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Tatras Westen

(Karpatentour Oktober 2010 – Slowakei)

2. Teil

Inhalt

  1. Ins Roháče-Massiv
  2. Im Gerümpelschuppen
  3. Meine Sicherung
  4. Der Zweite ist immer der Schwerste
  5. Hoch hinaus
  6. Abschied
  7. Informationen

1. Ins Roháče-Massiv

Am Ende des Tals Roháčska dolina gab es laut meiner Wanderkarte eine Hütte, die Ťatliakova chata. Von dort könnte ich eine interessante Tagestour machen, überlegte ich. Aufstieg zum Smutné sedlo, dann nach Osten dem Hauptkamm folgen über die Gipfel Plačlivý Roháč, Ostrý Roháč und Volovec bis zum Rákoň. Von dort würde es auf bekanntem Weg zurück ins Tal gehen. Mit sieben Stunden rechnete ich für die Rundwanderung. Womit ich jedoch nicht gerechnet hatte, war meine Blödheit, eine Karte zu interpretieren. Tatsache war, dass es sich bei besagter Hütte lediglich um eine Imbissbude handelte, deren Saison vorüber war. Im Tal angekommen, stand ich vor verschlossenen Türen. Auf einer Tafel standen noch die Preise für Speisen und Getränke und auf einer Ablage die benutzten Teller und Biergläser, als ob der Laden erst vor einer Stunde dichtgemacht hätte.
Bis zur nächsten Berghütte, der Zverovka chata, sind es etwa 1 ½ Stunden Abstieg auf einer asphaltierten Bergstraße. Etwas frustriert setzte ich meinen Weg fort. Der Traum von meiner geplanten Tagesrundtour über den Ostrý Roháč war geplatzt. Ich würde mindestens 3 Stunden länger unterwegs sein und auf eine 10-Stunden-Wanderung hatte ich keine Lust. Mit Pausen würde es vermutlich noch länger dauern.
Ich folgte der Straße, die sich endlos durch den Bergwald zog. Auf einem Waldparkplatz standen Reisebusse, Schulkinder hockten im Picknickbereich und spielten. Weiter unten: schmucke Hotels, die auch die Bezeichnung chata – Hütte trugen. Nach einer Stunde und 45 Minuten erreichte ich die Berghütte Zverovka chata.
Auf der Hütte war nichts los, ich bekam ein leeres 8-Bett-Zimmer, widmete mich erst mal der Körperhygiene und wusch einen Teil meiner Kleidung. Die Hütte hatte ein richtiges Restaurant und die Kellnerin sprach Deutsch. Deutsch sprachen auch drei Wanderer vor ihrem Goldfasan-Bierchen. Sie kamen aus Wittenberge und hatten an ihrem letzten Urlaubstag eine Kammwanderung unternommen. Von den Dreien erfuhr ich, dass es auch die nächsten Tage schön bleiben sollte. Die Nachricht war mir auch einen Goldfasan wert, und zum Abendessen bestellte ich mir etwas typisch Slowakisches – Räubers Sattelpack (Zbojnícka kapsa) stand auf der Speisekarte. Dahinter verbarg sich Hähnchenbrust mit Schafskäse, Speck und Zwiebeln.
Es dämmerte gerade, als ich am Morgen die Straße wieder bergauf lief. Ich wollte heute bis zur Berghütte Žiarska chata im zentralen Teil des Roháče-Massivs. Doch bevor es hinauf in den Smutné sedlo ging, machte ich einen Abstecher zu den Roháčska plesa – den 4 Roháče-Bergseen. Im unteren Teil des Tals Smutná dolina zweigt ein Pfad nach rechts ab, er ist mit grünem Band markiert. Nach einer knappen halben Stunde erreichte ich den ersten See. Dunkel lag er da, zwischen Latschen und Geröllbrocken eingebettet. Auf der Oberfläche tanzten die Lichtreflexe der Morgensonne, die sich gerade über den Rohače-Kamm schob. Weiter oben folgten kurz darauf zwei weitere Seen, der Druhé und der Tretie Roháčske pleso. An den Ufern hatten sich skurrile Eisformen gebildet. Sie hatten die Form ausgefranster Besenhaare. Zum vierten See, dem Štvrté Roháčske pleso, lief ich nicht mehr, auch so kostete mich der Umweg etwa 2 Stunden.
Da der Aufstieg zum Sattel durch die Nordflanke des Massivs führte, hatte ich wieder Schneekontakt, hart und fest knirschte es unter meinen Schuhsohlen. Viertel vor zwölf stand ich im Smutné sedlo, ein kalter Wind blies mir entgegen. Ich machte schnell ein paar Fotos und begann den Abstieg auf der anderen Seite. Über einen schmalen Bergrat führte der Wanderweg schließlich ins Tal Žiarska dolina und zur Berghütte.

2. Im Gerümpelschuppen

Ich verstand nicht viel, aber das was ich verstand, ließ mich nicht gerade jubeln. Auf der Hütte gab es keinen Platz mehr, sie sei ausgebucht, erzählte mir die Hüttenwirtin. Ich hätte reservieren sollen. So ein Pech, dummerweise war heute Freitag und das Wochenende stand vor der Tür. Die Dame wechselte ein paar Worte mit einem Mann in der Küche. „Eine Nacht“, fragte sie. „Zwei“, antwortete ich. „Geht nicht“. Wieder wurde diskutiert. „Hast du einen Schlafsack“, fragte sie und bedeutete mir, ihr zu folgen. Wir verließen das Hauptgebäude und betraten einen kleinen Schuppen. Eine steile Holztreppe führte unter das Dach des Schuppens, dort war ein Matratzenlager eingerichtet, im Erdgeschoss stand ein Doppelstockbett. Für 3,30 EUR/Nacht könnte ich hier schlafen. Der ganze Raum hatte zwar das Flair einer Gerümpelkammer, aber mir blieb wohl nichts weiter übrig, wollte ich nicht bis an den Fuß der Berge absteigen. Ich begnügte mich mit dem Doppelstockbett. Nun hatte ich zwar ein Dach überm Kopf, aber eine Waschmöglichkeit gab es hier nicht. Mir blieb nur das Waschbecken auf dem Klo im Hauptgebäude.
Auf der Terrasse vor der Hütte herrschte Hochbetrieb. Ich holte mir ein Bier, schloss Freundschaft mit der Hauskatze und genoss die Aussicht. Das Tal Žiarska dolina ist im unteren Teil komplett entwaldet. Eine Lawine im Winter 2009 hatte hier gründlich Arbeit geleistet. Ich musterte die Berghänge über der Hütte und war mir nicht sicher, ob der Bauplatz der Hütte wirklich geschickt gewählt wurde. Die ersten kahlen Baumleichen lagen nur wenige Meter von dem Gebäude entfernt. Silvester in schneereichen Wintern jedenfalls mochte ich hier oben nicht unbedingt feiern.
Von der Hütte ins Tal hinunter führt eine Asphaltstraße. So ist es möglich, mit dem Radl hier hochzufahren. Ein Großteil der Tagesgäste waren Radler. Man konnte aber auch mit einem Roller nach unten fahren. Ein Typ hatte vor der Hütte einen Rollerverleih. Wer wollte, konnte mit so einem Teil die Straße hinuntersausen. Und das Geschäft lief prächtig. Jeder der Rollerpiloten bekam einen Helm aufgesetzt und durfte dann losrollern. Der Typ schaffte die Teile mit seinem Auto wieder nach oben, wo schon die nächsten Kunden warteten.
Als sich die Sonne im Westen hinter den Bergen verkroch, wurde es schlagartig kühl. Im Speiseraum hatte ich das Gefühl, jemand hätte das Licht ausgeknipst. Da ich morgen früh zeitig aufbrechen wollte, ging ich gleich nach dem Essen in meine Gerümpelkammer, um meine Sachen zu richten. Ich wollte den Westkamm des Roháče-Massivs laufen. Zum Baníkov-Gipfel und weiter über die Hrubá kopa und den Tri kopy zum Smutné sedlo. Dort könnte ich wieder zur Hütte absteigen. Laut meiner Wanderkarte ist der Weg als schwierig eingestuft. Es gibt mehrere Kletterstellen, einige sind mit Ketten gesichert.
Ich packte meinen Krempel aus dem Rucksack, um Platz zu schaffen für das Allernötigste, füllte meine Trinkflasche und knipste das Licht aus. An Schlaf war jedoch nicht zu denken. Ständig knipste jemand das Licht wieder an und verschwand oben im Matratzenlager, der Letzte kam mitten in der Nacht – es war Viertel vor Drei.
Gegen sechs Uhr zog es mich nach draußen. Ich schnappte meinen Rucksack, setzte die Stirnlampe auf und folgte dem Pfad durch die Dämmerung bergauf. Der Weg führte steil bergauf, es war kalt, Pfützen und Bächlein bedeckte eine dünne Eisschicht, und die Bergspitzen färbten sich langsam von Rot nach Gelb. Ich kam gut voran. Im Jalovecké sedlo hatte ich eine phantastische Sicht nach Westen. Aus den Wolken erhoben sich die Massive des Choč und der Malá Fatra und im Süden die Niedere Tatra. Ab dem Bergsattel folgte der Weg dem Kamm zum Jalovecký príslop, es wehte ein kalter Wind. Der Roháče-Kamm war zum Greifen nah. Hinter dem Gipfel wechselte der Pfad auf die Nordwestseite. Ein Ausrufezeichen auf meiner Wanderkarte markierte hier eine gefährliche Stelle. Zwischen den Steinen lag Schnee, knochenhart und an der Oberfläche vereist. Ich konnte keine Markierung entdecken und war mir nicht sicher, wie der Weg weiterlief. Unsicher zwischen den Felsbrocken herumkletternd, suchte ich nach dem Weg, sah aber nur Eis und Steine. Mir war die Sache zu riskant, ich entschied mich, nicht weiter zu laufen. Ärgerlich und enttäuscht trat ich den Rückweg an. So schnell war eine Bergtour zu Ende, dachte ich frustriert. Auf dem Weg nach unten kamen mir Wanderer entgegen. Ja, manchmal ist es besser, nicht allein in den Bergen unterwegs zu sein.
Um doch noch ein Erfolgserlebnis für mich verbuchen zu können, machte ich an der Hütte nur kurz Rast und stieg dann wieder hinauf zum Smutné sedlo. Von dort führte der Kammweg nach Osten auf den Plačlivý Roháč. Der Weg wurde zwar laut Karte auch als schwierig eingestuft, hatte aber keine gefährlichen Stellen. Außerdem pilgerten jetzt schon jede Menge Wanderer über den Grat. Ich folgte ihnen und hockte mich nach ein wenig Kraxelei auf den 2125 m hohen Gipfel. Zufrieden wackelte ich auf der anderen Seite nach unten und zurück zur Hütte. Spontan entschied ich mich, noch eine Nacht in meiner Gerümpelkammer zu verbringen und morgen den Westgrat erneut anzugehen, diesmal vom Smutné sedlo aus. Denn im Aufstieg fiel mir die Kraxelei oft leichter als im Abstieg.
Die Hütte war am Abend berstend voll, in der Küche rotierte das Personal. 40 Leute sagte die Chefin. Ich fand noch ein freies Plätzchen und bekam von einem Slowaken einen Schnaps spendiert. Sah ich so mitgenommen aus? Der Typ wusste nicht, wie das Zeug heißt, aber er wusste, dass es gut ist.

3. Meine Sicherung

Auch der zweite Versuch, den Westteil zu laufen, schlug fehl. Irgendwie war es mir nicht vergönnt. Gleich an der ersten ausgesetzten Stelle zauderte ich dermaßen herum, dass ich mir sagte: Lass es bleiben. Was war los? War ich zu alt? In meinem Kopf schien eine Art Sicherung zu sein, die einfach zu früh durchbrennt. Früher bin ich doch auch Wege dieser Art gelaufen. Ich stieg also zurück in den Smutné sedlo und lenkte meine Schritte nach Osten. Es gab ja noch mehr zu entdecken. So erhebt sich über dem Tal Žiarska dolina der 2185 m hohe Baranec, der dritthöchste Gipfel der Westtatra, da wollte ich hin. Ich umging auf einem schmalen Saumpfad den Plačlivý Roháč und landete im Žiarske sedlo. Der nach Süden führende Bergrücken endet auf dem Baranec. Ich folgte ihm bis auf den Gipfel. Dort war ich nicht allein, eine Krähe schien den höchsten Punkt für sich in Anspruch genommen zu haben. Stolz saß sie auf dem Steinhaufen, neben dem Gipfelobelisk und schaute in die Runde. Dann pickte sie ein paar Mal zwischen den Steinen herum und holte aus einer Spalte ein halbes Brötchen. Zufrieden flatterte sie mit ihrer Beute davon.
Die Sicht war phantastisch. Im Süden breitete sich das ganze Bergpanorama der Niederen Tatra aus, davor lag die Liptauer Senke mit dem Waagtal und dem Stausee Liptovská Mara. Im Osten erhob sich die Hohe Tatra und im Westen und Süden der Roháče-Grat. Hier hätte ich meine Panorama-Ausrüstung dabei haben müssen, schade. Trotzdem machte ich in jede Himmelsrichtung einmal Klick und wandte mich dann dem Abstieg zu, zurück zur Berghütte. Die Hütte war kaum wieder zu erkennen – keine Menschen, der Speiseraum war leer. Auch in den Bergen war es heute viel ruhiger gewesen als gestern.
Morgen würde ich das Roháče-Gebiet verlassen. Von meiner 3,30 EUR Gerümpelbude hatte ich die Nase voll. Ich brauchte einfach mal eine gescheite Unterkunft, selbst wenn diese 33 EUR kosten würde, mir wäre es egal.
Den Weg bis hinauf zum Sattel Žiarske sedlo kannte ich nun schon gut. Ab dort ging es steil bergab, vorbei an dem Plačivé pliesko, dem Plačivé-See, und dann noch steiler durch Bergwald hinunter ins Tal Jamnícka dolina. An einer verlassenen Hirtenhütte (Koliba genannt) machte ich Pause. Ein schwarzer Pfeil an der Hüttenwand, mit Holzkohle gemalt, zeigte nach rechts, darunter stand H2O. Ich folgte dem Hinweis und gelangte tatsächlich zu einer Quelle. Unter dem Hinweis für Wasser befand sich ein weiterer Pfeil, mit der Formel H2SO4. Ich folgte dem Hinweis nicht, schnappte mir stattdessen ein Stück Holzkohle von einer Feuerstelle und malte einen Pfeil nach oben, daneben kamen die Symbole O2 und N2. Es hatte mich förmlich in den Fingern gejuckt, auch meine chemischen Grundkenntnisse zum Besten zu geben. Zufrieden lief ich weiter und erreichte früher als gedacht die Tatra-Magistrale. Jetzt musste ich nur noch eine Unterkunft finden. Irgendwie kam mir der Ort vertraut vor. Zwischen hohen Fichten fristete ein verlassener Campingplatz sein Dasein. Auf dem Eingangsschild stand: „Autocamp Račkova“. Jetzt dämmerte es mir, auf genau diesem Campingplatz hatte ich vor über 11 Jahren gezeltet, als ich quer durch den slowakischen Teil der Karpaten lief. Damals startete ich von Štrbské pleso und endete genau hier. Was für ein Zufall. Den nächsten Zufall erlebte ich dann bei der Zimmersuche. Ein paar Meter der Tatra-Magistrale folgend, erblickte ich linker Hand ein recht nobles Etablissement. Horská chata Orešnica stand auf meiner Wanderkarte. Also eine Berghütte. Nur haben die Slowaken die dumme Angewohnheit, auch Nobelhotels als Berghütte zu bezeichnen. Und genau das war es – ein Hotel. Ich schaute trotzdem rein. Nur ein paar Autos standen auf dem Hof, ausgebucht war der Laden also mit Sicherheit nicht. Ich fragte die Dame an der Rezeption nach einer Unterkunft. Das Zimmer kostete exakt 33 EUR pro Nacht. Ich buchte für zwei Nächte.

4. Der Zweite ist immer der Schwerste

Ich wollte eine Tagestour machen, über den Otrhance-Kamm auf den zweithöchsten Berg der Westtatra, die Jakubina. Es war noch dunkel, als ich früh um sechs Uhr aufbrach. Angesichts der Bärenpräsens lief ich mit den Stöcken klappernd das Tal Úzka dolina hinauf. Nach einer halben Stunde teilte sich der Weg. Nach links ging es ins Tal Jamnícka dolina, wo ich gestern herkam, nach rechts führte der Weg ins Tal Račkova dolina, von dort würde ich heute zurückkommen. Mein Wanderweg, grün markiert, wandte sich steil den Berghang hinauf. Stellenweise konnte ich tief ins Tal blicken, da der Wald fehlte. Stürme hatten die Bäume wegrasiert. Doch je höher ich stieg, desto mehr verdichtete sich der Wald zu einer regelrechten Fichten-Lärchen-Wildnis. Erst als die Bäume dem Krummholz wichen, hatte ich wieder den Überblick. Mit gelben Flechten bewachsene Felsbuckel schauten aus dem Kamm, wurden größer und zwangen mich schließlich zum Klettern. Stein um Stein arbeitete ich mich über zum Teil ausgesetzte Stellen auf- und vorwärts, da wirkte die Tour auf den Plačlivý Roháč wie ein Kinderspiel. Obwohl der Weg hier auf meiner Wanderkarte nur als mittelschwer eingestuft wurde. Der ganze Kamm zwischen dem Gipfel Ostredok und dem Rysia-Sattel artete in Kletterei aus. Zum Glück lag kein Eis und Schnee auf den Felsen, die Griffe und Tritte waren fest und griffig. Am Fuß der Vyšná Magura machte ich eine Pause. Ich blickte zurück auf den Grat. Wild und dunkel erhob sich der Wuchtblock der Prostredná Magura. Psychologisch gesehen wanderte ich genau richtig. Wäre ich die Tour andersrum gelaufen, hätte ich bei dem Anblick wohl wieder kehrt gemacht. Wie bei den höchsten Bergen unserer Erde ist halt der Zweite schwieriger als der höchste Berg.
Einfach ging es weiter. Ich stolperte über den Geröllhaufen der Vyšná Magura und stand kurz danach auf der Jakubina 2194 m hoch. Eine Gruppe Gämsen im Jamnícka-Tal äugte zu mir hinauf. Die Sicht war wieder spektakulär auf die Hohe Tatra im Osten und das Roháče-Massiv im Westen. Der Weg über den Hauptkamm ist einfach. Ich lief bis zum Račkovo sedlo. Vor genau einer Woche stand ich hier schon einmal. Es war auf dem Weg von der Ornak-Hütte zur Hütte an der Chochołowska-Wiese. Trotzdem sah es anders aus. Der Schnee am Gipfel des Klín war verschwunden und das Gras leuchtete noch goldener in der Nachmittagssonne unter einem tiefblauen Himmel. Erst jetzt fiel mir auf, dass so gut wie keine Wanderer unterwegs waren. Die Ersten, die ich sah, waren drei Gestalten, die das Račkova-Tal hinaufkamen. Sie liefen langsam, trugen große Rucksäcke und sahen ziemlich müde aus. Wo sie wohl noch hinwollten? Bis zur nächsten Hütte war es noch weit.
Ich stieg ab zu den Račkove-Seen, grün glitzerte das Wasser in der Sonne. Mir gefiel der Platz. Das Tal ist weit und offen, am Osthang sammelten zwei Slowaken Preiselbeeren. Nur der Wanderweg ähnelte an manchen Stellen eher einem ausgetrockneten Bachbett, soviel Geröll lag dort rum. Meinen Wanderschuhen bekam das Geröll offenbar überhaupt nicht. Die Stiefelspitzen lösten sich im Nirwana auf und der Haltedraht an einer Öse des rechten Schuhs war gebrochen (meiner Meinung nach eh ein Konstruktionsfehler!). Es ärgerte mich. Immerhin waren die Schuhe nicht mal 1 ½ Jahre alt und ich hatte – mal meine Wochenendtouren im Schwarzwald nicht mitgerechnet – bisher lediglich 4 größere Bergtouren mit ihnen unternommen. De facto werde ich sie nach der Tour wohl verschrotten dürfen. Und das bei einem Preis von über 200 EUR. „Shoes for Actives“ ist der Werbeslogan des Herstellers. Mein Fazit: Fürs Bergwandern nicht zu gebrauchen.
Der Weg wechselte auf eine Forststraße. Motorsägen heulten und das Krachen von Bäumen war zu hören. Pferde holten die gefällten und von ihren Ästen befreiten Baumstämme von den schwer zugänglichen Berghängen an den Rand des Forstweges. Dort wurden sie verladen und abtransportiert. Bald vereinigte sich der Weg aus dem Račkova-Tal mit dem aus dem Jamnícka-Tal, bis zum Hotel war es nun nicht mehr weit. Um vier Uhr erreichte ich meine Unterkunft nach insgesamt 10 Stunden.
Dass ich nicht der einzige Deutsche hier war, merkte ich am Abend, als ich mir ein Schäferschnitzel mit Speck und Bratkartoffeln schmecken lies. Am Nachbartisch wurde Deutsch gesprochen. Die Familie kam aus Rheinland-Pfalz und heute vom Gipfel der Bystrá. Den höchsten Berg der Westtatra hatte ich mir bis zuletzt aufgehoben. Ich wollte ihn übermorgen von Podbanské aus angehen.
Den Weg nach Podbanské kannte ich bereits. Dem roten Band der Tatra-Magistrale bin ich vor 11 Jahren schon einmal gefolgt, allerdings in entgegengesetzter Richtung. Ich hatte damals Probleme, den rechten Weg zu finden, ich hatte jetzt Probleme, den rechten Weg zu finden. Am Abzweig zum Bystrá-Tal verfranzte ich mich komplett. Es kostete mich eine Stunde, wieder zurück auf den Wanderweg zu gelangen. Wo damals dichter Wald wuchs, klafften heute kahle Flächen. Der Orkan, der am 19. November 2004 über die Tatra fegte, hatte hier zwar nicht ganz so großen Schaden angerichtet wie in der benachbarten Hohen Tatra, aber die Schäden waren trotzdem nicht zu übersehen. Seltsam war, dass auch eine ganze Reihe Bäume über dem Weg lagen, die erst vor Kurzem umgeworfen wurden. Ob es an meinem zweiten Wandertag passiert ist, als der Sturm über den Hauptkamm pfiff? Ich würde es wohl nicht herausfinden. Was ich aber finden musste, war eine Unterkunft in Podbanské.
Die Dame vom Hotel Orešnica hatte mir das Kriváň empfohlen. Der viel gerühmte Wintersportort der Westtatra machte auf mich einen eher verschlafenen Eindruck. Bei zwei Hotels, einem Restaurant und ein paar Pensionen brauchte ich nicht lang zu suchen. Das Hotel Kriváň liegt nicht weit entfernt von der Magistrale auf einer Anhöhe. Ein sozialistischer Wind wehte von dem Plattenbau zu mir herüber. Hier würde ich nun die letzten zwei Nächte bleiben. Mit Abendessen zahlte ich 47 EUR pro Nacht, das war okay. Das Zimmer hatte jedoch nicht annähernd die Qualität von dem gestrigen Zimmer. Auf 2 ½ x 4 ½ Metern drängelten sich zwei Betten, ein Tisch und ein Fernsehschränkchen. Das Bad war noch kleiner und die Dusche hing an der Wand zwischen Waschbecken und WC. Als ich mich duschte, saute ich somit unweigerlich den Thron ein. Ob die das damals mit Absicht so gebaut hatten, damit die Gäste auch Schwimmbad und Sauna nutzten? Das Abendbuffet dagegen fand ich Spitze. Ich konnte zwischen verschiedenen Speisen wählen, warme und kalte Speisen, Suppe, Fleisch und vegetarisch, Obst und Kuchen, einfach Klasse. War etwas alle, kam jemand aus der Küche und packte was Neues auf den Tisch. An der Theke holte ich mir slowakische Cola – Kofola genannt. Das Getränk ist der Hauptkonkurrent von Coca Cola hierzulande.
Die Zeitangaben für die Wanderrouten stimmten bisher immer recht gut, sowohl auf den Wegweisern als auch auf meiner Karte. So behauptete ein Schild am Abzweig ins Tal Kamenistá dolina, dass es bis zum Bystrá-Gipfel 6 Stunden und 20 Minuten wären. Laut meiner Karte würde ich nur 5 Stunden brauchen. Egal, so oder so würde es morgen ein langer Tag werden, ich wollte zeitig los.

5. Hoch hinaus

„Fragen Sie doch morgen früh in der Küche und lassen Sie sich das Frühstück einpacken“, lautete der Vorschlag von der Dame an der Rezeption. Als ich morgen kurz vor halb sechs in das verschlafene Gesicht des Nachtwächters schaute, der mir die Tür aufmachte, ließ ich das Frühstück sausen, um nicht unnötig Zeit zu verlieren. Draußen war es stockdunkel, ein paar Sterne funkelten am Himmel, die Kälte biss mich in die Fingerspitzen. Ich knipste meine Stirnlampe an und folgte dem Pfad, der mit einem blauen Band markiert ist, ins Kamenistá-Tal. Doch lang folgte ich ihm nicht. Auf einer Waldlichtung teilte sich der Weg. In verschiedenen Richtungen ging es weiter, und ein Zeichen konnte ich nirgends entdecken. Ich fluchte vor mich hin und rannte wie besoffen durch die Dunkelheit. Erst in die eine, dann in die andere Richtung. Da hätte ich auch aufs Frühstück warten können, wenn ich nun sinnlos Zeit verlor auf der Suche nach dem richtigen Weg. Endlich blinkte mich von einem Baumstamm das blaue Band an. Glücklich lief ich weiter, mit den Stöcken klappernd, um allen Bären klar zu machen, dass ich unterwegs war. Langsam begann es zu dämmern. Ich knipste die Lampe aus und steckte sie in meine Jackentasche. Das Tal wurde enger. Wenn ich mich nicht irrte, heißt Kamen auf deutsch – Stein. Ich lief also durch ein steiniges Tal, die Beschreibung stimmte. Nur: Im Prinzip könnten alle Täler in der Tatra so heißen.
Über Schotter und Geröllbrocken stieg ich weiter bergauf. Rechts unter mir rauschte der Kamenista-Bach in Kaskaden talwärts. Waldstücke wechselten mit freien Flächen. Als ich die Krummholzzone erreichte, wechselte der Weg auf die andere Seite des Bachs. Oben am Hang bewegte sich etwas. Ein Bär? Ich schaute angestrengt auf das graubraune Etwas. Es war kein Bär, es war ein Hirsch und daneben noch einer. Sie mussten mich auch entdeckt haben und flohen ins dichte Krummholz. Die Morgensonne hatte sich bereits über die Berge geschoben und tauchte die östliche Hangseite der Bystrá in ein warmes Licht. Bald erreichten auch mich die ersten Sonnenstrahlen. Mein langer schwarzer Schatten im goldgelben Herbstgras begleitete mich das letzte Stück bis hinauf in den Bergsattel Pyšné sedlo. Ein Rotkäppchenstein markierte die Staatsgrenze. Ich hatte einen wunderschönen Blick ins Kościeliska-Tal, entdeckte den Bergsee Smreczyński Staw und auch die Ornak-Hütte glaubte ich zu erkennen.
Ich schaute auf meine Uhr und wunderte mich: Zwei Stunden und 45 Minuten hatte ich bis hierher gebraucht. Eine Stunde weniger als auf meiner Karte angegeben – und gerannt bin ich wahrlich nicht. Nun ging es nach Westen auf dem Hauptkamm, ansteigend bis zu einem Vorgipfel, der sich Blyšť nennt. Ich hatte nicht das Gefühl, auf einem Gipfel zu stehen. Von dort zweigt ein Seitenkamm nach Süden und die Bystrá ist zum Greifen nah. Noch etwa 10 Minuten und ich stand auf dem höchsten Berg der Westtatra. Ich setzte mich auf einen Stein und genoss den Rundblick. Drei Stunden und 45 Minuten hatte ich gebraucht Laut Karte wären es 5 Stunden gewesen und laut Wegweiser in Podbanské sogar fast 6 ½ Stunden. Irgendwie müssen sich die Leutchen geirrt haben. Mir war's recht, konnte ich doch nun gemütlich zurückbummeln. Mein Abstieg ist mit einem gelben Band markiert und zieht sich dem Bergrücken folgend nach Süden. Langsam schlenderte ich den Pfad hinunter, ein dunkler Punkt bewegte sich nach oben – der erste Wanderer. Sein Gruß klang etwas mürrisch, hatte ich den Eindruck. Ob der sauer war, nicht als Erster auf der Bystrá zu stehen? Immerhin musste er auch sehr zeitig aufgebrochen sein, da er den längeren Anstieg durch das Tal Bystrá dolina gewählt hatte.
Der Bergrücken wurde flacher, und der Pfad machte einen Knick nach Westen, wo es in steilem Zickzack ins obere Bystrá-Tal hinunter ging. Unter mir funkelten die Bystré plesa, die Bystrá-Bergseen in der Sonne, zur Hälfte noch mit Eis bedeckt. Ich hockte mich auf einen Erdwall und knabberte die letzten Nüsse und Rosinen aus meinem Fressbeutel. Jetzt wurde es belebter. Ein Pärchen kam das Tal hinauf und grüßte. Es waren Tschechen. „Ah Deutschland, Deutschland überall“, kommentierte der Typ, als er erfuhr, wo ich herkomme. Ich bezweifelte, dass er so viele Deutsche zu der Zeit hier getroffen hatte.
Bald tauchte ich wieder in den Wald ein. Knallgelbe Schilder am Wegrand warnten vor Lawinen. Das Tal zog und zog sich, doch bald hörte ich wieder das Gejaule der Motorsägen. Bald hatte ich die Magistrale erreicht, über den Baumwipfeln leuchtete wieder der Kriváň, und nach einer Stunde stand ich vor meiner gleichnamigen Unterkunft.

6. Abschied

Morgen würde ich die Berge verlassen, musste meinen Rucksack packen, durfte noch mal abends am Buffet schlemmen und brach am nächsten Morgen auf in Richtung Štrbské pleso.
Die Sonnentage waren vorüber. Das kalte und diesige Wetter machte die Szenerie der entwaldeten Hänge der Hohen Tatra noch unwirtlicher als sie eh schon war. Die neu gepflanzten Bäumchen versteckten sich zwischen alten Stümpfen und vertrockneten Grasbüscheln. Doch auch hier waren die Holzfäller bei der Arbeit. Ich wunderte mich, dass man von den wenig gebliebenen Bäumen auch noch welche fällte. Einer krachte direkt auf den Wanderweg. Ich musste warten, bis der Mann die Äste vom Stamm entfernt hatte, dann konnte ich drüberklettern. Daheim im Schwarzwald hätten schon kilometerweit vorher Warnschilder die Holzfällerarbeiten angekündigt. Hier musste man halt schauen, dass einem der Baum nicht auf den Kopf fiel. Länger als gedacht brauchte ich bis Štrbské pleso. Nach fast 5 Stunden erreichte ich den Bahnhof, brauchte nicht lang zu warten. Die Tatra-Bahn nach Poprad stand schon bereit.
In Alfons Restaurant genehmigte ich mir den letzten Goldfasan und aß Poprader Medaillons, bevor es in einer langen Nacht zurück nach Deutschland ging. Es endete wohl meine bisher schönste Bergtour in der Tatra. Fast zwei Wochen Sonnenschein hatte ich hier noch nie gehabt, und ich stand auf den drei höchsten Gipfeln der Westtara. Baníkov, Tri kopy und Ostrý Roháč waren nicht zuletzt drei gute Gründe, noch mal wieder zu kommen.

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