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Nächstens vielleicht auf den „Tibetaner“

Der spektakulärste Hirtenweg des Retezat steigt vom Râul Bărbat zum Custura-Gipfel / Noch eine Lanze für den einsamsten Winkel der „Granitburg“

von Georg Hromadka

Sooft wir im Retezat einen der alten Saumwege betreten, überkommt uns ein eigenartiges Gefühl. Unsere Gedanken schweifen weit in die Vergangenheit: Wie viele Hirtengenerationen haben hier schon ihre Tragtiere, die kleinen, stämmigen Gebirgspferde, den steinigen Weg bergauf, bergab getrieben? Wer waren die Männer, die als erstes sagten: Hier kommt man am besten durch? Wer waren die ersten, die hier Steine aufhäuften und den andern den Weg wiesen? Waren es vor vielen Jahrhunderten die Hirten des Banats, Siebenbürgens und Olteniens, die „ciobani“, „mocani“ und „păcurari“, oder vor Jahrtausenden die Dazier, die da droben ihre Rinder und Schafe hüteten? Dass es kluge, natur- und bergerfahrene Menschen gewesen sind, erkennt man daran, wie sie die Wege gewählt und angelegt haben: klug.

Es gibt viele gute, alte Hirtenwege im Retezat. Zu den besten zählt der Weg, der am Südrand des Hatzeger Landes (Ţara Haţegului) bei Nucşoara und Ohaba-Sibişel ins Nucşoara-Tal einbiegt, an der Pietrele-Hütte (1480) vorbeiführt, den Sattel der Curmătura Bucurei (2206) quert, am Bucura-See (2041) vorüberzieht, bei Gura Bucurei (1580) den Peleaga-Bach überschreitet, um schließlich zum Plaiul-Mic-Sattel (1879) zu steigen, wo er auf den Kammweg trifft, der westwärts ins Banat führt.
Mindestens ebenso gut ist der „plai“ („Bergweg“), der das Strei-Tal mit dem Retezat und dem Piule-Iorgovan-Massiv verbindet. Er steigt oberhalb Hobiţa (unteres Râul-Bărbat-Tal) über den Şerel-Berg (1377) und den Baleia-Berg (Schutzhütte: 1410) zum Cleanţul Cozmii (1867), verlässt im Gorova-Sattel (Şaua Gorovii oder Gruvii, 1816) den Kamm, läuft hangschräg ins obere Râul-Bărbat-Tal hinunter, überquert den Râul-Bărbat bei der Hirtenhütte Stâna din Râu (1563), steigt jäh hinan (bis auf 2350 m in der Nähe der Custura) und fällt dann wieder ab (1879 m im Plaiul-Mic-Sattel).
Während der von Ohaba-Sibişel und Nucşoara kommende Weg Nord-Süd-Richtung hält, die wichtige Pietrele-Hütte berührt und den Mittelpunkt des Massivs schneidet (Bucura-Kessel mit 8 großen Meeraugen), durchzieht der von Hobiţa ausgehende „plai“ (Richtung Nordost- Südwest) ein Gebiet, das dem oberflächlichen Betrachter einer Retezat-Karte peripher vorkommt. Aber: Was ist das für eine „Peripherie“, in der sich das seen- und kaskadenreiche Quellgebiet des Râul-Bărbat ausbreitet, die faszinierendste Gipfelkette des Retezat, die Gruniu-Kette (Lanţul Gruniu), aufragt, die Große und die Kleine „Puppe“ (Păpuşa) in einen der tiefsten Retezat-Kare schauen, die Custura sich im höchstgelegenen Bergsee Rumäniens, im Großen Custura-See *, spiegelt und sich, last not least, der höchste Hirtenweg des Retezat, der in doppeltem Sinn atemberaubende „Tibetanerweg“, hinan windet?
Als „Tibetanerweg“ bezeichnen wir den ereignisreichsten Abschnitt dieses uralten Hirtenwegs, das Stück Stâna din Râu – Custura. Was bewog uns vor Jahren, dem imposanten Weg den „Spitznamen“ anzuhängen? War es die ungewöhnliche Größe der „momâi“, auf die das Diminutiv „Steinmännchen“ gar nicht passt? War es die Zahl der „Steinmeere“ ringsum? War es, dass wir bei jeder Wendung des Wegs erwarteten, auf die Inschrift „Om mani padme hum“ zu stoßen? Oder war es die heilige Stille da oben, die uns an den Ausspruch eines chinesischen Weisen erinnerte: „Ein jeder Tag ist wie ein kleines Jahr – und jede Stunde Bergeinsamkeit ist Ewigkeit...“ Jedenfalls: Wir fanden, dass sich dieser Weg von allen Bergwegen im Retezat unterscheidet: durch seine kühne und intelligente Anlage, seine unerhörte Perspektive, seine völlige Abgeschiedenheit.
Touristen verkehren auf dem „Tibetanerweg“ selten. Das ist erklärlich. In seiner Nähe findet man keine Schutzhütte. Die meisten Leute, die vom Osten her (Baleia-Hütte) ins Massiv eindringen, wandern in Richtung West zur Pietrele-Hütte, von wo man mühelos an die „großen Brocken“ Retezat (Gipfel), Bucura (Gipfel und See), Peleaga (höchster Retezat- Gipfel) herankommt.
Wie gelangt man zum Tibetaner?
Mit Zelten ausgerüstete Retezat-Wanderer haben es leicht. Sie können im oberen Peleaga- Tal oder am Peleguţa-See lagern. Der Custura-Sattel (Şaua Custurii) ist von hier gut zu erreichen. Besser aber, man zeltet in der Nähe der Stâna din Râu – und begibt sich damit sogleich „in medias res“ (zügiges Angehen eines Problems).
Wer ohne Zelt wandert, „macht“ den „Tibetanerweg“ am besten von der Buta-Hütte aus. In diesem Fall ist es das gescheiteste, den spektakulären Weg in eine ebenso spektakuläre Tour einzubauen. Eine solche Tour wäre die „Rundfahrt“ Custura – Păpuşa – Tăul Ţapului – Stâna din Râu – „Tibetanerweg“ – Custura.
Dies wären ihre Abschnitte:

  1. Buta-Hütte (1580) – Plaiul-Mic-Sattel (Şaua Plaiul Mic, 1879): 1 Stunde, blauer Punkt, rotes Kreuz (vom Sattel, auf dem die beiden Păpuşa-Meeräuglein glitzern, ein erster Blick auf das Herzstück des Massivs).
  2. Plaiul-Mic-Sattel – unterm Custura-Gipfel (sub Vf. Custurii, 2350): 2 Stunden, blaues Dreieck (immer schöner die Aussicht auf das Peleaga- und das Lăpuşnic-Tal, auf die Gipfel Peleaga, Păpuşa und Păpuşa Mică).
  3. Unterm Custura-Gipfel – Custura-Fenster (Fereastra Custurii, 2255) – Custura-Sattel (Şaua Custurii, 2205): 30 Minuten, blaues Dreieck bis zum Custura-Fenster, gelbes Kreuz (Granitfelder, Steinmännlein und grandioser Ausblick nach drei Seiten hin: mächtige Kare und Gipfel im Osten, Norden und Westen).
  4. Custura-Sattel – Kleine Păpuşa (Păpuşa Mică, 2379): 1 Stunde, gelbes Kreuz (die Markierung umgeht den Gipfel, es lohnt sich aber, der „Kleinen Puppe“ aufs Haupt zu steigen: vor allem, um Einblick ins Kar des Tăul Adânc, des „Tiefen Sees“, zunehmen).
  5. Kleine Păpuşa – Păpuşa-Gipfel (Vf. Păpuşa, auch: Vf. Păpuşa Mare = Große Păpuşa, 2500): 1 Stunde, gelbes Kreuz (der Aufstieg zum Zwillingsgipfel der Păpuşa ist stellenweise schwierig, macht sich aber durch eine überwältigende Rundsicht bezahlt).
  6. Păpuşa – Scharte „Hornul Ţapului“ (2280): 1 Stunde, rotes band (in der Nähe der Scharte zieht sich der scharfe Grat der Porţile Închise, eines riesigen „Felsentors“, hin, das über dem Galeş-See und dem Tăul Ţapului aufragt).
  7. Scharte „Hornul Ţapului“ – Tăul Ţapului („Gemsbocksee“, 2160): 30 Minuten auf unmarkiertem, steilem Absteiger (der „Gemsbocksee“, ein Original unter den Meeraugen des Retezat, glänzt vor allem durch seine seltsame Färbung).
  8. Tăul Ţapului – Stâna din Râu (1563): 1 Stunde auf unmarkiertem, nicht immer klarem Pfad durch wildes, aber nicht unübersichtliches Latschen- und Felsgebiet (in der Nähe der Hirtenhütte Stâna din Râu: die Ciumfu-Fälle und herrliche Exemplare von Zirbelkiefern).
  9. Stâna din Râu - Custura-Fenster: 2 Stunden, blaues Dreieck (oberhalb der Stâna din Râu, aber noch auf dem Boden des gewaltigen Râul-Bărbat-Kessels, die Quelle „Fântâna Călătorilor“, wo jeder „Reisende“ (călător) tanken muss; hier beginnt der spannende Film, der „Tibetanerweg“ heißt).
  10. Custura-Fenster - Custura-Gipfel (Vf. Custura, 2457): 1 Stunde, gelbes Kreuz (bei schönem Wetter sollte man sich den Aufstieg zum Custura-Gipfel und das damit verbundene Panorama nicht entgehen lassen: Custura-Seen und Gruniu-Kette). Custura – Plaiul-Mic-Sattel – Buta-Hütte: 2 Stunden, blaues Dreieck bis Plaiul Mic, dann rotes Kreuz und blauer Punkt.

Für gute Geher sind die angegebenen Marschzeiten im Ganzen eher großzügig als knapp berechnet. Eine 13-Stunden-Wanderung ist jungen Leuten zwischen 16 und 60 Jahren doch wohl zuzumuten. Realisierbar ist die „Rundreise“ allerdings nur im Sommer, wenn die Tage lang sind. Vielleicht sehen wir uns nächstens auf dem „Tibetanerweg“?

(Verlag Neuer Weg, Bukarest - Komm Mit 76, S. 32 – 38)

Seite Bildunterschrift
 
32 Kartenskizze: Die Route Buta – Custura – Păpuşa – Stâna din Râu – Custura – Buta mit dem „Tibetanerweg“ („T“)
34 In die phantastische Welt der Râul-Bărbat-Kare lässt uns die Kleine Păpuşa blicken (der Gletscherkessel „Tăul Adânc“)
35 Die Kleine Păpuşa markiert die Wasserscheide zwischen dem Peleaga- und dem Râul-Bărbat-Becken (Blick auf die Peleaga und ihren See)
36 Ein Trunk aus der „Fântâna Călătorilor“ erfrischt. Für den Aufstieg über den „Tibetaner“ muss aber auch die Feldflasche gefüllt werden.
37 Auf einem Kammvorsprung der „Muchia dintre Custuri“ (Grat zwischen den „Custuri“) ragen, weithin sichtbar, die „momâi“ („Mandl“, Steinmännchen) in die Höhe. Sie sind, wie übrigens auch die Einfassung der „Fântâna Călătorilor“, ein Werk der Hirten und uralt.
38 Am oberen Ende des „Tibetanerwegs“ erhebt sich die Kuppe der 2457 m hohen Custura. Vom abgründigen West- und Südrand des Custura-Kessels sieht man die beiden Custura-Seen (Großer Custura-See in 2270 m Höhe) – einer der schönsten Eindrücke, die man von einer Păpuşa-Custura-Fahrt mitnimmt.

* Nach neueren Erkenntnissen ist der Lacul Mioarelor (2282 m) im Fogarascher Gebirge Rumäniens höchster Bergsee.  (Falk Kienas)

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