehr Männchen sicher im Ziel als Helga. Was
mich dann jedes Mal „großzügig“ in meinen Kommentaren werden ließ: Im Allgemeinen freue
ich mich hämisch über jede 1, die Helga würfelt, und ärgere mich über alles, was höher liegt.
Nun nahm ich – den Sieg vor Augen – gönnerhaft zur Kenntnis, wenn sie mal eine 3
würfelte. Trotzdem zog ich zum Schluss doch immer wieder den Kürzeren. Drei Mal
hintereinander war ich der Verlierer!
Wie schon gestern befürchtet, war vom Kamm am nächsten Morgen nichts mehr zu sehen.
Im dichten Nebel folgten wir dem E8 Richtung Osten. Bescheiden aufgrund der bisherigen
Wetterverhältnisse geworden, freuten wir uns schon darüber, dass es nicht regnete. Und
siehe da: Der Wind trieb die Wolken vor sich her, ab und zu blitzte sogar etwas Himmelsblau
zu uns durch. Der Weg führte ständig auf und ab. Männer standen gebückt an den bunten
Berghängen und pflückten mit großen Kämmen Preiselbeeren. Bei Čertovica führt die Straße
von Liptovský Mikuláš nach Banská Bystrica (Neusohl). Es ist die einzige Straße über den
Kamm der Niederen Tatra, dementsprechend viele Autos rollten über den Pass, meistens
Lkws. Auch hier gab es eine Chata, die aber ein trauriges Dasein fristet. Der Eingang war
verrammelt, das Gebäude dem Verfall preisgegeben. Kein Wunder bei der Konkurrenz in
unmittelbarer Nachbarschaft: ein Hotel und zwei schmucke Pensionen. Wir aßen im
Motorest, einem Motel, zu Mittag. Wir wollten den Kamm der Niederen Tatra verlassen,
unser nächstes Ziel hieß Malužiná, ein Dorf auf der Nordseite der Niederen Tatra. Hier wies
unsere Karte eine Höhle auf. Ab Čertovica gab es zwar eine Busverbindung, der Bus fuhr
aber erst in drei Stunden. Da die Sonne wieder schien, folgten wir lieber der alten
Passstraße in Richtung Vyšná Boca, einem hübschen kleinen Dörfchen mit hübschen
Holzhäusern. Dort hatten wir immer noch genug Zeit bis zur Ankunft des Busses, also liefen
wir gleich eine Etage tiefer bis Nižná Boca. Helga steckte voller Elan, wollte immer weiter
laufen, ich maulte rum. Am Ende des Dorfes fuhr uns der Bus vor der Nase weg, weil wir auf
den Abzweig zur Haltestelle mitten im Dorf nicht geachtet hatten. Helga bekümmerte das
nicht wirklich, mich schon eher. Uns blieb nichts weiter übrig, als der Hauptstraße bis
Malužiná zu folgen. Kurz vor dem Ort hielt ein Milchauto, der Fahrer bot an, uns
mitzunehmen. Wir lehnten dankend ab, wir waren schon etwa 7 Stunden auf den Beinen, die
letzte viertel Stunde würden wir nun auch noch durchhalten. Vor Ort konnten wir keinen
Hinweis auf eine Höhle ausmachen. Das Dorf, eine etwas gammelige Industriesiedlung,
wirkte nicht gerade einladend, Malužiná ist halt kein Touristenort. An einem Bushäuschen
setzten wir unsere Rucksäcke ab, der nächste Bus nach Liptovský Mikuláš musste in
wenigen Minuten kommen. Unser Entschluss stand fest, wir würden der Niederen Tatra den
Rücken kehren. Ich war mir sicher, ich würde noch mal wieder kommen, der Kammweg
reizte mich schon.
Der Bus kam pünktlich, fuhr aber nur bis Kráľova Lehota. Kein Problem, denn dort hatten wir
gleich Anschluss nach Liptovský Mikuláš. Auch hier war uns das Glück hold, in 10 Minuten
fuhr ein Zug nach Poprad. Hinter Važec zeigte sich die Hohe Tatra in ihrer ganzen
Schönheit, das komplette Panorama leuchtete in der untergehenden Sonne. In unserem
Reiseführer fanden wir das Hotel Gerlach zum Übernachten. Es ist nur etwa 5 Minuten vom
Bahnhof entfernt. Das Doppelzimmer kostete 850 SKK (etwa 25 Euro), und das Restaurant
im obersten Stock warb mit Panoramablick auf die Hohe Tatra. Leider wurde der Blick durch
lange Gardinen getrübt, die uns vor den Augen herumbaumelten. Vor allem Montagearbeiter
steigen im Hotel ab. Dem entsprechend hatten die Zimmer auch nichts Besonderes. Sauber
und einfach bezeichnete sie der Reiseführer. Einfach ja, und vom Schimmel an den Wänden
im Bad mal abgesehen, war das Zimmer auch sauber. Immerhin gab es eine Badewanne.
Die Bettdecken waren gewöhnungsbedürftig, von ihrem Gewicht wurde man fast erdrückt.
Wir hockten uns auf slowakischer Seite hinter der Grenze auf den Parkplatz und überlegten
uns unser weiteres Vorgehen. Es gab zwei Möglichkeiten: Fahrt bis Ždiar von dort über den
Kamm der Beler Tatra zur chata pri Zelenom plese (Karfunkelturmhaus). Oder ein Besuch
der Höhle Belianská jaskyňa in Tatranská Kotlina und weiter bis zur chata Plesnivec
(Edelweißhütte). Wir einigten uns auf die zweite Variante, da ein Bus in Richtung Ždiar erst
in einer knappen dreiviertel Stunde fuhr und der Weg über den Sattel zur Grünseehütte doch
etwas länger dauern würde. Wir kamen zu spät, die 1 ½ -stündige Höhlen-Führung hatte
eben begonnen, auf die Nächste zu warten dauerte uns zu lang. Da war es gemütlicher, ein
Bierchen zu trinken und dann zur Edelweißhütte aufzubrechen. Der Weg führte am Osthang
der Beler Tatra entlang. Ab und zu lugten die schneebedeckten Gipfel des Grünseekessels
durch die Bäume. Die Hütte schmiegt sich an den Hang am Ende des Tals Dolina siedmich
prameňov (Schwarzwassertal) und war recht gemütlich. Ein paar Tagesausflügler hockten
noch in der Nachmittagssonne vor der Hütte. Doch auch sie stiegen am Abend ab, wir waren
allein. So hatte ich mir das Wandern in der Tatra vorgestellt. In Ruhe den Tag ausklingen
lassen, was essen – und wieder eine Runde Mensch-Ärger-Dich-Nicht verlieren.
Ein Nachteil
hatte die Hütte: Hier gab es keine Decken. Doch das Haus war energetisch optimal gebaut,
der erste Stock war fast komplett von einem umlaufenden Glas-Gang umgeben, ähnlich
einem Wintergarten. Die Sonne heizte die Räume hinter der Fensterfront so ordentlich auf,
dass ich selbst in meinem leichten Hüttenschlafsack zu schwitzen anfing.
Ich musste mich mit Tibor, dem Bergführer in Verbindung setzen. Mittwoch hatte ich für den
Aufstieg eingeplant, doch meine Rechnung leider ohne den Wirt gemacht. Tibor hatte an
diesem Tag bereits einen Kunden. Aber er sorgte für Ersatz. Der Mann hieß Ervín, und wir
verabredeten uns am Mittwoch um halb sechs in der Frühe vor dem Hotel Gerlach in Poprad.
Der nächste Morgen begann wie im Bilderbuch. Wir saßen vor der Hütte im Sonnenschein
und aßen unser Frühstück, Salami und Käsebrote schön garniert mit Paprika, Gurken und
Tomaten. Das beste Hüttenfrühstück auf unserer Tour. Die einzigen Gäste waren wir aber
doch nicht, es hatte noch eine Frau auf der Hütte übernachtet. Schon früh erreichten die
ersten Tagesgäste die Hütte.
Frisch gestärkt ging es gleich hinter der Hütte steil bergauf. Oben liefen wir auf einem
Plateau zwischen zwei Massiven. Im Osten die weißen Kalkfelsen der Beler Tatra, im
Westen die schwarzen mit Schneeflecken übersäten Gipfel der Hohen Tatra. Zwischen den
Seen Veľké Biele pleso (Großer-Weißer-See) und Trojrohé pleso (Triangelsee) tauchten wir
ein in einen Wald aus Latschenkiefern gespickt mit rot und gelb leuchtenden Vogelbeer-,
Erlen- und Bergahornbäumen. Nach 2 ½ Stunden erreichten wir die Hütte am Zelené pleso
(Kesmarker Grüner See). Mich faszinierte das Bergpanorama immer aufs Neue. Über
tausend Meter erheben sich die Wände über dem See. Unsere Wanderkarte wies hier einen
unmarkierten Weg über den Kamm bis ins Kleine Kohlbachtal aus. „Ob man da mal
rüberkraxeln könnte“, fragten wir uns. Auf der Hütte war erstaunlich wenig los. Der
Panoramablick auf den Grünsee aus dem Fenster des Speisesaals begeisterte mich nach
wie vor.
Wir ließen unser Gepäck auf dem Zimmer und starteten zu einem Ausflug auf den Gipfel der
Jahňací štít (Weißseespitze, 2230 m). Den Weg markierte ein gelbes Band. Vorbei am
Červené pleso (Roter See) durch das Tal Červené dolina (Rotseetal) führt der Weg in den
Sattel Kolový priechod (Pflockseescharte, 2118 m). Im Schatten der Berghänge lag noch gut
Schnee mit zum Teil vereisten Stellen. Das letzte Stück sicherten Ketten ab. „Auf den Gipfel
hoch geht's nur mit Steigeisen“, warnten uns drei Polen oben am Grat. So begnügten wir uns
mit einem Ausblick ins Tal Kolová dolina (Pflockseetal), bevor wir an den Rückweg dachten.
Helga kletterte, ich rutschte hinter ihr her. Die Hohe Tatra ist wirklich ein Gebirge der
extremen Gegensätze. Zum einen wohl der Teil der Karpaten mit den meisten Touristen,
zum anderen auch der Teil, in dem zumindest ich meine schönsten Naturerlebnisse hatte.
Auf der Höhe des Roten Sees standen wir plötzlich vor einer Gruppe Gämsen. Sieben Tiere
grasten ohne Scheu, etwa 3 bis 4 m entfernt zu beiden Seiten des Wanderweges. Als sie
uns kommen sahen, trotteten sie gemütlichen Schrittes auf die dem Berg zugewandte Seite.
Weiter unten kümmerten sich Waldarbeiter um die Pflege des Wanderweges. Sie sägten die
überhängenden Äste der Latschkiefern ab. Die Sonne war schon hinter den Bergen
verschwunden, als wir die chata pri Zelenom plese (Karfunkelturmhaus) erreichten. Mir fiel
auf, dass das Schild fehlte, wonach eigenes Essen in der Hütte nicht gestattet war. Auf
meiner ersten Tour durch die Hohe Tatra 1999 hockten die Wanderer noch vor der Hütte und
kochten ihr Süppchen oder knabberten an ihren Broten, um Geld zu sparen, in der Hütte
hätten sie ihre eigenen Lebensmittel nicht essen dürfen. Wir aßen Gulasch mit Knödeln, die
wie dicke Brotscheiben aussahen. Die Atmosphäre auf unserem Zimmer war ganz anders
als auf der Murowaniec-Hütte: Hier schlief schon jeder, als wir um 8 Uhr nach oben gingen.
Nach dem Frühstück wollten wir hoch zum Sedlo pod Svištovkou (Ratzenbergjoch, 2023 m),
einem der schönsten Abschnitte auf der Tatra-Magistrale. Reif bedeckte die Nadeln der
Latschenkiefern, die Laubbäume schienen im Licht der aufgehenden Sonne förmlich zu
glühen und der See Čierne pleso (Schwarzer See) war komplett zugefroren. Kein Wunder,
lag er doch die meiste Zeit des Tages im Schatten der Malý Kežmarský štít (Kleine
Kesmarker Spitze, 2514 m). Nach einem kurzen Anstieg erreichten wir die Schlüsselstelle
des Weges, ein mit Ketten gesicherter Felsabschnitt. Ich kannte ihn, hatte er mir doch vor
Jahren als vereiste Rutschbahn beim Abstieg viel Probleme bereitet. Jetzt war alles ganz
einfach, dennoch zog ich mich an den Ketten hoch. Helga kletterte lieber direkt im Fels. Nun
ging es am Hang weiter. In schier endlosen Serpentinen windet sich der Weg in Richtung
Sedlo pod Svištovkou (Ratzenbergjoch). Je höher wir stiegen, desto mehr Schnee lag auf
dem Weg, teilweise gab es mit blankem Eis überzogene Abschnitte. Die erste
Wandergruppe aus der „sonnenverwöhnten“ Gegenrichtung erschien auf dem Kamm. Sie
staunten nicht schlecht, plötzlich auf Eis zu treffen. Der Erste setzte einen unvorsichtigen
Schritt und schon machte sein Hintern mit dem Erdboden Bekanntschaft.
Nun hatte jeder kapiert, es war glatt und die Gruppe setzte den Abstieg mit größerer Vorsicht
fort. Im Sattel strahlte auch für uns die Sonne. Aus Richtung Seilbahnstation pilgerten die
Massen bergan. Ich machte ein Foto von Helgas „Völkerverständigern“ Oimel und Charlie,
dann ging's wieder bergab. Bis zur Seilbahnstation am Skalnaté pleso (Steinbachsee) löste
ein Geröllfeld das nächste ab. Dort herrschte Hochbetrieb. Kein Wunder streckte doch die
Lomnický štít (Lomnitzspitze, 2634 m) ihr Haupt in den blauen Himmel. Mit 2634 m ist sie der
zweithöchste Berg der Hohen Tatra, die Nebengipfel des Gerlsdorfer Massivs mal
vernachlässigt.
Eine Seilbahn nach der anderen schwebte nach oben. Wir hatten keine Lust auf den
Abstecher. Im Restaurant der Station gingen wir Mittagessen. Helga als Maultaschen-
Liebhaberin bestellte sich Piroggen. Sie hätten im Prinzip nicht schlecht geschmeckt, wären
sie nicht förmlich im Bratenfett geschwommen. Ich hatte zum Glück auf klassisches Gulasch
gesetzt. Als wir wieder ins Freie traten, war der Gipfel der Lomnitzspitze verschwunden.
Gerade schwebte eine rote Seilbahngondel aus der grauen Wolkenhülle. So schnell kann es
gehen. Kurz hinter der Skalnatá chata (Steinbachseehütte) trennten sich unsere Wege. Ich
hatte morgen meinen großen Gipfeltag und musste heute nach Poprad. Helga wollte bis zur
Zamkovsky-Hütte und morgen einen Ausflug auf die Räuberhütte machen.
Auf einem grün markierten Weg erreichte ich recht zügig Tatranská Lomnica (Tatralomnitz),
ein hübscher kleiner Ferienort am Fuße der Hohen Tatra. Mit der „Elektrischen“ ging es auch
gleich nach Starý Smokovec, und von dort fuhr ein Bus nach Poprad, wo ich wieder im Hotel
Gerlach einkehrte. Der Nachmittag artete in Arbeit aus: Geld tauschen, Fahrscheine nach
Prag kaufen, Wäsche waschen, Rucksack für morgen packen, dann endlich in die
Badewanne springen und im Panoramarestaurant Abendbrot essen.
Ich schlief schlecht, war zu aufgeregt, außerdem war es zu warm und die Bettdecke wieder
zu schwer. Schmiss ich sie zur Seite, war es wieder zu kalt. Jedenfalls hielt ich es um halb
fünf Uhr morgens nicht mehr aus und stand auf. Zog mich warm an, schnappte meinen
Krempel und schlenderte langsam nach unten. Es war auch die Aufbruchszeit der Monteure.
Ein Blaumann nach dem anderen stolperte aus dem Aufzug, streifte sich die Schutzüberzüge
von den dreckigen Arbeitsschuhen und ging nach draußen, wo der erste Blick dem
Thermometer über der Eingangstür galt. Vier Grad plus hatte es. Ich trampelte von einem
Bein aufs andere. Als um 6:00 Uhr immer noch kein Ervín da war, holte ich mein Handy raus
und rief ihn an. Eine verschlafene Stimme meldete sich. „Bin unterwegs, bin in fünf Minuten
da“, sagte er. So war es auch. „Ihr Deutschen legt Wert auf Pünktlichkeit, stimmt's“, fragte
Ervín. Ich grinste. Ervín kam heute Morgen von Banská Bystrica (Neusohl), einer Stadt
hinter der Südseite der Niederen Tatra. „Ab Tatranská Polianka müssen wir in ein Taxi
umsteigen. Ich darf nicht mit dem Auto zum Schlesierhaus fahren, ist Nationalpark“, erklärte
Ervín. Er rief oben an und regelte, dass einer uns abholt. Der Zubringerdienst war nicht
gerade billig. 750 SKK (etwa 22,50 Euro) kostete der Taxi-Service. Aber was sollte ich
machen? Wir packten unsere Sachen in den Geländewagen, hockten uns auf den Rücksitz
und standen kurze Zeit später vor dem Berghotel. Wir hielten uns nicht lang auf, die Sonne
schob sich gerade über den Horizont und tauchte die Landschaft in ein warmes weiches
Licht. „Heute ist der letzte schöne Tag“, sagte Ervín, „Nicht so gut wie gestern, aber okay.“
Ich bekam Pickel, Helm, Gurt und Steigeisen, ging noch mal aufs Klo, dann brachen wir auf.
Wir folgten zügigen Schrittes der Tatra-Magistrale bis zum Batizovské pleso (Botzdorfer See)
auf 1884 m. Ich kam bald ins Schwitzen. Am See machten wir eine kurze Pause. Kein
Lüftchen bewegte sich. Wie ein Spiegel lag der See in der Landschaft, ich schoss ein Foto.
Ein Schild am Ufer des Sees wies darauf hin, dass es verboten sei, die markierten Wege zu
verlassen. Wir ließen es links liegen. Über Geröll ging es auf einem unmarkierten
Trampelpfad zum Westhang der Gerlsdorfer Spitze. Auf meine Frage, ob man einfach so die
markierten Wege verlassen kann, sagte Ervín: „Kein Problem. Als Kletterer und Mitglied in
einem Kletterverein ist das jederzeit möglich.“
Unsere Route führte durch das Tal Batizovská dolina (Botzdorfer Tal) von Westen her auf
den Gipfel. Ervín erläuterte mir den Anstieg: „Normalerweise steigen wir direkt vom
Schlesierhaus im Tal Velická dolina (Felker Tal) auf, queren dann auf die Westseite und
gehen von dort das letzte Stück zum Gipfel. Der Weg ist im Moment aber zu gefährlich. Die
Rinnen im oberen Bereich sind stark vereist. Wir machen heute die einfachere Variante.“
Dann erklärte er die umliegenden Gipfel. Da gab es Popradský Ľadový štít (Eisseespitze,
2396 m), Batizovský štít (Botzdorfer Spitze, 2448 m), Kostolík (Kapellenturm, 2262 m). Am
„Kirchturm“ seien zwei der besten polnischen Bergsteiger verunglückt, erzählte Ervín. Na,
das wird doch hoffentlich kein schlechtes Omen sein.
Wir legten unsere Ausrüstung an, ich
wurde an die Leine genommen und Punkt 8:47 Uhr begannen wir den Aufstieg. Es ging
zuerst über abgerundete Felsen auf schmalen Bändern bergauf, je höher wir stiegen, desto
steiler wurde das Gelände. Gleich einem Klettersteig waren an der schwierigsten Stelle
Eisenklammern und Stifte in den Fels getrieben. Ich mogelte mich hinter Ervín nach oben.
„Das war das schwierigste Stück“, meinte Ervín, „jetzt wird's leichter.“
Über schräge
Felsplatten ging es weiter. Stellenweise hatte ich den Eindruck, auf einem richtigen Pfad zu
laufen. Vor einer mit Schnee gefüllte Rinne hielten wir an. „Zeit für die Steigeisen“, sagte
Ervín. Er half mir, die Dinger an den Schuhen zu befestigen. Der Anstieg auf dem Schneefeld
begann relativ flach und wurde nach oben hin zunehmend steiler. Nebel umwaberte uns,
vom Gipfel war nichts zu sehen. Stellenweise schätzte ich die Neigung auf deutlich über 30°.
Wir gingen zügig, machten aber regelmäßig Pausen. Denn Ervín war Unternehmer und stark
gefragt. Alle Meter klingelte sein Handy und irgendwer wollte etwas von ihm. Mir kam das
gerade recht, konnte ich doch so jedes Mal ein wenig verschnaufen.
„Im Moment ist in der
Firma nicht so viel los“, sagte Ervín. „Deshalb habe ich mehr Zeit, um in die Berge zu gehen.“
Für das „nicht so viel los“ klingelte sein Handy aber ziemlich oft, dachte ich mir. Das
Schneefeld wich wieder Geröllbrocken. Die Wolkendecke riss auf. Wir legten die Steigeisen
ab, kletterten noch 2 bis 3 Meter nach oben – und ich stand auf dem Gipfel. Mein Traum vom
höchsten Berg der Karpaten hatte sich erfüllt. Keine 2 Stunden hatten wir gebraucht.
Ervín
freute sich, hier oben Ruhe zu finden, bei den sonst für die Tatra üblichen Menschenmassen
war der Gipfel in der Tat ein relativ ruhiger Ort. Nur ein kleiner Vogel leistete uns
Gesellschaft. Unter uns breitete sich eine Wolkendecke aus, nur ein paar Gipfel lugten durch
die Wolken. Wir konnten die Lomnitzspitze und die Ľadový štít (Eistaler Spitze) erkennen.
Von Helga hatte ich ein paar Gebetsfähnchen dabei, ich wollte sie auf dem Gipfel flattern
lassen. Ervín half mir die Fähnchen zu befestigen, dann machten wir das obligatorische
Gipfelfoto. Anschließend entfernten wir die buddhistischen Fähnchen wieder vom höchsten
Berg der Karpaten. Das war Ervín wichtig, jede Region solle ihre Religion haben, Europa vor
allem das Christentum, Tibet oder Ladakh den Buddhismus.
Es wurde Zeit an den Abstieg
zu denken, für mich die eigentliche Herausforderung der Tour. Ob es schwieriger ist als nach
oben? „Für mich nicht“, lachte Ervín, „aber du bist ja am Seil.“ Auf dem Schneefeld tauchten
wir wieder in die Wolken ein. Ervín seilte mich ab. Seillänge um Seillänge ging es nach
unten. War das Seil zu Ende, stapfte ich mir einen Standplatz, rammte den Pickel in den
Schnee und rief „Okay“. Ervín kam dann wie ein Abfahrtsläufer zu mir herunter gerutscht. So
kamen wir zügig voran. Ganz allein waren wir aber doch nicht unterwegs, auf halber Strecke
kam uns eine Gruppe entgegen. Ein Bergführer mit drei polnischen Touristen auf dem Weg
zum Gipfel. Im unteren Abschnitt des Schneefeldes wurde ich mutiger und verzichtete aufs
Abseilen. Die Fersen in den Schnee rammend, hüpfte ich nach unten. Weit über uns im
Schnee sahen wir eine Person schemenhaft im Nebel, keine Ahnung, wo der plötzlich
herkam. Am Ende des Schneefeldes angekommen, entledigten wir uns unserer Steigeisen.
Plötzlich hörte ich ein dumpfes Geräusch über mir. Der Mann, den wir eben noch im Nebel
gesehen hatten, musste gestürzt sein. Jetzt kam er kopfüber über das Schneefeld
heruntergeschossen. Ervín rief ihm etwas zu – keine Reaktion. Alles ging sehr, sehr schnell.
Der Körper klatschte gegen die Felsen am Rand des Schneefeldes, wurde auf dieses wieder
zurückgeworfen. Über einen Felsabsatz flog er nach unten. Dann sahen und hörten wir
nichts mehr. Auf dem unteren Teil des Schneefeldes zog sich eine blutige Spur.
Ervín holte
sein Handy und eine Liste mit Telefonnummern aus dem Rucksack und alarmierte die
Bergrettung. Ich verstand nur ein paar Brocken. Sedemdesiat, 70 zum Beispiel. Ich
vermutete, er meinte, der Mann sei über diese Länge gestürzt. „Warte hier“, bedeutete mir
Ervín, und rannte zur Unglücksstelle. Ich war wie vom Blitz getroffen. Mein erster Gedanke
war: „Der ist hinüber“. Nach einer reichlichen halben Stunde hörte ich das Motorengeräusch
eines Helikopters. Ervín stand auf einem Felsvorsprung und gab Zeichen. Über mir am
Kamm tauchten ein paar Köpfe auf. Bergsteiger, die gerade am Klettern waren.
Zwei von ihnen stiegen in unsere Richtung.
Die Flugmanöver des Hubschraubers waren mir ein
Rätsel. Es sah aus, als hätte er den Unfallort lokalisiert, war aber nicht in der Lage, dorthin
zu fliegen. Immer wieder versuchte er in das Seitental zu gelangen, aber als würde er gegen
eine Wand fliegen, blieb er plötzlich abrupt in der Luft stehen, drehte bei und versuchte es
erneut. Dann drehte er ab. Warum nur?
Mittlerweile waren auch zwei andere Bergsteiger an
der Unglücksstelle eingetroffen. Einer von ihnen hatte ein Erste-Hilfe-Set in der Hand. Kurz
darauf kam Ervín zurück. Er hatte den Mann aus einer Spalte zwischen Schnee und Fels
befreit. Der Mann war bei Bewusstsein, schien aber schwer verletzt zu sein. „Am Kopf und
im Brustbereich sieht es nicht gut aus“, sagte Ervín. Er sei die schwierigere Route aus dem
Felker Tal gelaufen und habe gerade das Schneefeld queren wollen. Die beiden anderen
Bergsteiger waren von der Bergrettung und kümmerten sich nun weiter um den Mann. Wir
setzten unseren Abstieg fort.
Ein Stück weiter unten sah ich den Verletzten. Er saß im
Schnee und hatte den Kopf verbunden. Einer der Bergretter breitete gerade eine
Rettungsdecke über ihm aus. „Er war ohne Steigeisen mit schlechten Schuhen und allein
unterwegs“, sagte Ervín. Ein großer Leichtsinn. Vermutlich dachte er, er könne den bereits
vorhanden Spuren auf dem Schneefeld folgen. Weil aber die Oberfläche tagsüber antaut und
nachts wieder friert, hatten sich extrem glatte Kuhlen gebildet.
Unten im Tal stand eine
Gruppe in roten Jacken. Ein Fußtrupp der Bergrettung, die der Helikopter dort abgesetzt
hatte. Sie hatten eine Spezialtrage dabei und Kletterausrüstung.
Seit dem Unfall waren nun
immerhin schon fast 3 Stunden vergangen. Ziemlich betrübt gingen wir zurück zum
Schlesierhaus. Auf dem Weg dorthin kam uns im Eilschritt ein großer Trupp der Bergrettung
entgegen.
„Wenn ich noch auf dem Schneefeld gewesen wäre, hätte ich ihn vielleicht halten
können! Vielleicht?“, sinnierte Ervín vor sich hin. Wenn wir noch auf dem Schneefeld
gewesen wären, hätte er uns vielleicht beide in den Abgrund gerissen, dachte ich mir. Im
Hotel erklärte der Chef der Bergrettung Ervín, dass der Helikopter aufgrund von Turbulenzen
im Seitental nicht an die Unfallstelle fliegen konnte. An der Erfahrung des Piloten lag es also
nicht. Die Bergretter wollten den Mann bis ins Botzdorfer Tal herunterschaffen, dort würde
ihn dann der Heli aufnehmen und ins Krankenhaus nach Poprad fliegen. Nie im Traum wäre
es mir eingefallen, dass bei einem Bergunfall auch ein Hubschrauber an seine Grenzen
stößt.
Was mich betraf, so würde ich nie mehr ohne Handy und einer Liste mit
entsprechenden Notfallnummern in die Berge gehen. Wäre ich allein Zeuge des Unfalls
gewesen, ich hätte noch nicht mal die Bergrettung alarmieren können! Der Chef der
Bergrettung bot an, uns mit nach Tatranská Polianka zu nehmen. Wir hatten noch etwas
Zeit, tranken ein Glas Kofola, eine slowakische Cola, und hofften, dass der Mann den Sturz
überleben würde. Ervín brachte mich zurück zum Hotel in Poprad, drückte mir seine
Visitenkarte in die Hand. „Vielleicht sehen wir uns noch mal, dann können wir ja den Weg auf
den Gipfel vom Felker Tal gehen“. „Warum nicht“, dachte ich mir.
Unsere Bergtour war zu Ende. Morgen würden wir nach Prag fahren und uns die Goldene
Stadt mal näher ansehen, bevor mich wieder der Alltag erwartete.
Helga hatte Abenteuer ganz anderer Art erlebt: Bei der Zamkovského chata angekommen,
nahm sie ein Zimmer mit Halbpension. Ihr kleines Kämmerchen, ein Einzelzimmer, befand
sich im ersten Stock, direkt über der Küche. Unter ihrem Fenster war eine Art
Lagerschuppen. In der Nacht weckten sie laute Geräusche. Als würde jemand den
Schuppen mit Brachialgewalt auseinandernehmen, Kratzgeräusche auf Holz waren zu
hören, dann splitterte offensichtlich eine Holzlatte, etwas Metallenes fiel mit lautem Krach zu
Boden.
„Nur“ ein Wolf oder ein Hund konnte das nicht sein. Sie schaute aus dem Fenster –
und sah einen mächtigen Karpatenbären, der dabei war, aus den Latten der Seitenwand
Kleinholz zu machen. Er schnaubte heftig, richtete sich auf. Vom Schein ihrer Stirnlampe lies
sich der Bursche nicht stören, er wollte in den Schuppen, das war klar. Irgendetwas höchst
Reizvolles musste dort für ihn drin sein. Erst als auch das Hüttenpersonal, durch den Lärm
aufgewacht, der Sache gewahr wurde und Krach machte, trollte sich Meister Petz fast lautlos
in den Wald. Allerdings sollte er in der nächsten Stunde noch zwei weitere vergebliche
Versuche starten.
Am nächsten Morgen beeilten sich die Hüttenleute, Geschirr mit
Essensresten aus dem Schuppen zu tragen, das also war die willkommene Einladung für
den Bären gewesen. Helga hatte großes Glück, einen von den etwa 50 Bären, die in der
Hohen Tatra noch leben sollen, zu Gesicht zu bekommen. Auf meinen zig Wanderungen
durch die Karpaten habe ich noch keinen Meister Petz gesehen.
Eine Nachricht , die ich vier Wochen nach der Rückkehr in Deutschland las, machte mich wütend und traurig: Touristen hatten danach in der polnischen Westtatra einen jungen Braunbären gesteinigt. Angeblich habe sie der kleine Bär angegriffen. Den Kadaver hatten Wildhüter in einem Bachbett gefunden. Heutzutage, so scheint es, muss man die Bären vor den Menschen schützen nicht umgekehrt.