(Karpatentour April/Mai 2014 – Serbien)
Die Karpaten Serbiens waren der letzte Teil dieses Gebirges, den ich noch nicht kannte. Helga interessierte sich außerdem für das Balkangebirge, das sie bereits auf einer Wanderung in Bulgarien kennengelernt hatte. Also hieß unser Kompromiss: Wandern in den serbischen Karpaten und in der Stara Planina, dem „Alten Gebirge“ des Balkans.
Der Zeitraum zwischen Ostern und dem 1. Mai bot sich an, mit nur 8 Tagen Urlaub konnten wir 16 Tage reisen.
Um 14:50 Uhr sollte unser Flug von Frankfurt nach Belgrad gehen, hieß es bei der Buchung im Februar. Ein paar Tage später wurde der Start auf 20:10 Uhr korrigiert, wir würden die Hauptstadt Serbiens also erst gegen 22 Uhr erreichen.
Immerhin hatten wir neben dem Flug gleich eine Unterkunft reserviert, das Hotel Royal. Durch das Internet wurden wir schon vor Taxifahrern gewarnt, die ihre Fahrgäste abzocken, die vom Flughafen in die Innenstadt wollen. Daher empfahl man den offiziellen Taxistand im Flughafengebäude, der per Liste über seine festen Preise informiert (1800 RSD / 15 EUR). Wir nehmen aber den 23-Uhr-Bus, der schon vor dem Gebäude wartet. Dreihundert Dinar kostet die Fahrt und nach einer reichlichen halben Stunde stehen wir in Belgrads Innenstadt vor dem Hauptbahnhof.
Ich mag es nicht, mitten in der Nacht in einer fremden Stadt anzukommen. Wir müssen unser Hotel finden. Helga setzt auf Groborientierung mit einer Internet-Karte und die Kommunikation mit Einheimischen, ich auf die Route in meinem GPS. Funktioniert hätte beides. Kurz vor Mitternacht leuchtet uns der Schriftzug Royal in der Kralja-Petra-Straße entgegen. Die erste Hürde ist genommen und sollte mit einem Ankunftsbierchen begossen werden. In einem Non-Stop-Laden gleich neben dem Hotel entdecke ich Schwarzbier – Nikšičko Tamno aus Montenegro. Kaufen kann ich es jedoch nicht. Der Verkauf von Alkohol nach 22 Uhr ist in Serbien verboten, wie mir die Dame an der Kasse zu verstehen gibt. Da fährt man in den tiefsten Balkan und stößt auf schwäbische Marotten, unglaublich.
Unser Hotel ist ein recht lustiger Ort. In unser Zimmer gelangen wir angeblich nur per Aufzug, so der Portier an der Rezeption. Tatsächlich scheint die Treppe direkt ins Nirvana zu führen. Die Wandlampe über Helgas Bett wird nur von den Stromkabeln gehalten und der Blick aus dem Fenster fällt auf marode Balkone, wo die Wäsche trocknet. Immerhin gibt es warmes Wasser!
Es regnet am nächsten Morgen und der Blick aus dem Hotelfenster mit Belgrader Hinterhofromantik ist somit noch betrüblicher. Das Beste aber ist das Frühstück. Laut unserer Beschreibung im Internet sollte ein Buffet da sein. Die Dame bringt jedem einen Teller mit Omelett, ein paar dünne Scheiben Formschinken und kleine Schafskäse-Ecken, zwei Scheiben Weißbrot ohne Butter und eine Tasse Kaffee.
Das Gespräch war recht kurz und gestaltete sich in etwa so:
„Ich hätte gern eine Tasse Tee und einen Orangensaft?“
„Geht nicht, es gibt nur ein Getränk!“
„Wieso?“
Schulterzucken mit gelangweilter Mimik
„Wurde das geändert?“
„Ja, geändert!“
„Laut Beschreibung soll es doch ein Buffet geben?“
„Gibt's nicht. Nur jeweils ein Frühstück wählbar“
„Wurde das auch geändert?“
„Ja, geändert!“
„Zum selben Preis?“
„Ja, gleicher Preis!“
Mit der Erkenntnis, morgen wo anders zu frühstücken, verlassen wir unsere Unterkunft, um Belgrad zu erkunden.
In Deutschland Informationen zu bekommen über den südlichsten Zipfel der Karpaten erwies sich als außergewöhnlich schwer. Wir hatten keine Wanderkarten und auch die OSM-Karte auf meinem GPS erwies sich als sehr dürftig. Vielleicht hatten wir ja in Belgrad Glück.
Die Reaktionen auf unsere Frage nach Wanderkarten für die Karpaten oder auch das Balkangebirge in mehreren Buchläden der Fußgängerzone reichen von Erstaunen bis Unverständnis. „Hiking?“ – „Strange!“ Ich hätte auch nach Mondgestein fragen können, die Reaktionen wären sicher ähnlich gewesen. Wir geben es bald auf und widmen uns Belgrads Sehenswürdigkeiten.
Im Nieselregen wandern wir vorbei am pompösen Hotel „Moskau“ zur Kirche des Heiligen Sava. Der Bau in seiner jetzigen Gestalt ist erst rund 10 Jahre alt. Vor dem Gebäude verkaufen Händler T-Shirts mit der Aufschrift: „Putin is watching you!“
Wir schlendern durchs große Areal des Hauptstadtklinikums und vorbei am zerbombten Kaskadenbau des Verteidigungsministeriums bis zum Bahnhof und erkundigen uns nebenan am Busbahnhof, wann morgen ein Bus nach Donji Milanovac fährt. Im alten Stadtkern Belgrads im Kalemegdan überzieht Kopfsteinpflaster noch einige Straßen, Hundebesitzer sammeln die Hinterlassenschaften ihrer Lieblinge auf.
Schließlich landen wir am Café „?“ gegenüber der orthodoxen Kathedrale – ein Restaurant mit Kultstatus in Belgrad. Wie kam es zu diesem seltsamen Namen? 1892 wollte der Besitzer das Café „Bei der Kathedrale“ nennen. Das ärgerte die Kirchenväter und sie drohten mit der Schließung der Räumlichkeiten. Dem Besitzer viel jedoch kein anderer Name ein und so schrieb er vorübergehend ein Fragezeichen auf das Namensschild, bei dem es bis heute geblieben ist. Der Name prägte sich ein und das Café wurde stadtbekannt – funktionierendes Marketing, findet Helga.
Während wir einen Rakija (Quittenschnaps) auf Empfehlung des Hauses genießen, sieht Helga einen Übertragungswagen eines Fernsehsenders, Arbeiter legen Kabel in die Kirche gegenüber, tragen Beleuchtungstechnik hinein. „Hier gibt es am Ostersonntag mehr als nur den üblichen Ostergottesdienst, das dürfte der wichtigste Gottesdienst für Serbien sein“, ist sie sich sicher. Wir werden die Sache im Auge behalten.
Die Festung Kalemegdan ist unser letztes Ziel. Von der Festungsmauer schauen wir auf den Zusammenfluss von Save und Donau. Hinter der Festungsmauer sitzen Leute und spielen Schach. Eine Foto-Ausstellung erinnert an die Bombardierung Belgrads im Zweiten Weltkrieg.
Es hat aufgehört zu nieseln und auf der Knez-Mihailova-Straße, der Fußgängerzone, promeniert das Volk. Wir gehen Abendessen im Restaurant „Vuk“, welches unser Reiseführer für seine serbischen Spezialitäten rühmt. Eine dieser Spezialitäten nennt sich Karadjordjeva-Schnitzel. Es ist unser erstes Schnitzel, das wie ein Palatschinken zusammengerollt auf dem Teller liegt, gefüllt mit Käse (Kajmak) wie bei uns Cordon bleue. Böse Zungen nennen es seiner Form wegen auch Jungfrauentraum.
***
Unser Bus an die Donau nach Donji Milanovac fährt erst um 13 Uhr. Wie geplant wollen wir heute zur orthodoxen Kathedrale, es ist Ostersonntag. Und weil Ostern ist, bekommen wir in der Kirche ein Osterei geschenkt. Die zusätzlichen Lampen leuchten das Kircheninnere für die Medien aus, sodass die Bemalung noch schöner zur Geltung kommt. Die Kirche ist brechend voll, vorn vor dem Altar sitzt neben dem Ex-Premierminister Ivica Dačić und dem Metropoliten von Belgrad Patriarch Irinej, die serbische Polit- und Kirchenprominenz. Kameraleute und Fotografen drängeln sich am Rand durch die Besucher, ein Kirchendiener zeigt ihnen den Weg. Draußen am Straßenrand steht das Sicherheitspersonal auffallend unauffällig ganz in Schwarz gekleidet.
Wir frühstücken zunächst im Café „?“ und warten dann am Eingang des der Kirche gegenüberliegenden Sitzes des Metropoliten das Ende des Gottesdiensts ab. Als der letzte Singsang verklungen war, bewegt sich die ganze VIP-Kolonne aus der Kirche und hält direkt auf den Sitz des Metropoliten zu. Ich staune nicht schlecht, auf Tuchfühlung gehen sie an uns vorbei und verschwinden hinter der großen Holztür am Eingang des Gebäudes.
Auf dem Weg zurück zum Hotel wundere ich mich immer noch, keiner der Personenschützer hatte Anstalten gemacht, uns wegzujagen. Helga meint, die hielten uns für harmlos. Wir hätten dem Ex-Premier und dem Kirchenvater auf die Schulter klopfen können.
Der Zugang zu den Bussen auf dem Busbahnhof ist nur mit entsprechenden Chips, die es beim Kauf eines Fahrscheins gibt, zu betreten. Ich finde die Regelung gut, hält sie doch zwielichtige Gestalten fern. Unsere Rucksäcke kosten extra und mit einem Fahrschein haben wir auch gleich eine Sitzplatzreservierung.
Kurz vor Požarevac verlassen wir die Autobahn und über Landstraße geht es an die Donau. Schilder am Straßenrand kündigen den Nationalpark Ðerdap an. Pause in Golubac. Helga erinnert die Festung am Horizont über dem Donauufer aus der dunstigen Ferne eher an ein Betonwerk. Ich freue mich, dass der Bus an der Donau entlangfährt. Es ist die interessantere Strecke. Es geht laut Karte auch eine Straße über Majdanpek nach Donji Milanovac. Nur, ob die Eisenbahn noch nach Bor fährt, erfahre ich nun nicht.
Einfahrt ins „Eiserne Tor“. Die Berge der Karpaten zu beiden Seiten der Donau zeigen sich in frischem Grün. Ab und zu ragen Felsspitzen auf rumänischer Seite in den Himmel. Je tiefer wir in die Schlucht fahren, desto mehr bewölkt es sich. Die ersten, bei Donauweg-Radlern so respekteinflößenden Tunnel kommen in Sicht.
Gegen 16:45 Uhr erreichen wir Donji Milanovac. Den Ort wählten wir, da es hier eine Touristen-Information und das Büro der Verwaltung des Nationalparks Ðerdap gibt. Hier erhofften wir uns Informationen zu Wanderwegen und vielleicht auch Wanderkarten zu bekommen. Im Moment bekamen wir jedoch gar nichts, das Büro ist an Sonntagen geschlossen. An der Dorfstraße lümmelen sich Straßenhunde mit Plastikmarken an den Ohren. Helga fällt auf, dass nur Weibchen eine Marke haben, vermutlich wurden diese sterilsiert. Da scheint Serbien den Rumänen auf der anderen Seite der Donau ein ganzes Stück voraus zu sein.
Das einzige Hotel ist das Lepenski Vir auf einer Anhöhe über dem Ort. Vereinzelte Pensionen unten an der Donau schienen noch nicht auf Touristen eingestellt zu sein, was an der Vorsaison liegen könnte. Vor dem Hotel parkt ein Reisebus aus Bulgarien. Wir sind nicht die einzigen Gäste. Der riesige sozialistische Betonbau mit Bar, Restaurant, Laden und noch anderer Angebote ist nicht günstig, 54 EUR kostet das Doppelzimmer. Wir bleiben trotzdem. Im Eingangsbereich steht ein Korb voller Ostereier. Helga ist sich sicher, dass wir uns da bedienen können. Auch in Serbien scheint es Sitte zu sein, sich an Ostern mit bunten Eier zu beschenken. An der Hotelbar gibt es gleich wieder welche und zum Abendessen gibt es Fischsuppe – aus Donaufischen, wie uns der Kellner versichert.
Auf den Tischen stapeln sich die Speisen des Frühstücksbuffets am nächsten Morgen. Verglichen mit Belgrad fühlen wir uns hier wie im Paradies. Dass sich ein Frühstücksbuffet lohnt, haben wir sicher der bulgarischen Reisegruppe zu verdanken. Für uns alleine hätte sich das nicht gelohnt und wäre letztlich auch Verschwendung gewesen. Und da heute Ostermontag ist, bekommen wir wieder Ostereier geschenkt.
Zwar ist heute offiziell Feiertag in Serbien, aber laut Öffnungszeiten sollte die Touristen-Info aufhaben. Wir stehen jedoch vor verschlossenen Türen. „Die schlafen sicher noch“, meint ein Typ mit Sonnenbrille, der vor der Straßenkneipe hockt und zumindest einen – erfolglosen – Versuch machte, per Telefon die Bediensteten zu wecken.
Ich ärgere mich. Was sollen wir jetzt machen? Warten scheint keine gute Option zu sein. Wer weiß, ob heute noch mal jemand aufkreuzt.
Vor dem Nationalparkbüro steht ein interaktiver Infokasten. Per Knopfdruck lassen sich ein paar Infos über Wanderungen im Nationalpark abrufen. Wir könnten auf den Veliki Štrbac wandern. Denn von dem 768 m hohen Kalkfelsen soll sich ein phantastischer Blick in Donauenge eröffnen. Ausgangspunkt für die Wanderung ist das Dorf Pecka Bara an der Donau. Das hieße für uns etwa 25 km auf der Straße laufen oder trampen. Zu weit und zu unsicher für einen Tagesausflug. Wir entscheiden uns für einen Spaziergang in der Nähe.
Wir folgen der Straße in Richtung Porečki most (Brücke in der Porečki-Bucht). Kurz vor besagter Brücke führt ein Forstweg links durch einen Weiler den Hang hinauf.
Matsch klebt an den Schuhen, es kann noch nicht allzu lang her sein, dass es hier ordentlich geregnet hat. Ein Bauer steht am Zaun seines Grundstücks und spricht uns an. Ich verstehe „Spaziergang“ und „See“. Er zeigt mit der Hand nach Westen – „zwei Kilometer“.
Wir folgen dem Fingerzeig, finden aber keinen See, dafür eine recht große Landschildkröte neben dem Weg. Sich schützend, stecken Kopf und Beine unter ihrem Panzer.
Ein mit rot-weißem Kreis markierter Pfad führt auf der anderen Seite hinab, zurück nach Donji Milanovac, wir folgen ihm.
Die Touristen-Information ist jetzt geöffnet. Nur unsere Fragen zu Wandermöglichkeiten im Nationalpark kann uns der Mann nicht beantworten. Wir sollen in der Nationalparkverwaltung fragen, die heute aber noch geschlossen hat. Leider gibt es auch noch keine Fahrten auf der Donau, erst ab Mitte Mai. Er schlägt vor, mit dem nächsten Bus nach Golubac zu fahren. Dort können wir uns die Festung ansehen und mit dem Bus aus Belgrad am Nachmittag wieder zurückfahren. Wir überschlagen kurz, wie viel Zeit uns bleibt, um die Festung anzusehen. Eine knappe halbe Stunde, das lohnt nicht.
So laufen wir noch eine Runde in westlicher Richtung und erreichen nach knapp 3 Stunden unser Hotel.
***
Die Bulgaren sind abgereist. Es gibt – wie wir schon gestern vermutet hatten – kein Buffet mehr. Aber es gibt einen großen Unterschied zum Hotel Royal: Wir bekommen problemlos mehrere Tassen Tee von einer freundlichen Bedienung nachgeschenkt und Helga ist sich sicher, dass sie auch noch Wurst oder Käse bekommen würde, würde sie darum bitten. Uns gegenüber am Nachbartisch sitzen Donauradler – Deutsche. Wir hoffen, heute brauchbare Informationen von der Verwaltung des Ðerdap-Nationalparks zu bekommen. Das Büro ist offen, im Empfangsraum sitzt ein Ranger, der leider nur serbisch spricht. Doch kein Problem, der Mann verschwindet die Treppe rauf in den ersten Stock und kommt kurz darauf mit einer blonden jungen Dame zurück.
Wandern im Nationalpark ist möglich, Wanderkarten gibt es jedoch keine, erfahren wir. Es gab mal eine Karte, die sei jedoch vergriffen. Ich spreche meinen Wunsch an, auf den Veliki Štrbac zu wandern. „Das ist möglich“, antwortet die Dame. „Aber nur geführt.“ Wie? „Ja, das sei aus Naturschutzgründen so.“ Wir erfahren, dass der Nationalpark in Schutzzonen unterteilt ist und der Veliki Štrbac befindet sich in Zone 1, der höchsten Schutzzone. Und eine geführte Wanderung ist frühestens mit einem Tag Vorankündigung möglich, für uns also frühestens morgen.
Ob es noch andere Wandermöglichkeiten gäbe, wollen wir wissen. „Ja aber nicht in der Nähe – haben Sie ein Fahrrad“, fragt die Frau. Da stehen wir, gebeugt unter der Last unserer Rucksäcke, die vom Hintern bis über den Kopf ragen. Ob ihr das entgangen ist? So lässt sich's nicht wirklich gut radeln.
Es macht keinen Sinn, wir werden den 10-Uhr-Bus nach Kladovo nehmen und versuchen, unser nächstes Ziel zu erreichen – die Felsenschlucht von Vratna. Immerhin: Wir bekommen – quasi als Trost – noch ein Buch über den Nationalpark in deutscher Sprache.
Bis Kladovo fahren wir eine Stunde. Es geht durch die Kazan-Engpässe. Der Vorteil zur rumänischen Seite ist, dass die Straße hier direkt durch die Schlucht führt. Steil erheben sich die Felsen auf der rumänischen Seite. Wir sehen den Kopf vom Decebal und das kleine Mraconia-Kloster. Auf Höhe Staudamm fängt es wieder an zu regnen.
Auf dem Busbahnhof erkundigen wir uns nach der Weiterfahrt in Richtung Vratna. Doch für den Fahrkartenverkäufer scheint die Welt hinter Kladovo zu Ende zu sein. Dreiviertel elf fährt ein Bus nach Negotin, dort sollen wir fragen. So ein Blödsinn. Wir würden damit auf halber Strecke am Abbiegepunkt vorbeifahren – um von Negotin wieder die Hälfte der Strecke zurückzufahren. Wir zeigen dem Mann unsere Serbien-Karte und dort auf den Abzweig nach Vratna. „Slatinski Most“ sagt der Mann. Es kostet uns knapp 3 Euro.
Der Bus hält aber nicht an der Brücke über den Slatina-Bach. Wohin wir wollen, will eine Frau von Helga wissen. Es wird kurz diskutiert dann bedeutet man uns, noch sitzen zu bleiben. Erst am nächsten Abzweig lässt man uns aussteigen. Wir wühlen gerade unsere Regenjacken aus dem Rucksack, denn es fängt zu nieseln an, da sehen wir einen Bus aus Negotin, der ganz offensichtlich abbiegen will. Wir machen Haltezeichen – und der Bus hält. Das war eine Punktlandung. Wir haben Glück, es geht direkt bis Vratna.
Ich hatte mich schon über den Namen Slatina gewundert, in Rumänien heißt das: Speck. Auch im Bus sprechen die Leute rumänisch, ein alter Mann kann sogar deutsch. War viele Jahre als Gastarbeiter in Deutschland tätig und ist nun in Rente.
Die Leute in der Gegend sind Wlachen, im 18. Jahrhundert von den Habsburgern ins Land geholt. In Vratna ist Endstation. „Immer geradeaus“, sagt der Alte. „Bis wir die Kirche sehen.“
Wir sehen sie nach etwa 45 Minuten. Hinter dem Kloster erheben sich die Kalkfelsen der Schlucht – Ausläufer des Gebirgszuges Veliki Greben (Großes Felsenriff).
Wir gehen erst mal ins Kloster. Eine Nonne zeigt uns die kleine Kirche. Da die Serben auch am Dienstag noch Ostern feiern, steht auch hier ein Korb voller Eier auf einem Tischchen. Und nach altem Brauch, was bekommen auch wir wieder von einer freundlich lächelnden Nonne? Richtig – jeder zwei Ostereier!
Es wird Zeit, sich Gedanken über einen Schlafplatz zu machen – auch wenn wir uns beim Herlaufen zum Kloster schon mal potentiell geeignete Zeltplätze aus den Augenwinkeln heraus angeschaut haben. Eine junge Frau, die hier tätig ist, spricht etwas englisch. Sie fragt den Popen. Wir könnten in Jabukovac übernachten, dort gebe es eine private Unterkunft, der Hauseigentümer spreche sogar deutsch. Das klingt schon mal gut. Wie weit es ist, wollen wir wissen. „Etwa 10 km, der Vater (also der Pope) würde uns fahren. Das klingt noch besser. Wir sollten uns einfach melden, wenn wir von unserer Wanderung zurück sind.
Unsere Rucksäcke können wir auf dem Klosterhof lassen und so unbeschwert in die Tiefen der Vratna-Schlucht hinabsteigen. Aber erst einmal geht es bergauf. Ein Wegweiser am Klostereingang zeigt 20 Minuten zum „Kleinen“ und „Großen Tor“ und 2 ¼ Stunden zum „Trockenen Tor“. Die Tore hier „prerast“ oder „kapija“ genannt, sind natürliche Felsentore. Die beiden Ersteren sind laut wissenschaftlicher Forschungen durch den Einsturz einer Höhle entstanden. Das „Trockene Tor“ hat der Fluss gebildet. Trocken deshalb, weil der Fluss teilweise unterirdisch fließt und das Oberflächenwasser im Sommer versiegen kann.
Auf einem matschigen, lehmigen Pfad rutschen wir in die Schlucht. Es ist merklich kühler geworden. Vor uns erhebt sich das „Große Tor“, 45 m lang und 26 m hoch, mit einer Breite von 22 bis 33 m. Ein Stück stromab steht das „Kleine Tor“, 30 m breit, 15 m lang und 34 m hoch.
Vor dem „Großen Tor“ steht ein Papierkorb. Ich bin zwar der Meinung, dass die Leute ihren Müll lieber wieder mitnehmen sollen, aber immerhin besser, als wenn der Dreck überall rumliegt. Hinter dem Tor geht es über eine Brücke aufs andere Ufer. Nach rund 150 m geht es wieder auf die andere Flussseite aber diesmal ohne Brücke. Barfuß stolpern wir über glatte Steine durchs eiskalte Wasser. Wir hätten unsere Halbschuhe aus dem Rucksack mitnehmen sollen! Aber wer konnte ahnen, dass die Regentage alle „Hüpfsteine“ unter Wasser gesetzt haben. Schon nach etwa 25 m wechselt der Weg wieder durch den Bach auf die andere Seite. Es macht keinen Sinn, wenn wir jedes Mal die Schuhe an und ausziehen müssen, sind wir heute Abend noch in der Schlucht. Wir verzichten auf das dritte Tor und kehren um. Bei der Brücke zweigt ein Pfad ab zu einem Aussichtspunkt. Nach 20 Minuten schauen wir hinunter auf das „Kleine Tor“ und das Kloster.
Zwischen den Felsen blüht wilder duftender Flieder. Die Sonne scheint, wir essen unsere Ostereier und genehmigen uns eine Büchse Schwarzbier. Gegen 16:30 Uhr sind wir zurück am Kloster.
Zurückgekehrt bemerkt man uns schnell und der Pope öffnet das Blechtor eines kleinen Schuppens. Zum Vorschein kommt ein schwarz- und chromglänzender Geländewagen. In einer Viertelstunde sind wir in Jabukovac. Geld will unser „Vater“ nicht nehmen. Wir bedanken uns mit einer kleinen Spende fürs Kloster.
Unsere Pension liegt am Ende des Dorfes. Schon während der Fahrt fielen uns die teils villenartigen Häuser auf. Ein Haus kitschiger als das andere säumen die Dorfstraße. Mehrgeschossige Protzbauten, teilweise mit Stucksäulen versehen – Akropolis auf Serbisch. Auf den Toren bewachen Löwen und Falken aus Gips die Grundstücke. In einem Vorhof steht ein Gipsmops und vor einem anderen Haus steht eine Bank mit Elefantenfüßen. Dass diese Tierchen den Leuten hier wichtig sind, sieht man an einem Rohbau. Noch kein Putz und keine Fenster, aber auf dem Gemäuer schlägt schnaubend ein Gipspferd seine Hufe in die Luft. Und noch etwas erregt unsere Aufmerksamkeit, vor jedem zweiten Haus parkt ein Auto mit deutschem oder österreichischem Nummernschild. Zwei ältere Frauen „erzählen“ uns – für uns nur nonverbal zu verstehen –, dass heute Abend noch im Dorf getanzt wird.
Unser Pensionswirt spricht nicht wirklich Deutsch, obwohl seine Frau schon seit Jahren in Frankfurt arbeitet. Doch seine Tochter hat ein Tablet mit Translator App (konservativ: Flachrechner mit Übersetzungsprogramm). Wir machen einen Dorfspaziergang, Helga will die architektonischen Einzigartigkeiten fotografieren und Dragiša, unser Pensionswirt, lädt uns im Paja – der hiesigen Dorfkneipe auf ein Bierchen ein.
Wir hocken uns zu vier Dörflern an den Tisch, zwei von ihnen sprechen Wiener Dialekt. Sie arbeiten in Österreich und sind jetzt über die Feiertage auf Urlaub bei ihren Angehörigen.
„Die Meisten hier gehören zur Volksgruppe der Wlachen“, erzählt uns einer der Männer. Sie fühlen sich aber als Serben. Die Sprache wlachisch ähnelt dem Rumänischen ist aber eigenständig. Viele aus dem Dorf arbeiten in Deutschland, Österreich oder der Schweiz und sind nun auf Besuch daheim, was auch die Autos vor den Häusern erklärt.
Doch in Jabukovac leben nicht nur deutsch sprechende Wlachen, sondern auch serbisch sprechende Deutsche!
Frauen in Tracht laufen die Dorfstraße hinunter in Richtung Dorfplatz. Was das zu bedeuten hat, wollen wir wissen. „Ja, eine Frau aus dem Dorf feiert ihren 60. Geburtstag“, klärt uns unser Gastgeber auf. Aha, das ist also der von den beiden Frauen angekündigte Tanz! „Und sie hat sich gewünscht, dass ihre Freundinnen in Tracht zu der Feier erscheinen. Ihr Mann – wie heißt er gleich? – Stefan oder Peter – ist Deutscher.“
Stefan oder wie sich später herausstellt: Peter ist 75 Jahre und ähnelt mit seinen buschigen Augenbrauen Altkanzler Schröder. Im tiefsten Serbien auf deutsche Touris zu treffen ist ihm offensichtlich völlig unverständlich. „Was verschlägt euch denn hierher?“ Dass ich ihn kaum verstehe, liegt weniger an seinem Äppelwoi-Dialekt, als vielmehr an der Beschallung durch die Dorfkapelle. Die Politik, wie er sagt, ließ ihn Deutschland vor 16 Jahren den Rücken kehren. Jetzt nimmt er lieber seinen Rentenabschlag in Kauf und lebt mit seiner Frau hier in Serbien. Das nenne ich konsequent. Da neuerdings in der Schule Deutsch unterrichtet wird, bringt er den Lehrern deutsche Grammatik bei – und uns serbische Schimpfwörter.
„Es gibt in Deutschland Bücher, Kauderwelsch, da steht das drin.“ – Jebo te, so isses!
Die Gäste tanzen weiter, wir gehen mit Dragiša in die Dorfkneipe zu Abend essen. Es gibt die Spezialität des Hauses – Grillplatte. Wie wir noch merken werden, ist das die Spezialität jedes serbischen Restaurants.
Dragiša will uns am nächsten Morgen zum Bus nach Slatinski Most fahren. Bis es soweit ist, haben wir noch ein wenig Zeit. Mit seinen Freunden, die in Österreich arbeiten, machen wir einen Spaziergang zu einem kleinen Wasserfall, eine halbe Stunde hinter dem Dorf. Hier stand mal eine Wassermühle, die ihm gehörte. „Ihr seid doch alle vom Bau, ihr müsst die Mühle wieder aufbauen, dann kommen die Touristen“, empfiehlt Helga den Vieren.
Die Steinlöwen, -falken, -möpse und -elefanten sind aber auch eine Attraktion, finde ich.
Bis auf die Tatsache, dass Dragišas Wagen zum Anfahren ein wenig bergab rollen muss, hat sich sein 30 Jahre altes Gefährt recht gut gehalten und wir schaffen es auch bis zur Bushaltestelle an der Hauptstraße.
Der Bus aus Kladovo kommt pünktlich um viertel zwölf. Unsere Rucksäcke verschwinden wie üblich im Gepäckraum, dann geht es weiter nach Süden, unser Ziel – Knjaževac.
Jetzt brauchen wir erst mal eine Unterkunft. Eine Dame führt uns auf Nachfrage zu einem wuchtigen Betonklotz. Doch alle Türen sind verschlossen, Gott sei Dank! Weitersuchen.
Zwei Mädchen führen uns schließlich zu einem Keller-Restaurant. Auch wenn es äußerlich nicht den Anschein hat, der Laden hat auch Zimmer und nicht mal schlechte. Ausgestattet mit Hightech-Dusche und voll klimatisiert, ist es die Unterkunft mit dem besten Preis-Leistungsverhältnis bis jetzt.
Das Städtchen ist unser Eingangstor zur Stara Planina. Im hiesigen Büro der Touristeninformation bekommen wir nicht nur aktuelle Infos, wir sind auch ganz angetan von einer Wanderkarte des Massivs! Der einfachste Weg ins „Alte Gebirge“ ist mit einem Taxi nach Babin zub zu fahren. Mit nützlichen Informationen und schlechten Wetterprognosen verlassen wir die Touristen-Info.
***
2500 Dinar kostet uns die Fahrt bis Babin zub. Babin zub ist ein aus mehreren Felsen bestehender Berggipfel im Herzen der Stara Planina und bedeutet „Großmutters Zahn“. Wenn man die Lücken zwischen den Felsen betrachtet hat der Name durchaus seine Berechtigung. Am Luxushotel Stara Planina & Spa (4 Sterne) werden wir abgesetzt. Der Fahrer gibt uns seine Telefonnummer, falls wir auch wieder zurück wollen. Das Hotel ist nagelneu, 2011 fertiggestellt. Doch laut unserer Karte muss es hier eine Berghütte geben. Ein Bauarbeiter zeigt uns den Weg, noch etwa 45 Minuten.
Hier oben auf 1500 Meter ist es noch merklich kühler, die Bäume sind noch kahl und am Wegrand liegen vereinzelt schmutzige Schneereste. Dafür blühen auf den Wiesen Krokusse.
Bis zur Berghütte, Planinarski dom genannt, brauchen wir doch deutlich länger. Drei Nächte wollen wir bleiben. Das Hüttenpersonal ist recht übersichtlich, der Hüttenwirt und der Koch. Wir sind die einzigen Gäste.
In der Stara Planina befindet sich momentan auch der höchste Berg Serbiens, der Midžor (2169 m). (Der 2656 m hohe Ðeravica liegt im Kosovo.) Weiß leuchten seine Flanken im Schnee. „If it's foggy, don't go!“, warnt uns der kettenrauchende Hüttenwirt. Wir werden sehen.
Nach Ende eines Regengusses wollen wir erst einmal Großmutter auf den Zahn fühlen. Etwa 500 m hinter der Berghütte wendet sich der Weg nach Süden und steigt recht zügig an. Drei Gämsen verschwinden zwischen den Felsen. Der gesamte Südhang des Babin zub ist Skigebiet und entsprechend zerstört. Zwischen den Skiliften blühen unzählige Krokusse. Wir steigen auf den höchsten Punkt (1758 m). Leider verhüllen Wolken die umliegenden Berggipfel. Während des Abstiegs fängt es auch wieder an zu regnen.
„Morgen früh soll es trocken bleiben“, versichert uns der Hüttenwirt am Abend. Wir verlegen das Frühstück auf 7 Uhr, der Koch war nicht begeistert über das frühe Aufstehen. Abends legen sich die Jungs mächtig ins Zeug, wir bekommen 5-Gang-Menü – zusammengestellt aus dem, was die Küche hergab.
Der Hüttenwirt hatte sich geirrt, leider. Im Nieselregen und dichtesten Nebel steigen wir die Jeep-Straße auf in Richtung Midžor. Acht Kilometer sind es laut einem Wegweiser bis zum Gipfel. Auf dem Kamm bläst uns ein kräftiger Wind ins Gesicht. Ab und zu tauchen Wegweiser mit Kilometerangaben aus dem Nebel auf. Unsere Schuhe folgen den kleinen Schmelzwasserbächen zu ihrer Quelle, ausgedehnte matschige Restschneefelder. Kleine violette Krokusspitzen stoßen durch die Schneedecke, es wird auch ab 2000 m bald Frühling. Etwa 1 ½ km vor dem Gipfel ist der Weg verschwunden. Wir stehen mitten im Schnee und im Nebel. Oben weiß, unten weiß, eine gescheite Orientierung ist nicht mehr möglich. Zwar könnten wir uns vom GPS zum Gipfel leiten lassen, aber was soll das? Nur um bei null Sicht auf dem höchsten Punkt zu stehen? Wir drehen um.
Gegen 12:15 Uhr sind wir wieder am ersten Wegweiser. Da es noch recht früh ist, beschließen wir nach einer Pause mit Dosenbier, Helgas mitgebrachter Salami und gekochten Eiern, noch eine Runde, um Großmutters Zähne zu drehen. Vier Hunde begleiten uns. Zwei von ihnen tragen ein Halsband, scheinen also irgendwem zu gehören. Auch auf dem Weg zurück zur Hütte ist das Wetter nicht besser, es klart kurz auf, um im nächsten Augenblick wieder zu regnen. Morgen werden wir das Balkangebirge verlassen.
Der Himmel ist strahlend blau und die Sonne lacht uns aus. Helga möchte zu Fuß nach Ćuštica absteigen. Laut unserer Karte führt ein Forstweg bis ins Dorf. Das Problem ist, den Einstieg zu finden, denn am Abzweig auf unserer Karte breitet sich jetzt ein Stausee aus. Da hat die Karte ein paar Änderungen der letzten Zeit noch nicht nachvollzogen.
Auch mein GPS zeigt weder Stausee noch Weg an, nicht mal das Wellnesshotel ist drauf, scheiß Karte! Ich muss wohl auch mal bei OSM mitmischen. Wir drehen eine Ehrenrunde um den See, der Weg bleibt jedoch verschollen. Helga will im Spa-Hotel fragen, ich habe keine Lust, würde lieber trampen.
Aber Helga möchte beim heutigen schönen Wetter lieber wandern, noch andere Wege und Dörfer sehen. Um des lieben Friedens willen geh ich halt mit – ein wenig lustlos trottle ich hinter ihr her. Klar war, dass im Hotel Helga fragen muss, ich wollte ja trampen! Die Dame am Empfang ist sehr freundlich, meint zu Helga, „ja, es gibt einen Weg nach Ćuštica “, aber sie wüsste nicht, wo der beginnt. Aber sie hat eine Idee. Ein Kollege von ihr wohnt in dem Dorf und der würde den Weg immer laufen. Sie ruft kurz an und lässt sich den Weg erklären.
Wir brauchen nur noch 550 m der Asphaltstraße vom Hotel aus folgen, dann würde rechter Hand ein Forstweg abzweigen, der hinunterführt.
Der Weg ist nun leicht zu finden, einer der Hunde von gestern, ein Golden Retriever, begleitet uns. Um den Hals trägt er ein Stachelhalsband. Ich kenne diese Teile von den Hirtenhunden in den Karpaten, es dient als Schutz bei Wolfsattacken.
Der Abstieg dauert lang. Nach 1 ½ Stunden erreichen wir einen kleinen Weiler. Heuhaufen stehen auf der Wiese, der Weg durch das Dörfchen gleicht einer Schlammpiste. Aus einem der Häuser stürzt ein kalbsgroßer Hütehund wild kläffend auf uns zu. Die Nachbarhunde stimmen ein und unser treuer Begleiter sucht schleunigst das Weite. Hier endet offensichtlich sein Revier. Schöner Held. Nun müssen wir allein weiter. Laut meinem GPS bewegen wir uns durch Niemandsland, weder das Dorf noch der Weg ist auf der Karte abgebildet.
Nach insgesamt über 5 Stunden kommt endlich eine Straße in Sicht. Doch bevor es wieder in die Zivilisation geht, heißt es, eine letzte Hürde nehmen. Zwischen uns und der Straße tobt ein Bergbach zu Tal und von einer Brücke fehlt weit und breit jede Spur. Wir müssen durchs Wasser. Durch den vielen Regen ist das Wasser lehmig braun und die Strömung stark. Aber der Bach ist nicht tief.
Wir überlegen noch bis Kalna zu laufen. Helga hat auf der Hinfahrt Pensionen gesehen. Wir könnten versuchen, dort zu übernachten. Bis Kalna sind es noch einmal 7 ½ km Landstraße. Da brennen die Fußsohlen, aber von einer Pension keine Spur. Kalna ist ein totes Nest. Ein Besoffener quatscht uns an, wir laufen weiter.
Wir laufen noch etwa 2 ½ km, bis ein Auto hält. Marko aus Pirot nimmt uns mit bis nach Knjaževac. Über 28 km stecken uns in den Beinen, als wir wieder im Markov Konak Quartier beziehen. Morgen wollen wir mit der Bahn durch die wildeste Schlucht Serbiens nach Niš fahren.
***
Der Svrljiški Timok hat sich zwischen Knjaževac und Svrljig tief in den Kalkstein gegraben und eine atemberaubende Schlucht geschaffen. Die Schlucht ist nicht begehbar, aber es führt eine Eisenbahnlinie hindurch. Durch 32 Tunnel und über etliche Brücken zuckelt der kleine Triebwagen in Richtung Niš. Mal türmen sich die Felswände zu unserer Rechten, mal zu unserer Linken. Kaum erhascht unser Auge einen kurzen Blick auf den Fluss, wird es auch schon wieder dunkel, wir fahren in den nächsten Tunnel ein. Es hat keinen Zweck, die Kamera rauszuholen. Also genießen wir die wilde Landschaft nur mit unseren Augen und speichern die Eindrücke in unserem Kopf.
Das Bähnle hält sogar einmal mitten in der Schlucht. Wenn wir mehr Zeit hätten, würde sich hier ein Erkundungsgang lohnen.
Um 15:20 Uhr sind wir in Niš. Die Schlafplatzsuche erweist sich als schwierig. Uns springen nur Nobelhotels ins Auge (Ambasador, The Regent Club). Erst ein paar Polizisten, die Helga kontaktiert, geben uns den entscheidenden Tipp. Gleich gegenüber der Moschee, zentral gelegen, ist ein Hostel, das nehmen wir. Es folgt ein Stadtrundgang, wir besuchen die Festung, die Innenstadt und den alten Friedhof. Auf dem Bauernmarkt erstehen wir 1,5 l selbstgebrannten Šljivovica.
Niš – die drittgrößte Stadt Serbiens hat eine wechselvolle Geschichte durchlebt. Kaiser Konstantin der Große, der Gründer Konstantinopels (heute Istanbul), wurde hier geboren.
Leider wird dieser Sohn von Niš in der Stadt kaum erwähnt. Allerdings musste die Stadt auch viel Leid ertragen. Im Südwesten erhebt sich der Bubanj-Hügel. Während der deutschen Besatzung wurden hier rund 12000 Menschen von den Nazis erschossen. Die genaue Zahl der Ermordeten ließ sich nicht ermitteln, da die Deutschen vor ihrem Abzug die Knochen verbrannten, um Beweise zu vernichten. Drei überdimensionale Betonfäuste erinnern heute auf dem Hügel an die Taten.
Auf dem Weg dorthin fällt uns ein großes Areal auf, Ruinen erheben sich aus dem Gras. Während des Kosovo-Krieges wurde Niš von Nato-Kampfverbänden stark bombardiert. Ein Schild verrät, dass hier nun ein neues Stadtquartier entwickelt wird.
Im Nordosten der Stadt liegt das ehemalige KZ Crveni Krst (Rotes Kreuz). Es diente den Deutschen Besatzern als Durchgangslager. Vor allem Juden und Widerstandskämpfer waren hier interniert, bevor sie entweder auf dem Bubanj erschossen oder in die großen Konzentrationslager Europas transportiert wurden. „Partisanen (Kommunisten) und Tschetniks (Monarchisten), die Deutschen machten da keinen Unterschied.“ erklärt uns die Dame, die uns durch die Anlage führt.
Hinter einer Betonmauer erhebt sich ein zweigeschossiger Bau. „Im Erdgeschoss waren die Männer untergebracht, im ersten Stock die Frauen und oben unter dem Dach die politischen Gefangenen.“ so die Frau. Die Zellen der politischen Häftlinge sind etwa 2 m² groß, es war dunkel und auf dem Boden hatten die Deutschen Stacheldraht ausgelegt, sodass der Häftling stehen musste. „Wer nicht auf dem Bubanj starb, starb hier“, kommentierte die Dame.
Lagerkommandant war Werner Schulz, bei den Häftlingen nur „Der Stock“ genannt. Er war berüchtigt, einen Häftling mit einem Schlag seines Stockes zu töten. 1944 wurde er bei der Flucht von Tito-Partisanen gefasst und getötet.
Am 12. Februar 1942 gelang 105 Gefangenen die Flucht. Aufgrund dieser Begebenheit heißt die Gedenkstätte heute „12. Februar“.
Das dritte Mahnmal in Niš, welches wir besuchen, liegt im Osten der Stadt, Čele kula – der Schädelturm.
1809, nach der Schlacht auf dem Čegar-Berg, befahl der türkische Kommandant von Niš, Huršid-Pascha, die getöteten Serben zu enthaupten. Ein Teil der Köpfe wurde dem Sultan geschickt, die restlichen Köpfe wurden zur Abschreckung in einen Turm gemauert.
Eine Kapelle schützt heute die Reste der Turmruine und auch im Innern befindet sich ein Großteil des Gemäuers hinter Glas, von wo uns mehr oder weniger zerfallene Totenschädel anstarren.
***
Mit dem Bus verlassen wir die Stadt im Tal der Nišava, es geht wieder in die serbischen Karpaten nach Sokobanja (Falkenbad). Es regnet in Serbiens Kur- und Wellnessort, der im ganzen Land bekannt ist durch seine Thermalquellen. Ein junger Mann zeigt uns den Weg zum Ortszentrum. Er studiert in Niš und kann nicht begreifen, dass zwei Deutsche seinen Heimatort besuchen. „Ich bin nur hier, weil ich hier geboren wurde!“, erzählt er uns. Momentan studiere er in Belgrad. Ob er danach ins Ausland gehen wird? „Nein, ich gehöre wohl doch nach Serbien.“
In der Touristen-Information schauen wir uns wieder mal nach Wanderkarten um, aber Fehlanzeige. Die Dame empfiehlt uns den Ripaljka-Wasserfall. Der wäre bei dem Wetter besonders schön. Und auf den Šiljak im Rtanj-Gebirge könnten wir wandern. Das wäre aber weit. Der Šiljak ist mit 1565 m der höchste Berg der serbischen Karpaten. „Sie können mit dem Taxi bis Mužinac fahren.“
Erst einmal laufen wir zur Pension „Splendid“ am Ende der Fußgängerzone, die hier aus Marmor besteht. Der Chef spricht Deutsch, hat jahrelang in der Schweiz gearbeitet. Wir bekommen ein Zimmer und ein Zaječarsko. Zum Frühstück und Abendessen ist es ihm ein Anliegen, uns die Speisekarte zu übersetzen. Von ihm erfahren wir auch, dass man auch als Tourist ins alte türkische Bad gehen kann – allerdings erst mit Saisonbeginn ab Mitte Mai.
Es hört nicht auf zu regnen. Die ganze Nacht hindurch hat es gegossen und auch am Morgen ärgern uns immer wieder Schauer. Wir wollen zur Festung Sokograd und zum Ripaljka-Wasserfall wandern. Der Weg ist nicht leicht zu finden. Wir folgen der Straße, die das Ozren-Gebirge in Richtung Jezero überquert. Nach einer halben Stunde (1,5 km) zweigt ein Wanderweg nach links in den Wald ab. Er ist mit einem weißen Punkt mit roter Umrandung markiert und führt auf eine kleine Anhöhe mit mehreren Funkmasten. Tief unter uns zeigt sich die Ruine der Festung Sokograd im Nieselregen. Dumm gelaufen, wir werden uns die Festung für den Nachmittag aufheben.
Dann führt der Weg durch nasses Gras und dichten, fast schon dschungelartigen Bergwald nach Barudžija (Picknickplatz mit Quelle) auf die Straße zurück. Wir folgen ein Stück der Straße, bis rechter Hand ein Forstweg abzweigt. Monsterregenwürmer, 40 cm lang, winden sich über den nassen Boden. Nach insgesamt 2 ¼ Stunden stehen wir vor dem rauschenden Wasserfall. Gischt sprüht uns entgegen, aber wir sind ja schon nass.
Ein schmaler schlammiger Waldpfad führt das Gradišnica-Tal hinunter. Immer dem Tal folgend erreichen wir wieder Sokobanja. Wir gehen essen.
Es ist noch zu früh, um den Wandertag zu beenden, zumal der Regen aufgehört hat. So entscheiden wir uns, noch bis zur Festung Sokograd (Falkenstadt) zu laufen. Weit kommen wir nicht. Am Restaurant Lepterija hat der Moravica-Bach den Weg überflutet, wir müssen umkehren.
An einer kleinen Kapelle vorbei steigen wir einen Pfad zum Aussichtsfelsen Golemi kamen. Tief unten thront die Burg über grauen Kalksteinfelsen, umgeben von frisch-grünen Bergwäldern der Devica-Berge. Im Norden strahlt Sokobanja in der Abendsonne.
Im großen Bogen geht es zurück in den Ort. Morgen ist unser letzter Wandertag, der Šiljak im Rtanj-Gebirge wäre ein würdiger Abschluss. Hoffentlich wird das Wetter besser.
Das Hoffen war vergebens, zwar zeigt sich kurz die Sonne, aber schon drohen tiefblaue Gewitterwolken über dem Kamm des Ozren. Wir verzichten auf den Šiljak und wollen den Weg zum Ausgangspunkt seiner Besteigung suchen, das Dorf Šarbanovac.
Auch in Serbien ist der 1. Mai ein Feiertag und entsprechend voll und rummelig ist es auf der Flaniermeile, als wir unsere Pension verlassen. Den erstbesten Feldweg laufen wir nach Norden. Ein dumpfes Grollen scheint zu sagen: „Zieht eure Regenklamotten an.“ Der Tipp war gut, denn bald prasselt ein kräftiges Gewitter auf uns herunter. Der Feldweg verwandelt sich in ein Schlammbad. Die Schuhe sind von gestern noch nicht richtig trocken und reiben. An den Zehen melden sich die ersten Blasen. Dreckklumpen an den Sohlen erschweren das Laufen noch zusätzlich. Erst nach über 10 km haben wir die Möglichkeit, an einem Brunnen Vesperpause zu machen. Am Horizont erhebt sich die Pyramide des Šiljak. An seinen Hängen wachsen Heilkräuter, aus denen Tee gemacht wird – „Rtanjski čaj“ genannt. Wir hatten ihn auf der Berghütte „Babin zub“ liegen sehen.
Um die Gipfelpyramide ranken sich Legenden, so sollen sich dort oben Außerirdische herumtreiben. Wir werden ihnen heute nicht begegnen.
Bis zum Dorf ist es nun nicht mehr weit. Große Gehöfte bestimmen das Straßenbild. Helgas Kommentar: „Hier werden die Grillspezialitäten gezüchtet.“
Eine befestigte Straße führt zurück nach Sokobanja, vorbei am Busbahnhof. Morgen früh um 7:50 Uhr geht der einzige Bus nach Belgrad.
***
Der Bus ist ein Minibus, außer uns wollen noch vier Personen in Richtung Belgrad. Bei Aleksinac geht es auf die Autobahn. Aus- und Zustiege der Fahrgäste erfolgen auf dem Standstreifen. Das wird hier offensichtlich nicht so eng gesehen. Nach reichlich drei Stunden sind wir wieder in der Hauptstadt Serbiens.
So endet unsere Rundreise durch Ostserbien. Aufgrund der recht dünnen Informationslage ist das Ende der Karpaten für mich der am schwersten zugängliche Teil dieser Bergkette. Da wir nun aber einen ersten Eindruck gewonnen haben, bin ich mir sicher – wir werden wieder kommen.
***