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Höhen und Tiefen der Karpaten

(Karpatentour September/Oktober 2014 – Slowakei)

Inhalt

  1. Du solltest Kinder haben, wenigstens eins
  2. Das wäre mal ein Riesending
  3. Allein zu wandern ist gefährlich
  4. Glück gehabt, Pech gehabt
  5. Informationen

Diese Herbsttour in den Karpaten war eine sehr spontane Entscheidung. Es sollte ursprünglich in den Himalaja gehen, von Himachal Pradesh nach Ladakh, jedoch scheiterten gleich zwei Ideen zu Wanderrouten an der Organisation bzw. Durchführbarkeit vor Ort.
Die Zeit bis zum geplanten Urlaub wurde immer knapper, ich überlegte schließlich nicht mehr lang und entschied mich zu Wanderungen im slowakischen Teil der Hohen Tatra und den Bieszczady in Polen.

***

1. Du solltest Kinder haben, wenigstens eins

Die Karpaten empfangen mich mit Regen. Kurz hinter Vrútky wird es nass, Tropfen schlittern über das Glas des Zugfensters. Die Waag ist randvoll. Vorwitzig zu nahe am Ufer stehende Bäume haben sich schon nasse Füße geholt.
Der Zug fährt mit etwas Verspätung in Štrba ein, zum Glück wartet die Zahnradbahn. Nach etwa 15 Minuten steiler Bergfahrt bin ich am Ziel – Štrbské pleso. Der Ort am gleichnamigen See liegt unter einer grauen Wolkendecke, es ist noch nicht mal um sieben Uhr abends und es dämmert bereits. Meine Unterkunft heißt Vila Polar, ich hatte bereits von Deutschland übers Internet 3 Nächte gebucht und die Standortkoordinaten in mein GPS gespeist. Jetzt kann es mich zum Ziel führen, hoffe ich. Doch das Teil scheint auf Osteuropa allergisch zu reagieren und führt mich in die Irre. Ich konnte nicht wissen, dass es die Wege auf meiner Karte in natura gar nicht gibt. Im dunkeln kämpfe ich mich durch die Taiga und stehe schließlich vor meiner Pension, die Schuhe und Hose nass und schlammbesudelt wie nach einer Tagestour in einer Tongrube. Ich ärgere mich über das blöde GPS und über den blöden Falk. Da hätte ich Idiot lieber am Bahnhof nach dem Weg fragen sollen, es wäre einfacher gewesen und hätte keine 5 Minuten gedauert.
Die Pension wird ihrem Namen gerecht, alles ist in kühlen Farben, blau und weiß gehalten. An den Wänden hängen Bilder mit Eisbären. Kalt ist es trotzdem nicht. Leider hat das Polarhaus kein Restaurant. Zum Abendessen geht es in den Ort, den Weg kenne ich ja nun.
Das Hotel „Toliar“ wirbt mit Hausmannskost und hinter der Fensterscheibe leuchten zwei kupferne Braukessel im Licht der Lampen. Zwei Argumente die mich überzeugen mal hineinzuschauen. Leider gibt es keine Krautsuppe, die scheint ab einem gewissen Standard nicht mehr salonfähig zu sein.
Zurück in der Polarpension wartet schon mein Bett. Morgen werde ich es ruhig angehen lassen, ich will hinauf zum Predné Solisko (Vorderer Solisko, 2117 m), eine lockere Tageswanderung.

Die Wanderung ist eine gute Eingehtour, um meine Gelenke in Schwung zu bringen. Stand doch letzte Woche die Reise noch komplett auf der Kippe, als es mich beim Radeln auf die Fresse, oder genauer, die Hüfte gelegt hatte. Diese leuchtet nun in den lieblichsten Warmtönen von Gelb über Rot bis Violet, doch das Laufen bergauf und -ab scheint ihr nichts auszumachen.
Der Morgen ist grau und es nieselt ein wenig. Die Spitzen der Berge hinter dem Tschirmer See verstecken sich in Wolken. Die Paddelboote liegen kielauf am Ufer. Ich mache trotzdem ein Bild, nach dem Motto: Ich bin da gewesen. Der Aufstieg zum Predné Solisko führt über einen Skihang und ist recht steil. Der Sessellift zur Berghütte Chata pod Soliskom hat sich in Gang gesetzt und die ersten Tagesgäste trudeln bald ein. In Turnschuhen und Joggingdress, modisch abgestimmter Outdoor-Couture oder ganz klassisch in Bergklamotten. Ab der Bergstation müssen sie alle laufen.
Nicht weit von dem Lift liegt die Berghütte Chata pod Soliskom. Ich werde der Hütte beim Abstieg einen Besuch abstatten. Jetzt will ich erst mal zum Gipfel und nicht in den Tatra-Massentourismus hineingeraten. Das ist gar nicht so einfach hier aber mit einem gewissen Zeitmanagement doch halbwegs in den Griff zu kriegen.
Ich habe Glück und der Gipfel gehört für einen kurzen Moment mir allein. Es hat aufgehört zu nieseln, dafür weht jetzt eine kräftige Brise. Der starke Wind vereitelt mir das Gipfelfoto, samt Kamera schmeißt er mein Stativ einfach um. Es landet im Sand, Glück gehabt. Ein Bild vom Gipfelgrat tut's auch.
Der erste Wanderer erscheint und bittet mich mit seinem Smartphone von ihm ein Gipfelfoto zu machen. So geht’s natürlich auch. Der Slowake will noch weiter bis in den nächsten Sattel ich gehe wieder zurück. Von unten schlängelt sich eine Menschenkette hinauf, ein freundliches „Dobrý deň“ auf den Lippen, ein cooles „Cześć“, ein lockeres „Ahoi“ oder mit verbissener Mine wortlos an mir vorbeistolpernd, alle wollen zum Gipfel.
Ein Šariš-Bier und eine Krautsuppe auf der Hütte bringen meinen Flüssigkeitshaushalt wieder in Ordnung, dann geht's wieder hinab. Ich wähle den Abstieg über das Tal Furkotská dolina (Furkotatal). Der Pfad schlängelt sich durch Krummholzdickicht in den Wald hinein und mündet auf den rot markierten Wanderweg der Tatra-Magistrale, die zurück nach Štrbské pleso führt. Es ist noch Zeit für einen kleinen Spaziergang durch den Ort.
Der Štrbské pleso (Tschirmer See) ist zwar der bekannteste See des Ortes jedoch nicht der Einzige. Es gibt den Nové Štrbské pleso (Neuer-Tschirmer-See) gleich hinter dem Bahnhof und die Jazierka lásky (Liebesseen). Letztere dienten der Fischaufzucht, wo sich zur Fortpflanzung Forellen im Wasser tummelten und Liebespärchen am Wasser. Daher der Name. Ganz unromantisch hießen sie ursprünglich Štrbské rybníky (Tschirmer Fischteiche).
Im Hotel Toliar gibt es nicht nur ein Restaurant, es hat auch einen kleinen Supermarkt, wo ich Tatra-Schokolade kaufe als Verpflegung für Morgen. Ich habe vor, dem slowakischen Nationalheiligtum aufs Dach zu steigen – eine Bergtour zum Gipfel des Kriváň. Die Sonne färbt den Himmel tiefrot am Abend, vielleicht ein gutes Omen.

Der Kriváň (2495 m) ist der heilige Berg der Slowaken. (Warum heilige Berge immer mit K beginnen?) Hier wurde nach Gold gegraben, später diente er als Symbol für die Freiheit des slowakischen Volkes. Seinen Namen verdankt er seiner Form krivý = krumm, also „Krummhorn“. Es wird eine lange Wanderung laut meiner Karte. Ich verzichte aufs Frühstücksbuffet und mache mich kurz nach halb sieben auf den Weg. Die ersten 5 km folgt der Weg der Tatra-Magistrale. Vor 15 Jahren bin ich ihn schon einmal gelaufen. Kurz nach dem Tschirmer-See ging es damals in den Wald. Heute stehen kaum noch Bäume, der Orkan 2004 hatte ein Großteil des Waldes platt gemacht.
Nach rund 1 ½ Stunden bin ich am Abzweig zum Kriváň. Die Sonne scheint doch die Tatra-Gipfel stecken noch in den Wolken nur der Gipfel des Kriváň streckt sich in den blauen Himmel. Der ist halt schon was Besonderes. Immerhin ist heute auch ein religiöser Feiertag in der Slowakei, der Tag der Muttergottes, der Schutzpatronin des Landes.
Der Weg ist mit blauem Band markiert. Es ist ein schöner Weg. Es geht durch Krummholz, vorbei an Zirbelkiefern. Im Westen die Berge der Westtatra im Osten die der Hohen Tatra und vor mir der Kriváň. Rechter Hand passiere ich ein Felsendach. Früher wurden solche Dächer als Biwakplätze von Hirten und Jägern genutzt. Heute sind sie meist vollgeschissen, weiße Papierreste mahnen zur Vorsicht.
Die Krummholzzone liegt bald hinter mir und wird von Geröll abgelöst. Diese Erscheinungsform wird mir noch öfter begegnen. Der Südhang des Malý Kriváň (2335 m) versperrt mir die Sicht auf den Hauptgipfel. Drei Wanderer klettern den Hang hinunter und machen am Weg Pause. Die müssen hier irgendwo biwakiert haben, schießt es mir durch den Kopf. Oder zum Gipfel „gesteckt“ sein.
Nach etwa 3 ½ Stunden erreiche ich den Abzweig Rázcestie pod Kriváňom. Hier trifft der grün markierte Wanderweg von den „Drei Brunnen“ (Tri studničky) auf den blau markierten. Und ab jetzt geht es auch steil bergauf. Andere Wanderer steigen nach oben. Ich lasse den Grat des Kleinen Kriváň hinter mir und erreiche den Gipfelanstieg. Wind zerrt an meiner Kapuze. Mittlerweile ziehen immer wieder Wolken über den Gipfel. Mal zeigt er sich kurz, dann ist er wieder verschwunden. Auf geschuppten Platten kraxele ich die letzten Meter nach oben und stelle fest: der Kriváň ist etwas Besonderes! Ich blicke in das Objektiv einer Fernsehkamera und ein Typ hält mir ein Mikro unter die Nase.
Ein Fernsehteam des slowakischen Senders „Markíza“ ist auf den Kriváň gestiegen und interviewt nun Wanderer, die sich heute auf den Gipfel gemüht haben. Der Reporter spricht zum Glück auch deutsch. Ich erzähle ihm etwas vom schönen Wetter und ruhigem Aufstieg. Im Prinzip kann ich sagen was ich will, es ist egal. Ein Wanderer hinter mir keucht mehr als er reden kann.
Der Reporter zeigt mir eine 5-Cent-Münze mit dem Kriváň auf der Rückseite und ich erfahre nun auch, warum der Berg den Menschen hier wichtig ist. Sinngemäß ist der Kriváň ein schöner und stolzer Einzelgänger. Ich wusste, warum mir der Buckel gleich sympathisch war.
Wo ich mich heute sehen kann, will ich noch wissen. „Zwischen 19 und 20 Uhr in den Abendnachrichten“ sagt der Reporter.
Mittlerweile ist eine ganze Wandergruppe eingetroffen – Gipfelparty. Eine Frau feiert hier oben ihren 60. Geburtstag. Ich mache noch mein Gipfelfoto und beginne mit dem Abstieg, der mir leider nicht so recht von der Hand geht. Ich stelle mich da einfach blöd an.
Zurück am Abzweig der beiden Wanderwege ist Mittagspause, 5 ¾ Stunden bin ich schon unterwegs. Es ist noch genug Zeit, ich entscheide, über den grün markierten Weg abzusteigen. Für kurze Zeit erhasche ich einen Blick auf die steile NW-Flanke des Kriváň dann tauche ich wieder ab ins Krummholz. Es geht zügig bergab bis zum Forsthaus Tri studničky.
Acht Stunden stecken mir jetzt schon in den Beinen. Wie vor 4 Jahren habe ich hier unten Orientierungsprobleme. Der Wegweiser zeigt nach Osten, ich muss aber in südöstlicher Richtung am Forsthaus vorbei dem Hauptweg folgen. Der Abschnitt durch die vom Sturm entwaldeten Hänge auf zerfurchten Forstwegen ist recht mühsam, erst als ich den Wald erreiche kurz vor dem Bergsee Jamské pleso läuft es sich wieder besser. Sollte ich diese Tour noch einmal machen, würde ich den gleichen blau markierten Weg zurückgehen, den ich aufgestiegen bin. Er ist schöner, bietet zahlreiche Aussichten ins Tal, zur Niederen Tatra und ist auch kürzer.
Nach insgesamt 11 Stunden bin ich wieder in Štrbské pleso. Ein langer Wandertag geht zu Ende. Heute Abend verzichte ich auf Krautsuppe und Kofola, stattdessen zippe ich mich mit der Fernbedienung durch die Kanäle der slowakischen Fernsehsender. Und tatsächlich kurz vor acht Uhr abends ist VIP-Wanderer Falk im Fernsehen zu bewundern.

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Mit der festen Überzeugung, dass mich nun jeder Slowake grüßen würde, verlasse ich meine Pension am nächsten Morgen. Doch dem ist nicht so. Der Alltag geht seinen Gang und ich starte meine letzte Wanderung von Štrbské pleso aus.
Das Tal nordwestlich von Štrbské pleso heißt Mlynická dolina (Mühlbachtal). Der Weg ist mit gelbem Band markiert und überquert im Bystrá lávka (Lorenz-Joch, 2314 m) den Nordausläufer des Soliskogrates, um ins Furkotatal abzusteigen und zurück nach Štrbské pleso zu führen.
Vorbei an der Talstation des Sesselliftes zur Hütte Chata pod Soliskom geht es in den Wald. Bald weicht der Wald einem Krummholzdickicht, aus dem sich stattliche Zirbelkiefern erheben, der „Königin der Tatra“. Seit 1991 ist das Tal ein Naturreservat im Tatra-Nationalpark, geschützt im Schutzgebiet. Der etwa 25 m hohe Wasserfall Vodopád Skok (Schleierwasserfall) ist die erste Attraktion am Weg. Es ist der dritthöchste Wasserfall im slowakischen Teil der Hohen Tatra. Im Sommer rauschen bis zu 800 Liter Wasser pro Sekunde zu Tal. Über glatt geschliffene Felsen folge ich dem Weg westlich des Wasserfalls nach oben, die ersten Kettensicherungen zeigen sich. 12 Seen beherbergt das 6 km lange Tal. Der Bergsee „Pleso nad Skokom“ glitzert im Sonnenlicht, am Ufer der Gämsenseen weiden tatsächlich Gämsen. Drei Slowaken hinter mir verscheuchen die Tiere. Ein Grund, warum es recht strenge Regeln in der Hohen Tatra gibt?
Ich erreiche die Geröllzone, Wrackteile eines Hubschraubers liegen zwischen den Steinen, eine Gedenktafel erinnert an den Absturz. Am 25. Juni 1979 ereignete sich die Tragödie während einer Rettungsaktion. Sieben Menschen starben. Leider kann ich dem Text wenig entnehmen.
Fast am Ende des Tales, rundherum von Geröll umgeben, liegt der Bergsee Capie pleso (Bocksee) an dessen Westufer der Aufstieg ins Joch beginnt. Ich finde den Weg anspruchsvoll kurze Kletterstellen wechseln sich ab mit Gehgelände. Kurz vor dem Grat geht es an Ketten durch einen schmalen Felseinschnitt hinauf zum Joch Bystrá lávka. Laut meiner Wanderkarte darf der Weg nur von Ost nach West begangen werden, aber mir begegnen auch Wanderer von der anderen Seite. Unter mir liegt das Furkotatal mit seinen Bergseen. Der Vyšné Wahlenbergovo pleso (Oberer Wahlenberg-See; benannt nach Göran Wahlenberg, einem schwedischen Botaniker des 19. Jh.) ist der Größte. Blaugrün leuchtet er mir entgegen. Am Ufer des Nižné Wahlenbergovo pleso (Unterer Wahlenberg-See) mache ich Mittag. Das Tal hat sich mittlerweile belebt, ich bin nicht der Einzige, der auf einem Stein in der Sonne hockt und was futtert. Auf typischen Tatra-Geröllwegen erreiche ich den Abzweig zur Chata pod Soliskom, den Rest des Weges kenne ich ja schon.
„Furkota“ heißt nicht nur das Tal in der Hohen Tatra sondern auch ein Restaurant (www.furkotka.sk) in Štrbské pleso, für mich ein Grund heute Abend dort einzukehren. Überrascht stelle ich fest: Hier hätte ich auch übernachten können! Ein Zimmer gibt es schon ab 10 Euro, mehr als zwei Drittel günstiger als meine Unterkunft! Das muss ich mir merken!

Das Frühstücksbuffet ist am Morgen nicht mehr so umfangreich wie am ersten Tag, doch die Chefin macht mir extra zwei Würstchen warm. Mein Tagesziel ist das Berghotel am Poppersee (Horský Hotel pri Popradskom plese, Popperseehütte), auf meiner Karte als chata (Hütte) dargestellt. Das gibt’s in der Slowakei öfters. Der Saumweg zum Popradské pleso ist ein Naturlehrpfad und bietet darüber hinaus nette Aussichten auf die Tatra-Berge. So lerne ich, dass Lärchen sturmbeständiger sind als Fichten, da sie tiefer wurzeln. Das erklärt, warum es meist Lärchen sind, die aus dem vom Orkan plattgemachten Hängen herausragen. Ich erfahre, dass die Zirbelkiefer 1000 Jahre alt werden kann und das in Štrbské pleso sich das Wasser scheidet. Östlich fließt alles in den Dunajez und damit in die Ostsee, westlich in die Waag und weiter über die Donau ins Schwarze Meer.
In der Popperseehütte bekomme ich von der netten Dame an der Rezeption nicht nur Quartier sondern auch DAV-Rabatt. So kostet mich die Übernachtung nur 15,40 Euro. Es sind zwar nur noch 8-Bett-Zimmer frei aber egal. Gleich um die Ecke steht die Konkurrenz. Die Majláthova chata gab es vor 15 Jahren noch nicht. 23 Euro kostet dort ein Zimmer und 5 Euro das Frühstück.
Ein gelb markierter Weg führt vorbei am Poppersee zum symbolischen Friedhof am Fuß der Ostrva (Osterva). Es ist eine Gedenkstätte für verunglückte Bergsteiger. Gedacht wird Bergsteigern, die in der Tatra ums Leben gekommen sind oder die aus der Region stammten und in anderen Gebirgen der Welt ihr Leben ließen. So erinnern kleine Gedenktafeln auch an die bekannten polnischen Höhenbergsteiger Wanda Rutkiewicz und Jerzy Kukuczka. Auch Deutsche verunglückten in der Hohen Tatra, wie mir die Schildchen verraten. Die meisten Bergsteiger, so schien es, wurden Opfer von Lawinen.
Auf dem Rückweg merke ich, mein GPS hat den Geist aufgegeben. Genauer gesagt hatte sich die Speicherkarte im Gerät verabschiedet und somit alle Wegpunkte, Tracks und die digitalen Karten der Slowakei und Polens. Es kotzt mich an! Für jeden digitalen Mist muss man eine Zweitversion als Backup bereithalten. Na ja navigieren kann ich nun zwar nicht mehr aber die Tracks zeichnet das Ding ja weiterhin auf.
Ich gehe zurück auf mein Zimmer und bereite den Rucksack für meinen morgigen Tagesausflug vor. Ich will zum höchsten Punkt der polnischen Grenze auf den Rysy (Meeraugspitze, 2503 m). Vor 11 Jahren bin ich von der polnischen Seite auf den Nordwestgipfel geklettert, der Weg war mit zahlreichen Ketten gesichert. Der Aufstieg auf slowakischer Seite zum Hauptgipfel soll leichter sein.

Gleich am Beginn des Wanderwegs hat der Rysy-Bezwinger die Möglichkeit sich nützlich zu machen. In einem kleinen Holzverschlag warten jede Menge 5 bis 10-Kilo-Säcke mit allerlei Krams, die hoch zur Rysy-Baude (Chata pod Rysmi) müssen. Ein Schild daneben verspricht einen Gratis-Tee. Tee? Na ja, soweit geht mein Idealismus nun doch nicht. Ich bin ein fauler Sack und laufe ohne ein Mitbringsel für die Rysy-Baude los.
Trotz des frühen Morgens bin ich nicht allein unterwegs, eine Gruppe Polen überholt mich am Veľké Žabie pleso (Großer Froschsee). Ich mache erst mal Frühstückspause und knabbere einen Riegel. Die Sonne beginnt damit, die Felsspitzen über mir einzufärben.
Kurz hinter dem See geht es am Fels entlang, der Abschnitt ist mit Ketten gesichert, aber nicht schwierig. Nach reichlich zwei Stunden bin ich an der Hütte. Ich lasse sie links liegen und setze meinen Weg fort in Richtung Gipfel. Die ersten Wanderer kommen mir schon wieder entgegen, sie hatten wohl auf der Rysy-Baude geschlafen.
Von der Hütte wäre es in der Tat deutlich kürzer bis zum Gipfel, aber als Wanderer kann ich von dort auch nichts weiter unternehmen, da bin ich von meinem Basislager in der Popperseehütte deutlich flexibler. Außerdem war ich nicht sicher, ob ich ohne Reservierung einen Schlafplatz auf der Rysy-Baude bekommen hätte.
Nach knapp drei Stunden stehe ich erstmals auf über 2500 Meter, höher werde ich auf dieser Reise nicht mehr kommen. Auf dem Geröllhaufen des Rysy-Gipfels ist wenig Platz, ich kann nicht mal mein Stativ aufstellen. Ein netter polnischer Bergkamerad macht ein Gipfelfoto von mir. Die Polen gehen meist auf der Nordseite hinab zu der in Polen liegenden Fischseehütte (Schronisko przy Morskim Oku). Ich drehe wieder um und steige ab zur Rysy-Baude. Wie an einer Perlenschnur aufgereiht kommen mir jetzt Wanderer entgegen. Und was für Wanderer! Ihrem Äußeren nach hätte ich die Damen in Deutschland beim Bummel in hochpreisigen Modeboutiquen erwartet und die Herren beim samstagmorgendlichen Frühshoppen. Den Gesichtsausdrücken nach zu urteilen, scheint der Aufstieg nicht jedem Freude zu bereiten, aber man kämpft sich nach oben, ich finde es faszinierend!
Ich werfe einen Blick zurück zum Gipfel, der ist schon so voll, dass gar nicht mehr alle Platz haben. Ob der bald wegen Überfüllung geschlossen wird?
In der Rysy-Baude herrscht noch kein Hochbetrieb. Ich genehmige mir einen großen Tee (2 Euro) und ein großes Bier (3 Euro).
Weiter unten kommen mir die wahren Helden der Hohen Tatra entgegen, Träger, die die Hütten versorgen, mit überdimensionalen Holzkraxen auf dem Buckel. Langsam wie beim Höhenbergsteigen steigen sie Schritt für Schritt bergauf, kommt ein passender Felsblock wird pausiert. Jedes Jahr gibt es einen Wettbewerb in der Hohen Tatra – die sogenannte Sherpa-Rallye. Dieses Jahr findet sie am 19. Oktober statt und beginnt am Popradské pleso, Ziel ist die Rysy-Baude. Zu spät für mich, leider.
An der Kettenstelle vermisse ich mein kleines Thermometer, das an der Fototasche hing. So entledigt einen die Tatra von allerlei unnützem Firlefanz. Mal sehen, was ich am Ende der Tour noch am Körper trage.
Fast sieben Stunden stecken mir in den Beinen, als ich zurück an der Popperseehütte bin. Morgen will ich auf einen eher nicht so bekannten Gipfel, die Kôprovský štít (Koprovaspitze, 2367 m). Es wird meine letzte Wanderung vom Popradské pleso.

Der Morgen ist kalt und windig, die Berge verstecken sich wieder in grauen Wolken. Die Sonne hat es schwer sich durchzusetzen. In der ersten halben Stunde im Tal Mengusovská dolina (Mengsdorfer Tal) folge ich dem blauen Band wie gestern. Rechter Hand zweigt der rot markierte Pfad zur Rysy-Baude ab, ich bleibe jedoch auf dem blau markierten Weg. An den Berghängen grasen wieder Gämsen. Oberhalb des Malé Hincovo pleso (Kleiner Hinzensee) hat es die Sonne geschafft, Zeit für eine kurze Pause. Das Tal wirkt weit und Wiesen bestimmen das Landschaftsbild um die beiden Hinzenseen. Der Veľké Hincovo pleso (Großer Hinzensee) ist mit 20,1 ha der größte Bergsee im slowakischen Teil der Hohen Tatra.
Ich folge den Serpentinen hinauf zum Pass Vyšné Kôprovské sedlo (Oberes Koprovajoch) tief unter mir glitzern die Seen tiefblau in der Sonne. Noch ist die Sicht gut, doch von der Bergkette des Satan hinter mir ziehen dichte graue Wolken herauf. Ich muss meine Jacke anziehen. Über Geröllfelder geht es bis zum Gipfel der Kôprovský štít. Das Einzige was ich noch erkenne ist die Endmarkierung des Wanderweges, ein Kreis rot-weiß. Ich habe keine Lust zu warten und steige wieder hinunter.
Auf dem Rückweg sind die Gämsen verschwunden, Wanderer aufgetaucht. Zum Glück nicht so viele wie gestern auf dem Rysy. Ein Slowake, der in Donauwörth arbeitet, verkündet mir den aktuellen Wetterbericht der nächsten Tage: „Ab morgen Regen, spätestens aber ab Sonntag. Dann geht hier nichts mehr!“ Das kann ich mir gut vorstellen. Tatrawetter kenne ich! Heute hatte ich das Gefühl am kältesten Tag unterwegs gewesen zu sein.
Wenn es morgen noch nicht wie aus Kannen schüttet, werde ich die Tatra-Magistrale nach Osten laufen, sonst mal sehen. Jetzt wartet erst mal eine heiße Dusche auf mich.

Es regnet nicht am Morgen, noch nicht, im Westen lauern bereits dicke graue Wolken hinter den Bergspitzen. Ich entschließe mich trotzdem, dem rot markierten Weg der Tatra-Magistrale zu folgen. Nach 1 ¼ Stunden und 12 Serpentinen stehe ich im Sattel unter der Osterva (Sedlo pod Ostrvou) 1966 m hoch. Ich hatte diesen Aufstieg noch in guter Erinnerung als Abstieg von meiner Karpatendurchquerung 1999. Die ersten Regentropfen treffen mich kurz vorm Sliezky dom (Schlesierhaus). Von hier startete 2007 meine Gipfeltour zur Gerlachovský štít (Gerlsdorfer Spitze) dem höchsten Berg der Hohen Tatra und der gesamten Karpaten.
Der Schauer kommt gerade richtig, ich flüchte mich auf eine Gulaschsuppe und eine Kofola ins Buffet! Satt und zufrieden geht es weiter und auch die Sonne lacht wieder.
Kurz hinterm Schlesierhaus spricht mich jemand an. Eine Dame, brünett, ich schätze so Ende 30. Sie spricht auch Englisch und fragt, ob ich etwas dagegen hätte, wenn wir zusammen wandern würden. Sie fürchtet sich vor den Bären in der Tatra. Also, seit mehr als 25 Jahren gehe ich nun in den Karpaten wandern aber so etwas hatte ich noch nicht erlebt. Ich bin erst mal sprachlos. „Ähm, nö ist okay.“ Gut, es gibt Bären in der Hohen Tatra aber das einem ausgerechnet auf dem Abschnitt Schlesierhaus – Hrebienok einer über den Weg läuft halte ich für sehr unwahrscheinlich.
Ingrid lebt in Bratislava und ist mit ein paar Freundinnen für das Wochenende in die Hohe Tatra gefahren, zum Wandern. Sie hatte als Leasing-Managerin im Pharmabereich gearbeitet, also fremdes Eigentum vermietet und kümmert sich zurzeit um ihre 4 Kinder. Heute Morgen sind sie von Tatranska Polianka zum Schlesierhaus aufgestiegen, die anderen wollten über den Poľský hrebeň (Polnischer Kamm) zur Zbojnícka chata (Räuberhütte) und weiter bis Starý Smokovec. Ihr war die Tour zu anspruchsvoll, so wandern wir nun gemeinsam nach Hrebienok (Kämmchen). Den Abschnitt finde ich eh nicht so interessant, da ist mir etwas Abwechslung gerade willkommen.
Wir tauschen uns übers Reisen aus. Sie erzählt von Grusinien ich über Georgien, irgendwann merken wir, dass wir über's Gleiche schwätzen.
Warum ich keine Kinder hätte, will sie wissen. Nun wird’s anstrengend. Die nächste Frage ist nicht schlecht: „Kannst du dir vorstellen, woanders als in Deutschland zu leben?“ Tja, vor 20 Jahren, vielleicht? Aber wenn der Bauch mehr und die Haare weniger werden finde ich das nicht mehr so einfach, da kommt der Spießer durch.
In Hrebienok stehen sich die Spaziergänger fast gegenseitig auf den Füßen. Auch in der Bilíkova chata ist alles voll und ausgebucht. Was tun? Ich entschließe mich, die Hohe Tatra zu verlassen. Wir laufen gemeinsam noch bis Starý Smokovec. Ingrid gibt mir die Hand zum Abschied und sagt: „Nett dich kennengelernt zu haben. Du solltest Kinder haben, wenigstens eins.“ Peng, da war es wieder. Nicht lang drumherumgeschwätzt sondern gleich direkt zur Sache. Wieder weiß ich nicht was ich erwidern soll. Es wird Zeit, dass das Bähnle nach Poprad kommt.
Noch auf der Fahrt nach Poprad grübele ich ob der Situation, die ich nicht so recht einordnen kann.
Dass das Hotel Gerlach in Poprad ausgebucht ist, kann ich auch nicht einordnen. Das hatte ich noch nie erlebt. Ich solle es im Satel versuchen, rät mir die Dame an der Rezeption. Dort bekomme ich schließlich ein Zimmer zum Wochenendtarif (35 Euro mit Frühstück).

(Tipp! Wer von Poprad mit der Tatra-Bahn zum Horský Hotel pri Popradskom plese (Popperseehütte) möchte, sollte bis Štrbské pleso fahren und nicht nur bis zur Haltestelle Popradské pleso! Der Weg ist nur unwesentlich länger jedoch viel, viel schöner! Außerdem gibt es für die Rückfahrt an der Haltestelle Popradské pleso keine Fahrscheine zu kaufen!)

***

2. Das wäre mal ein Riesending

Laut Wettervorhersage an der Hotelrezeption soll es bis Montag regnen. Von meiner Wanderung über den Kamm der Niederen Tatra im letzten Jahr wusste ich noch, dass um 11:10 Uhr ein Bus nach Rožňava fährt. Ich will den Slovenský kras (Slowakischer Karst) besuchen. Der Slowakische Karst gehört ebenso wie das Slowakische Paradies zum Slowakischen Erzgebirge (Slovenské rudohorie), einem ausgedehnten Mittelgebirge im Zentrum des Landes. Dort soll es ein paar interessante Höhlen haben, bei Regenwetter genau das Richtige!
Leider habe ich keine Karte vom Slowakischen Karst, die liegt daheim in Freiburg. Den Abstecher hatte ich ja nicht eingeplant, und ob ich heute am Sonntag eine bekomme, ist ungewiss.
An der Dobschauer Eishöhle hält der Bus – 15 Minuten Pinkelpause. Ich nutze die Zeit für einen anderen Zweck, im dortigen Infobüro bekomme ich eine Wanderkarte für nur 4 Euro, sogar in Englisch. (In Deutschland hat sie 9,90 Euro gekostet.)
Nachmittags kurz nach halb zwei bin ich am Ziel. Ich weiß nicht so recht was ich jetzt machen soll. Ein Busfahrer auf dem Busbahnhof versichert mir, dass um 16:05 Uhr ein Bus nach Silica fährt, einem Dorf nahe der Grenze zu Ungarn. Von dort könnte ich Tagesausflüge machen und auch zwei Höhlen besichtigen. Jetzt will ich erst mal die Stadt besichtigen. Rožňava ist am Sonntagnachmittag wie leergefegt. Doch es gibt eine Touristeninformation, die sogar aufhat. Herr Vjeszt ist richtig begeistert von meinem Vorhaben, eine Woche im Karst zu bleiben. Seiner Meinung nach wäre es besser, die Touren von Rožňava aus zu beginnen. Es gibt hier eine recht günstige Unterkunft für Touristen und die Höhle Krásnohorská jaskyňa. Das ist keine Schauhöhle, die für Besucher offen ist, sondern eine Höhle, die nur mit einem Höhlenführer besichtigt werden kann. Wenn ich mag, würde er eine Höhlenbegehung organisieren. Na, das wäre doch mal ein Riesending! Wir verabreden uns auf morgen früh 9:00 Uhr hier in der Touristeninformation. Er gibt mir noch eine Restaurant-Empfehlung. „Stop-Bar – gutes Essen, gutes Bier!“
Ich fahre also nicht nach Silica, sondern suche die Turistická ubytovňa. Das Gebäude, ein sozialistischer Wohnsilo, hat 6 Stockwerke. Aber es ist billig, etwas über 13 Euro pro Nacht. Genial ist der Fahrstuhl im Stil eines Lastenaufzugs mit einer offenen Seite.

Leider wird nichts aus der geplanten Höhlenbegehung. „Erst ab vier Personen“, sagt Herr Vjeszt nach dem Telefonat mit dem Höhlenmenschen. Schade!
Es regnet und da heute Montag ist, haben auch alle Schauhöhlen geschlossen. Bleibt nur noch eins – der Besuch der Wasserfälle „Hájske vodopady“. Wasserfälle bei Regenwetter macht Sinn. Keinen Sinn dagegen macht die Busverbindung, die mir Herr Vjeszt empfiehlt. Mit zweimal umsteigen wäre ich erst gegen 13:30 Uhr in Háj. Jetzt ist es kurz vor halb zehn. Über vier Stunden, das dauert mir zu lang.
Vorm Billa-Supermarkt langweilen sich die Taxifahrer. Einer der Jüngeren spricht etwas Englisch. Leider kapiert er nicht, wo ich hinwill. Auch als ich ihm meine Wanderkarte unter die Nase halte und mit dem Finger auf Háj zeige bleibe ich erfolglos.
„Zádiel?“ fragt er mich. Okay, ich gebe auf! Fahren wir halt nach Zádiel. Hinter dem Ort beginnt das Tal Zádielská dolina mit seiner imposanten Felsenschlucht. Irgendwie werde ich auch von dort zu den Wasserfällen gelangen.
Während der Fahrt erfahre ich, dass es um die Wirtschaft in der Slowakei schlecht bestellt ist und mein Fahrer am liebsten in Deutschland oder Österreich arbeiten würde. 17 Euro kostet die Fahrt, der Fahrer hat kein Wechselgeld und somit ein Problem. Er löst es durch einen kleinen Laden am Dorfanfang, wo ich wechseln kann und gleich noch eine Flasche Mineralwasser kaufe.
Der Weg durch die Schlucht ist schön, nur der Regen, der immer heftiger wird, trübt ein wenig meine Wanderlust. Nach der Schlucht folge ich dem blau markierten Wanderweg in Richtung Hačavské sedlo. Irgendwann vermisse ich das blaue Band an den Bäumen, ich laufe zurück und finde den Fehler. An der Stelle, wo ich hätte abbiegen müssen, liegt der markierte Baum am Boden und somit zeigt der Pfeil in die falsche Richtung.
Ein steiler Matschpfad windet sich den Hang hinauf bis auf 820 m zum Hačavské sedlo. Ab jetzt leitet mich eine gelbe Markierung nach Hačava. In dem kleinen Ort gibt es sogar eine Pension, die ist nicht auf meiner Wanderkarte vermerkt.
An der Straße nach Háj liegen rechterhand die Wasserfälle (8). Der dritte Wasserfall (Veľký Hájsky vodopád) ist der Schönste, finde ich. Sieben Meter stürzt das Wasser des Bachs Hájsky potok in die Tiefe. Laut einer Karte in der Touristeninformation von Rožňava soll es in Háj eine Unterkunft geben. Ich laufe bis ans Dorfende, kann aber keine entdecken. Dafür entdecke ich einen grün markierten Wanderweg, der hinauf zur Zádielská planina (Hochebene) führt und damit zurück zur Schlucht. Der Weg fehlt auf meiner Wanderkarte.
Heute werde ich biwakieren müssen. Da ich nur meine Notbiwakausrüstung dabei habe (Einwandzelt, kurze Schaumstoffmatte, Quilt) und diese recht unkomfortabel ist, bin ich nicht sonderlich scharf auf eine Nacht draußen. Ich hoffe es findet sich ein gescheites Plätzchen. Der Weg führt in großen Serpentinen nach oben. Kurz bevor er das Plateau erreicht, knackt und raschelt es im Gehölz. Es ist ein stattlicher Hirsch, der sich schleunigst aus dem Staub macht.
Oben weicht der Wald zurück, Wiesen treten an seine Stelle, vereinzelt ragen Wacholderbüsche empor. Die Landschaft zeugt von der früheren Beweidung.
Ich suche mir ein ebenes Stück, wo ich mein Zelt aufbauen kann. Aussichtspunkte, nicht weit von meinem Lagerplatz, erlauben einen Blick in die Schlucht mit ihren zerklüfteten Kalkfelsen. Morgen will ich über den Bergrücken Horný vrch nach Westen wandern, quer durch den Slowakischen Karst.

Die Nacht hatte ich überstanden, geschlafen wenig. Erst röhrten die Karpatenhirsche um die Wette, später entlud sich ein Gewitter über mir.
Der Weg hinauf zum Horný vrch ist rot markiert, auf einer Forststraße (teilweise asphaltiert) geht es in einen Sattel. Ein Lada Niva hält mit zwei Waidmännern. Ob ich eine Karte hätte, wollen sie wissen. Ich setze meinen Rucksack ab und krame die Karte raus, in der Annahme die wollen was nachschauen. Dem ist nicht so. Meine Wanderkarte dient den Beiden lediglich als eine Art Legitimation, dass ich ein Tourist bin. Ich frage mich, als was sie mich eingestuft hätten, wenn ich keine Karte besessen hätte?
Ich werde darüber unterrichtet, dass jetzt Hirschjagd ist und ich mit meiner roten Jacke, roten Mütze und rotem Rucksack hervorragend ausgerüstet bin und nicht mit Hirsch, Wildschwein oder sonst was verwechselt werden könnte. Signalfarben sind also nicht nur im Hochgebirge nützlich.
Der Weg über den Bergrücken führt auf weiten Strecken über völlig zerfahrene Forststraßen. Von einer Karstlandschaft ist kaum etwas zu sehen. Knöcheltiefer Matsch, Hirsch- und Wolfsspuren leiten mich in den Jablonovské sedlo, wo es wieder zu nieseln beginnt. Hier überquert die Straße nach Košice den Bergrücken. Ich könnte jetzt weiterlaufen bis an die ungarische Grenze zur Domica-Höhle. Hier gibt es aber auch eine Bushaltestelle, und wie es der Zufall will, kommt auch gerade ein Bus um die Ecke in Richtung Rožňava. Ich laufe nirgends mehr hin, sondern steige in den Bus und fahre zurück nach Rožňava.
Bis zur Höhle hätte ich es nicht mehr geschafft und auf eine zweite Biwaknacht habe ich keine Lust.
Was mache ich mit dem Rest des Tages? Vielleicht eine der Höhlen besuchen? Ich bleibe am Busbahnhof und warte auf den nächsten Bus in Richtung Revúca. Am Abzweig zum Hotel Hrádok muss ich raus. Hier geht es zu einer sehr interessanten Höhle in der Slowakei, der Ochtinská aragonitová jaskyňa – der Ochtinaer Aragonithöhle. Leider bin ich zu spät, es ist kurz vor vier am Nachmittag. Die letzte Führung war um 14 Uhr.
Vielleicht kann ich im Hotel Hrádok übernachten, doch ein Reisebus vor dem Hotel lässt mich schon Böses ahnen. „Wir sind leider ausgebucht“ gibt mir der Typ an der Rezeption zu verstehen. Dumm gelaufen, ich könnte es noch in Štítnik versuchen, rät er mir. Doch seine Kollegin schüttelt den Kopf. Da gibt’s nichts! Also geht es mit dem nächsten Bus zurück nach Rožňava. Ich beziehe wieder mein Zimmer in der Touristenunterkunft. Im Billa kaufe ich mein Abendessen etwas Obst, zwei Brötchen und eine Wurst (hausgemacht), zum Dessert zwei Büchsen Krušovice. Das Restaurantessen hängt mir mittlerweile zum Halse raus. Nicht dass es schlecht ist, aber ich habe einfach keinen Appetit drauf.

Die Sonne weckt mich am nächsten Morgen, der Himmel ist strahlend blau. Ich will heute die Domica-Höhle (Domica jaskyňa) besuchen. Die Höhle liegt fast an der Grenze zu Ungarn. Unterirdisch hat sie sogar eine Verbindung zur Baradla-Höhle in Ungarn.
Eine Odyssee mit den Regionalbussen will ich nicht riskieren, also führt mich mein Weg erst einmal wieder zum Taxistand. Der Fahrer, der mich nach Zádiel gefahren hatte, ist leider nicht da. Nur ein alter Slowake lungert neben seinem Auto rum. „Sedemnásť“ brummelt er vor sich hin, als ich nach dem Preis frage. Also 17 Euro. Okay, wir fahren – und fahren und fahren an der Höhle vorbei. „Warum?“ Er bedeutet mir, dass die Höhle noch zu sei. Und nun will er mir die ungarische Grenze zeigen. Tja, und ich soll's bezahlen oder wie? So nicht Freundchen. Er scheint etwas missgelaunt zu sein, dreht aber um. Auf seinem Taxameter leuchtet jetzt der Preis von 20,15 Euro. Dacht ich's mir doch! Ich zahle und steige aus. Trinkgeld gibt’s keins!
Vor dem Eingang wartet ein Pärchen. Sie kommen aus Marseille. Die Frau spricht etwas Englisch. Beide sind im Ruhestand und mit dem Auto unterwegs, da ihr Flug aufgrund von Streiks ausfiel. „Zum Glück!“ sagt die Dame. „Wir wären hier nicht vorwärtsgekommen.“ Das kann ich nur bestätigen. Sie wollen noch weiter in die Ostslowakei Holzkirchen besichtigen.
Zu dritt geht es in die Unterwelt. Die Hauptattraktion in der Höhle, die Bootsfahrt auf dem unterirdischen Fluss fällt leider aus. Aufgrund von Wassermangel liegen die Boote auf dem Trockenen. Angeblich fiel zu wenig Niederschlag. Trotzdem ist die Höhle schön.
Neben den Sälen mit ihren Sinterformen (Sinterbecken, Tropfsteine) oder dem unterirdischen Fluss Styx ist vor allem die Tatsache bedeutend, dass hier Menschen der Bukovohorská-Kultur lebten. Daher rührt auch der Höhlenname Domica. Hier wurden unter anderem Scherben von Keramikgefäßen gefunden oder Steinwerkzeuge und Schmuck aus Muscheln und Tierzähnen. Selbst eine der 16 Fledermausarten die hier leben bekommen wir zu Gesicht.
Die Franzosen nehmen mich mit bis Plešivec. Von dort folge ich einem grün markierten Wanderweg bis zum Ortsende, dann verliere ich Weg und Markierung. Ich habe keine Lust lang zu suchen und folge der Landstraße in Richtung Gombasek, mein Ziel ist die Gombasecká jaskyňa (Gombaseker Höhle). Auf Höhe Vidová hält ein Ungar und nimmt mich mit bis zum Abzweig nach Gombasek.
Ich komme 10 Minuten zu spät, gerade hat die Führung angefangen, erfahre ich vom Mann am Eintritt. Er bedeutet mir zu warten und greift zum Handy. Ein paar Worte fallen, dann soll ich mich beeilen, die Führerin wartet. Ich zahle die 5 Euro Eintritt und renne los.
Auch hier sind wir nur drei Besucher, ein slowakisches Paar und ich. Das Interessanteste in dieser Höhle sind die Spagettistalaktiten – 2 bis 3 mm dicke Sinterröhrchen, den italienischen Nudeln zum Verwechseln ähnlich. Die Längsten von ihnen berühren sogar den Höhlenboden. Die Führung durch die Höhle dauert nur eine halbe Stunde. Als ich unsere Höhlenführerin frage, wann ein Bus nach Rožňava fährt, organisiert sie mir kurzerhand eine Mitfahrgelegenheit, indem sie kurz mit den beiden Slowaken spricht. Ich muss den Beiden zwar versprechen, dass ich ihnen nicht den Hals umdrehe, dann ist aber alles in Ordnung. Sie fahren bis nach Brzotín, einem Vorort von Rožňava. Die 3 Kilometer bis in die Stadt kann ich laufen, lerne somit auch gleich den Bahnhof kennen, von dem kaum was fährt.

Am nächsten Morgen starte ich den 2. Versuch zur Besichtigung der Ochtinská aragonitová jaskyňa. Strenggenommen liegt die Höhle nicht mehr im Slowakischen Karst sondern im Großrauschenbacher Bergland (Revúcka vrchovina). Und sie ist auch keine gewöhnliche Karsthöhle, sondern entstand durch einsickerndes Oberflächenwasser in eine Kalksteinlinse, die von kristallinem Schiefer (Phylliten) umgeben ist.
Dass diese Höhle etwas Besonderes sein muss, merke ich beim Kauf der Fotoerlaubnis. 10 Euro muss ich dafür löhnen! Die Dame an der Kasse drückt mir noch ein paar A4-Seiten mit deutschen Erläuterungen in die Hand, dann geht es los. Um in die Höhle zu gelangen, geht es erstmal viele Stufen hinab.
Im Herz der Höhle, dem Milchstraßensaal wachsen jene skurrilen schneeweißen Aragonitgebilde von der Decke und den Höhlenwänden, die der Höhle ihren Namen gaben. Wie Korallen, Spinnentiere oder Schimmelpilze sehen sie manchmal aus. Die Wände der Höhle sind teilweise dunkelbraun gefärbt von Eisenverbindungen (Ankerite). Wie die beiden anderen Höhlen wurde auch diese von der UNESCO zum Weltnaturerbe erklärt. Es soll auf der Erde nur noch zwei weitere Höhlen dieser Art geben.
Wieder an der Oberfläche, überlege ich mir bis Štítnik zu wandern und von dort mit dem Bus zurück nach Rožňava zu fahren. Leider vereitelt ein Windbruch auf dem Wanderweg mein Vorhaben. Kreuz und quer liegen die Bäume über dem Weg. Da wühle ich mich nicht durch! Ich drehe um und warte auf den Bus.
Herr Vjeszt und seine Frau Nataša in der Info suchen mir eine Busverbindung nach Nová Sedlica heraus. Morgen will ich weit in den Osten der Slowakei – in die Waldkarpaten an der Grenze zur Ukraine.

Höhleninfos: http://www.ssj.sk/de

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3. Allein zu wandern ist gefährlich

Heute steht mir eine lange Busreise bevor. Der Bus nach Košice lässt auf sich warten. Die Leute nehmen's gelassen. Mir fehlt diese Gelassenheit, unruhig renne ich auf und ab. Endlich kommt er mit 15 Minuten Verspätung. In Košice habe ich eine halbe Stunde Zeit, bis der Anschlussbus nach Hummené fährt. In der Nähe des Busbahnhofs entdecke ich eine Touristenunterkunft, ähnlich wie die in Rožňava. Gut zu wissen!
In Hummené geht es gleich weiter nach Snina. Dort muss ich eine Stunde warten. Ein Alter spricht mich an, ein wenig verstehe ich. Ob ich in die Ukraine will, zum Kämpfen, will er wissen. Wie kommt der denn darauf? Westler, die in der Ukraine kämpfen? Das ist doch nur Propaganda! Oder doch nicht? Seiner Meinung nach sollte ich auch eine Pistole haben, wegen der Bären. Haben Slowaken eine Bärenphobie? Der Bus ist voll, auch andere Rucksackwanderer fahren mit. Hinter Snina ist die Slowakei für mich zu Ende. Die Kirchen sehen russisch aus. Aus dem Fenster entdecke ich ein hübsches Kirchlein in Uličské Krivé, ganz aus Holz. Die Siedlungen werden immer spärlicher und bald fahren wir nur noch durch Wälder.
Viertel nach vier bin ich am Ziel. Nová Sedlica hat sich verändert. Es gibt zwei Übernachtungsmöglichkeiten. Die Hostinec Beskyd, etwa 100 m unterhalb der Endhaltestelle und die Pension Kremenec etwa in Dorfmitte. Und es gibt Touristen! Ich bekomme in der Beskiden-Kneipe das letzte freie Zimmer. Drei Tschechen, die kurz darauf eintrudeln, schickt die Dame weiter. Leider kann ich in meiner Unterkunft nur Flüssignahrung zu mir nehmen. Um was Gescheites zu essen, muss ich auch ins Kremenec. Hier scheint Schnaps mehr Umsatz zu generieren als Bier. Ich sag's ja die Slowakei ist zu Ende.

Eisblumen schmücken die Fensterscheibe meines Zimmers am nächsten Morgen. Kurz hinter dem Ort zeigt mir eine Info-Tafel, dass ich nun den Nationalpark Poloniny (Národný park Poloniny) betrete. Ich bin überrascht, als ich die Karte auf der Tafel studiere, auf dem Grenzkamm gibt es ausgewiesene Zeltplätze. Vor 15 Jahren musste ich noch freveln.
Es geht bald steil durch den Bergwald nach oben. Plötzlich höre ich Musik. Diese kommt aus dem Rucksack einer jungen Dame aus Tschechien, die mit ihrem Vater zum Kremenec wandert. Jetzt dürfte sich auch der letzte Karpatenbär ins dichteste Unterholz verkrochen haben, nach dem er sich von slowakischer Folklore beschallen lassen musste.
Je tiefer es in den Wald geht desto uriger wird dieser. Meterdicke umgestürzte Baumriesen modern vor sich hin. Pilze zerfressen die Stämme. Wie Fäden ziehen sich kleine Rinnsale durch den laubbedeckten Waldboden. Der Wald verbreitet einen säuerlich-modrigen Geruch. Oder entströmt der meiner Jacke?
Nach einer Weile überholt mich eine Dame etwa in meinem Alter. Mit Freunden will sie über den Kremenec bis zur Wielka Rawka, ein Berg, der bereits im polnischen Bieszczady liegt. Dort will ich auch noch hin. Sie hatte beim Zoll gearbeitet als es auf dem Kamm noch eine richtige Grenze zu Polen gab. Nun ist sie auch froh, dass es dank Schengen sehr leicht geworden ist, mal kurz ins Nachbarland zu wechseln. Nur eins kann sie nicht verstehen, dass ich allein wandern gehe. „Das ist aber gefährlich“ belehrt sie mich. Ihr Sohn sei vor 3 Jahren durch die ganze Slowakei gewandert aber mit drei Freunden, erzählt sie mir. Dass ich das vor 15 Jahren auch allein gemacht habe, verschweige ich. Mit mir zusammen weiterwandern will sie aber auch nicht. Dann wäre ich ja nicht mehr allein. Unterhalb des Kremenec schenkt sie mir eine Handvoll Brombeeren. Lohn für meinen Mut?
Auch auf dem Gipfel ist es anders als vor 15 Jahren. Der Obelisk, der das Dreiländereck symbolisiert, ist neu. Der alte bröckelnde Betonpfeiler musste einer spiegelglatten schwarzen Marmorsäule weichen. Ich bin nicht allein, rings um den Obelisken, drängen sich Wanderer. Jeder möchte sich vor dem Stein fotografieren lassen, am liebsten von der polnischen, slowakischen und ukrainischen Seite. Auch ich hocke mich davor und mache ein Bild. Nach einem Päuschen werde ich die Slowakei hinter mir lassen und die nächsten Tage durch die polnischen Waldkarpaten, dem Bieszczady-Gebirge wandern.

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Polen Polen


4. Glück gehabt, Pech gehabt

Meine Bieszczady-Wanderung ist Geschichte, ich bin wieder in der Hohen Tatra. Kurz nach 17 Uhr fährt ein Bus von Lysá Poľana nach Ždiar. Der Bus kommt schon ein wenig früher. Er hält auf dem Parkplatz, der Fahrer hockt sich demonstrativ mit dem Rücken zu mir und beginnt etwas zu essen, die Tür bleibt zu.
Ein Israeli gesellt sich zu mir und fragt mich, ob der Bus nach Poprad fährt. Keine Ahnung, ich will ja nur bis Ždiar. Der Typ hampelt for dem Fahrerfenster herum, doch den Fahrer interessiert das nicht, der futtert weiter an seinem Pausenbrot. Der Israeli klopft an die Scheibe und winkt. Der Fahrer dreht sich zu ihm zeigt sein Brot und mault ihn unwirsch an. Ich kann mir ein Grinsen nicht verkneifen und stelle fest: Polen und Slowaken haben doch recht unterschiedliche Mentalitäten, zumindest die Busfahrer.
Dafür brauche ich für die 14 km bis Ždiar nur 1,10 Euro zu zahlen und da jammerte der Taxifahrer in Rožňava über die schwächelnde Wirtschaft in der Slowakei.
Dummerweise hatte ich den Namen der Pension von Ždiar auch auf der Speicherkarte meines GPS-Gerätes gespeichert, die am Anfang der Reise das Zeitliche gesegnet hatte. Ich wusste nur sie fing mit einem „U“ an. Doch da gab's einige, ich kann mich nicht mehr erinnern. Schlussendlich lande ich in der Penzión Ždiar. Sie liegt zentral, hat ein Restaurant (Goralská Karčma), man spricht Deutsch und im Gastraum lodert ein Kaminfeuer. Nur als ich nach dem Preis für eine Übernachtung frage, schockt mich die Dame an der Rezeption. „50 Euro.“ Meine Augen werden immer größer und vor meinem geistigen Auge schwebt bereits das Gespenst des Notbiwaks.
„Nein, entschuldigen Sie natürlich 15 Euro.“ korrigiert sich die Frau. Okay, das Zimmer ist gebucht. Zum Abendessen bestelle ich mir ein Hirschschnitzel, aus Rache für die schlaflose Nacht unterhalb der Tarnica!

Klarer Himmel und Sonnenschein. Mein heutiges Tagesziel ist die Berghütte Chata pri Zelenom plese (Karfunkelturmhaus) in der Hohen Tatra. Mehrere Wege führen dorthin, einer der schönsten Wege führt durch die Belianske Tatry (Belaer Tatra) in den Sattel Široké sedlo (Breiter Sattel, 1826 m). 2002 bin ich den Weg zum ersten Mal gelaufen, damals war es der einzige kostenpflichtige Wanderweg in der Tatra.
Zahlen muss ich heute nicht, das Häuschen gibt es zwar noch aber es ist nicht besetzt. Noch etwas ist anders: Der Wanderweg ist nicht nur grün sondern auch rot markiert und darf jetzt scheinbar in beiden Richtungen begangen werden. Es wird Zeit, dass ich mir mal ein Kartenupdate kaufe.
Ich bin etwas spät dran und deswegen nicht mehr allein unterwegs, das Hotel Magura entlässt gerade eine große Wandergruppe, die offensichtlich das gleiche Ziel haben.
Steil bergauf geht es durch das Tal Široká dolina. Wasserfälle rauschen über mir den Fels hinunter. Leider zieht Nebel auf. Noch ist der Sattel frei, doch mit jedem überwundenen Höhenmeter, werden die Wolken dichter, ich beginne einen Wettlauf gegen die Zeit.
Nach 3 Stunden stehe ich im Sattel, die Gipfel der Belaer Tatra sind schon in den Wolken verschwunden, auch die der Hohen Tatra haben sich versteckt. Doch dem Tal Zadné Meďodoly (Hintere Kupferschächte) verleiht der Nebel eine schöne Stimmung. Der Name geht zurück auf den Kupferbergbau in der Region. Größere Vorkommen von Kupferkies (Chalkopyrit) machten die Kupfergewinnung möglich.
Eine wunderschöne Herbststimmung herrscht auf dem weiteren Weg zur Chata pri Zelenom plese. Zwischen den dunkelgrünen Latschen leuchten rote Vogelbeerbäume und vereinzelte grellgelbe Birkenbäumchen.
Auf der Hütte ist was los. Liegt wohl daran, dass heute Sonntag ist. Der Preis für eine Übernachtung kann sich sehen lassen. 23 Euro kostet ein 6-Bett-Zimmer und DAV-Rabatt gibt’s hier auch nicht mehr. Ursprünglich hatte ich vor, zwei Nächte zu bleiben und morgen eine Tagestour auf die Jahňací štít (Weißseespitze, 2230 m) zu unternehmen. Aber bei solch alpinen Preisen buche ich nur eine Nacht.

Auf die Weißseespitze will ich am Morgen trotzdem nicht verzichten. Vor 7 Jahren startete ich mit Helga schon einmal einen Versuch, doch da der Grat zu stark vereist war und wir damals keine Steigeisen dabei hatten, mussten wir umdrehen. So etwas nagt dann an mir ich muss den Abwasch unbedingt fertigmachen, um mit mir wieder ins Reine zu kommen. Und jetzt bot sich die Gelegenheit dazu.
Die Luft ist kalt und klar noch herrscht Dämmerung, als ich die Hütte verlasse. Die Wasserpfützen auf dem Weg sind gefroren. Es dauert aber nicht mehr lange und die Sonne schiebt sich über den Horizont und färbt die Spitze des Jastrabia veža (Karfunkelturms) blutrot. Ich komme gut voran. Geröll rumplet unter meinen Schuhen, Gämsen grasen am Hang. Nach kurzer Kraxelei stehe ich auf dem Grat, wo damals Ende war. Auch jetzt hat sich etwas Schnee und Eis in den Felsrinnen halten können, aber es stellt kein Problem dar. Nach reichlich zwei Stunden stehe ich auf dem Gipfel und genieße die phantastische Aussicht. Der Kamm der Belaer Tatra ist komplett frei auch die Lomnický štít (Lomnitzspitze, 2634 m) mit dem Wetterhäuschen ist gut zu sehen. Nur tief im Westen bedecken Wolken die Berge.
Im Abstieg kommen mir die ersten Wanderer entgegen. Über den Graten bilden sich erste Wölkchen. Es ist 10:30 Uhr, als ich zurück an der Hütte bin. In den Zimmern wird bereits geputzt, ich schnappe meinen Krempel und trinke im Gastraum noch eine Kofola. Über das Ratzenbergjoch (Sedlo pod Svišťovkou, 2030 m) will ich bis zur Berghütte Zamkovského chata. Den Weg bin ich schon mehrmals gelaufen, bei gutem wie bei Scheißwetter. Heute habe ich beides. Die ersten Serpentinen des Anstiegs zum Joch stecken mir in den Beinen als Nebelschwaden das Grünseetal hinaufziehen. Bald ist nichts mehr zu sehen und die Temperatur fällt spürbar. Ich ziehe mir die Jacke über. Oben im Joch weht ein kalter Wind, der meinen Kopf unter die Kapuze treibt. Ab jetzt laufe ich nur noch auf kurze Sicht bis zum nächsten Geröllklumpen.
Trotz des miesen Wetters sind noch andere Wanderer unterwegs. Und was für welche! An der Imbisshütte Skalnatá chata kommt mir einer entgegen in kurzen Hosen und mit freiem Oberkörper. Ich zieh mir gleich noch die Handschuhe an. Jetzt spinnen auch noch die Slowaken!
Die Hütte wird von Ladislav Kulanga bewirtschaftet. Er ist der Rekordhalter unter den Lastenträgern in der Hohen Tatra, 211 kg soll er schon gebuckelt haben. Neugierig betrete ich den Gastraum. Es ist fast leer nur ein Pärchen sitzt am Eingang. Fotos über Fotos hängen an den Wänden fast alle haben das gleiche Motiv: Ladislav Kulanga mit einer überdimensionalen Holzkraxe vollbeladen auf dem Rücken. Ich bestelle eine Kofola und lerne einen alten Mann kennen, der auf mich verbittert wirkt. Ohne ein Wort zu sagen, schreibt er den Preis auf ein Stück Papier, verschwindet nach hinten in die Küche und kommt mit einem kleinen leeren Glas wieder. Ich möchte aber eine große Kofola und zeige es mit den Händen. Er knallt das Glas wortlos auf den Tresen, verschwindet wieder nach hinten und kommt mit einem größeren Glas zurück. Füllt es wortlos und schreibt den neuen Preis auf den Zettel. Ich gebe ihm das Geld trinke aus und verlasse den Raum wieder. Was war los?
Hinter der Hütte lichtet sich der Nebel und gibt den Blick frei auf eine neue Abfahrtspiste. Wie eine hässliche Narbe zieht sie sich den Berghang hinunter. Es wäre besser gewesen der Nebel hätte sich noch verdichtet. Da darf man als Wanderer nicht vom Weg abweichen und dann muss man so was sehen. Mein Verständnis für die Naturschutzregeln in der Hohen Tatra hält sich ab jetzt in Grenzen.
Der Weg bis zur Zamkovského chata ist steinig, ein typischer Tatra-Weg. Mehr als neun Stunden stecken mir in den Beinen, als ich die Hütte erreiche. Ein Elektrozaun schützt die Hütte großräumig vor nächtlichen Bärenbesuchen. So etwas wie vor 7 Jahren soll wohl vermieden werden. Ich bekomme ein Doppelzimmer, ein Bier und deutsche Gesellschaft. Eine Gruppe des DAV Offenburg macht eine Bergtour durch die Hohe Tatra. Ich habe sozusagen Nachbarn getroffen. Das finde ich interessant, könnte man in Freiburg auch mal vorschlagen. Sie sind 9 Personen und haben heute eine Tagestour über den Priečne sedlo (Rote-Turm-Scharte) zur Zbojnícka chata (Räuberhütte) gemacht. Die Runde möchte ich morgen auch laufen. Immerhin versichert mir ein Mann von der Bergwacht, dass es morgen nicht regnet.

Nur kurz zeigt sich die Sonne am Morgen, dann ziehen graue Wolken auf, die sich in den Felsgraten festsetzen. Der Aufstieg zur Téryho chata geht recht zügig. Dort pfeift ein kalter Wind über das Hochtal, die Wellen des Bergsees Veľké Spišské pleso klatschen an die Steine am Ufer. Ich gehe nicht in die Hütte laufe weiter in Richtung Priečne sedlo. In dem kleinen Seitental Dolinka sedielkom (Sattelpasstälchen) teilt sich der Wanderweg. Rechts geht es hinauf in den sedlo Sedielko (Sattelpass), grün markiert. Links führt der gelbe Weg in den Priečne sedlo. Seltsamerweise findet man immer wieder den Namen „Prinzensattel“ für den Priečne sedlo, woher der stammt, weiß ich nicht genau und vermute mal, der Name stammt noch aus Zonenzeiten.
Wenn ich ehrlich bin, gefällt mir „Prinzensattel“ viel besser. Der Name hat was Magisches, regt die Phantasie an. Und ich bin mir sicher, in 50 Jahren heißt das Ding bei den Deutschen „Prinzensattel“ und kein Hahn kräht mehr nach der Herkunft des Namens!
Auch diesen Weg hatte ich schon einmal im Visier – 2002. Und auch da machten Schnee und Eis eine Begehung unmöglich. Auf dem Schuttkegel unter der Scharte liegt Schnee und auch aus der Scharte selbst leuchtet es weiß. Meine Eisketten liegen in der Hütte! Jetzt sieht es so aus, als ob ich sie gebrauchen könnte. Muss ich am Ende auch heute wieder umkehren? Es ärgert mich!
Langsam steige ich die Serpentinen über den Geröllhaufen empor, der Schnee ist festgetrampelt und rutschig. Es dauert nicht lange und ich stehe am Anfang des Klettersteigs. Der Fels ist zum Glück schnee- und eisfrei, es sollte gehen. Fest und griffig ist der Granit und überall finden sich Griffe und Tritte, es klettert sich hervorragend und auch die Absicherung mit Ketten ist sehr gut. Ruck zuck stehe ich im Pass, kalter Wind schlägt mir ins Gesicht. Es geht noch ein paar Meter an Ketten gesichert hinab, dann folgt ein etwas gewöhnungsbedürftiger Abstieg auf einem steilen bröseligen Pfad.
Ich stehe in einem weiten Felskessel. In einem Meer aus Geröll liegen ein paar Bergseen. Die gelbe Markierung ist nicht immer auszumachen, aber ich habe noch gute Sicht und erkenne den Weg, der im großen Bogen zur Räuberhütte führt. Das Wetter ist hier im Großen Kohlbachtal (Veľká Studená dolina) deutlich schlechter als auf der anderen Seite des Mittelgrates (Prostredný hrebeň). Die Sonne zeigt sich nicht mehr.
In der Hütte hocken ein paar Wanderer. Ich bestelle eine Knoblauchsuppe und einen Tee, Kofola heißt hier Stein-Cola. Anfang des 20. Jahrhunderts diente die damals unbewirtschaftete Hütte Wilderern und anderem Gelichter als Unterschlupf, der Name hat sich bis heute erhalten. Etwas aufgewärmt beginnt für mich nun der lange Abstieg durch das Große Kohlbachtal. Im bunten Herbstwald bekommt selbst der Magistralenweg seinen Reiz. 8 ½ Stunden dauerte mein Rundweg. Eine große Portion süßer Dampfnudeln ist jetzt ein Muss!

„Es kann sein, dass das Wetter noch schlechter wird“ hatte mir der Hüttengehilfe gestern offenbart, als ich nach dem Wetter für den nächsten Tag fragte. Als ich früh aus dem Fenster schaue, ist der Himmel blau. Ich treffe die kühne Entscheidung eine der großen Hauptkammüberschreitungen anzugehen – über den sedlo Sedielko nach Tatranská Javorina (Uhrngarten – abgeleitet von Ahorn). Es wird ein langer Wandertag.
Den ersten Teil des Weges kenne ich bereits, der Unterschied zu gestern: Heute ist es annähernd windstill. Zwei Tschechen wollen über den Ľadový hrebeň (Eistaler Grat) zur Malý Ľadový štít (Markasitturm, 2603 m) klettern. „Alles nur im 2. Grad“ erfahre ich. Der Aufstieg zum Sattelpass treibt mir Schweißperlen auf die Stirn. Im letzten Stück sind zur Sicherheit Ketten angebracht. Im Pass erlebe ich ein Wetterphänomen. Westlich von mir, im Javorovagrat (Javorový hrebeň) hängen dicke Wattewolken, kein Gipfel ist zu sehen, östlich dagegen ist strahlend blauer Himmel. Der Typ hatte mit seiner Wetterprognose vielleicht gar nicht mal unrecht.
Der Abstieg erweist sich wieder als steil und unangenehm aufgrund der lockeren Steine, die unter meinen Füßen wegrollen. Doch vor allem zieht er sich endlos in die Länge. Wie eine schwarze unüberwindliche Mauer wirken die Felswände des Javorovagrates. Tief unter mir sehe ich den Žabie Javorové pleso (Krotensee). Aus dem See entspringt die Javorinka deren Lauf ich nun folge. Immer wieder bieten sich herrliche Ausblicke auf die Belaer Tatra.
Nach rund 7 ½ Stunden trifft der Weg auf den blau markierten Wanderweg vom Kopské sedlo (Kopapass), jetzt ist mein Tagesziel nicht mehr weit, noch eine halbe Stunde ungefähr bis Tatranská Javorina. Mit dem Bus will ich nach Poprad, leider ist der Fahrplan an der Bushaltestelle teilweise abgerissen. Im Laden gegenüber bekomme ich Auskunft. Ich habe noch eine knappe Stunde Zeit. Ich mache ein paar Bilder von der hübschen Holzkirche auf dem Friedhof.
Der Bus kommt pünktlich, es fährt der Brummelfahrer vom letzten Mal. Die letzten zwei Tage möchte ich ruhig angehen lassen. Von Poprad aus will ich gemütliche Tagestouren in der Hohen Tatra machen. Im Hotel „Satel“ kann ich nur 2 Nächte bleiben, die sind ausgebucht. Und das Anfang Oktober, ich kann's kaum glauben. Der Wochenendtourismus lässt grüßen.

Gleich nach dem Frühstück (der Gurkensalat war toll) fahre ich nach Tatranská Lomnica (Tatralomnitz). Richtig dekadent will ich mit der Seilbahn und dem Sessellift hinauf in den Lomnické sedlo (Lomnitzer Sattel) fahren. Von dort führt ein grün markierter Wanderweg in 15 Minuten über den Lomnický hrebeň (Lomnitzer Grat) zum Veľká Lomnická veža (Großer Lomnitzturm, 2215 m).
An der Talstation der Seilbahn in Tatralomnitz ist es erstaunlich leer, obwohl die Sonne scheint. Ein Schild am Kassenhäuschen nennt mir den Grund: „Wegen starkem Wind ist die Seilbahn nicht in Betrieb“. Alles ist irgendwie Glückssache in der Hohen Tatra: Bären zu sehen, das Wetter und auch eine Seilbahnfahrt. Ich mache mir keine Illusionen, heute fährt hier nichts mehr hoch. Um den Tag noch sinnvoll zu nutzen, folge ich dem blau markierten Wanderweg zu den Kohlbachwasserfällen.
Der erste Wasserfall, der in Sicht kommt, ist der Veľký vodopád (Großer Wasserfall). In mehreren Kaskaden (bis zu 13 m) stürzt der Kohlbach über die Felsen. Ein Stück stromab kommt der Dlhý vodopád (Langer Wasserfall) in Sicht. Das Wasser tobt hier über mehrere Stufen und überwindet dabei rund 40 Höhenmeter.
Bevor es wieder zurückgeht, genehmige ich mir eine Linsensuppe in der Bilíkova chata. Gemütlich schlendere ich hinunter nach Starý Smokovec und fahre mit der nächsten Bahn zurück nach Poprad. Da das Urlaubsende kurz bevorsteht, kommt mir der Hotelfriseur gerade richtig. Mein Bart muss ab, ich sehe gar nicht mehr spießig aus. Morgen will ich noch einmal einen Versuch starten in den Lomnitzer Sattel zu fahren.

Bevor ich mein Glück ein zweites Mal versuche, muss ich mir eine neue Bleibe suchen. Und was passt auf einer Tatra-Tour besser als das Hotel „Tatra“? Es liegt auf halbem Weg zwischen Busbahnhof und Billa-Markt, perfekt sozusagen. Warum ich da nicht schon früher drauf gekommen bin?
Die Übernachtung ist 8 Euro billiger als im „Satel“ und ich bekomme ein Zimmer im 7. Stock mit Blick zur Hohen Tatra. Was will man mehr?
Na ja, hoch zum Lomnitzer Sattel. Das Glück ist mit mir. Der Wind hat sich gelegt und vorm Kassenhäuschen warten schon jede Menge Leute. Es gibt nur ein Problem, von Osten zieht eine Wolke in Richtung Lomnitzer Spitze, die von Minute zu Minute größer wird. Das Warten nervt mich. Schnell kaufe ich mein Ticket und haste zur Seilbahn. Alles geht mir zu langsam. Oben am Skalnaté pleso (Steinbachsee) stehe ich schon im Nebel und der nächste Sessellift fährt erst in 10 Minuten. Die Minuten kommen mir wie Stunden vor. Es wird wieder ein Wettlauf gegen die Zeit und den Nebel. Was soll ich da oben, wenn ich nichts sehen kann?
Endlich ertönt das Signal und der Lift setzt sich in Bewegung. Ich lasse mich in den Sitz fallen, der Aufpasser klappt den Sicherheitsbügel runter und los geht’s. Der Nebel wird lichter und bald sehe ich blauen Himmel über mir, ich hab gewonnen! Im Sattel scheint die Sonne und unter mir breitet sich ein Wolkenmeer aus. Schwarze Felsspitzen schauen aus der Wolkenwatte heraus. Ich sehe den Sedielko und den Priečne sedlo. Es ist einfach genial. Ich baue meine Kamera aufs Stativ und knipse drauf los. Mit Selbstauslöser muss ich mich auch noch verewigen, ein allerletztes Bild. Nur aufs Motiv konzentriert achte ich nicht auf meinen Kamerastandort. Kaum habe ich mich fotogen platziert, sehe ich wie das Stativ der Gravitation folgt. Die Kamera landet auf einem Felsen. Das Displayglas splittert und die Bodenplatte reißt es raus. Das kann nicht wahr sein! Ich kann's nicht fassen, es sollte mein letztes Foto werden, dann hätte mich eh der Nebel eingehüllt.
Nun gut, es ist kein Totalschaden und kann repariert werden, aber es hätte wirklich nicht sein müssen! Shit happens!

Trotz allem geht eine schöne und erlebnisreiche Bergtour zu Ende und ich freue mich schon jetzt auf meine nächste Reise in die Karpaten, dann im tiefsten Winter, um den Spuren von Wolf, Luchs und Bär zu folgen.

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