(Karpatentour August/September 1997 – Ukraine)
Die erste Frage des Zöllners war ziemlich dämlich: „Haben Sie Waffen,
Betäubungsmittel oder Rauschgift?“ Ich hatte ein Taschenmesser und Aspirin,
wollte jedoch keine Schwierigkeiten und antwortete brav: „Nein!“ Dann kam die
zweite Frage, und die war noch dämlicher: „Warum nicht?“ „Hm, ähm...“ Ich hätte
ihm doch das Messer zeigen sollen.
Mein Rucksack interessierte ihn nicht sonderlich. Dafür wollte er genau wissen,
wie viel Geld ich einführte, um zu überprüfen, ob ich meine Zollerklärung korrekt
ausgefüllt hatte. Schein für Schein stapelte sich auf der Sitzbank des Zugabteils.
Vier Augenpaare stierten auf das Häufchen - es waren etwa 200 Dollar und 60 Mark.
Blöd kam ich mir dabei vor. Schließlich brauchte niemand zu wissen, was ich so an
Finanzen mit mir herumschleppte. Das war's. Jetzt fehlte nur noch mein Pass.
Endlich - ein Soldat rannte aus dem Grenzgebäude und reichte mir den Ausweis
durchs Abteilfenster. Ein Pfiff ertönte, gefolgt von einer Rauchwolke, der Zug
ruckte an, und ich war in der Ukraine.
In Djakowo, dem ersten Ort hinter der Grenze, stieg ich aus und hatte ein Problem.
Ich brauchte Hrywen, die Währung der Ukraine. Normalerweise wäre das kein Problem,
doch erstens war Djakowo ein Kaff, und zweitens konnte ich auf russisch lediglich
„Guten Tag“ sagen und ein Bier bestellen. Ich schulterte meinen Rucksack und lief
los.
Die Leute hockten auf Bänken vor ihren Häusern und kauten Sonnenblumenkerne. Sie
schauten mich an wie ein Marsmännchen. In meinem Sprachführer suchte ich im
Kapitel „Geld“ die passende Frage aus, prägte mir den Satz ein und ging auf
eine etwas üppige Dame mittleren Alters zu. Sie unterhielt sich mit einem
älteren Herrn. „Die sprechen ja ungarisch“, stellte ich besorgt fest. Ich würde
bloß Bahnhof verstehen. Trotzdem nahm ich all meinen Mut zusammen und leierte
die Frage runter - es klappte. „Versuchen Sie's im Café Tisa“, sagte sie.
Das Café lief gut, die Gäste zahlten in Dollar. „Wie viel?“ fragte der Boss,
ein Schwergewicht im Anzug, dem der Schweiß auf der Stirn stand. Ich holte einen
50 Dollar Schein raus. Wurstfinger hielten ihn gegen's Licht. „Okay“, brummelte
der Mann und verschwand, um mir kurz darauf 90 Hrywen unter die Nase zu halten.
Jetzt musste ich nach Winogradow, von dort sollte morgen ein Bus nach Rachow fahren.
Das Haar des Busfahrers war schon weiß, sein Gesicht zerknittert - der Bus hatte
vermutlich das gleiche Alter.
Die Turbaza (Touristenherberge) in Rachow erinnerte mich an das Café in Djakowo,
beide hatten denselben Namen: Tisa, nach dem Fluss Theiß, der durch das Städtchen fließt.
In dieser Herberge hatte man eine eigene Taktik entwickelt, Fremden das Geld
aus der Tasche zu ziehen. 11 Hrywen kostete das Einzelzimmer.
„Haben Sie noch ein Zimmer frei?“ fragte ich die Dame an der Rezeption. „Ja“
oder „Nein“ hätte ich jetzt erwartet, doch ihre Antwort überraschte mich.
„Woher kommen Sie?“ wollte sie wissen. Verschwand hinter einer Tür, kam wieder
und erklärte mir, dass ich nur noch ein 3-Bett-Zimmer bekommen könne, das 33
Hrywen koste. Mittlerweile mit den hiesigen Gepflogenheiten bestens vertraut,
einigten wir uns auf 22 und ein Doppelbettzimmer. Das Zimmer lag im 1. Stock,
mit Blick auf den Friedhof, ohne Strom und warmes Wasser, dafür stand auf dem
Tisch die typisch russische Teemaschine - ein Samowar und im Bett räkelten sich
Ohrwürmer.
„Ich hab gehört du willst zur Gowerla?“ fragte mich jemand am nächsten Morgen,
als ich mir eben ein Eis kaufen wollte. In den Bergen muss ich auf Leckereien wie
diese verzichten, bin ich dann zurück in der Zivilisation, kann ich mich kaum
bremsen. Dmitriy kam aus Kiew und hatte mit angehört, als ich versuchte den Weg
zum höchsten Berg der Ukraine herauszufinden.
Die Gowerla ist 2061 m hoch und liegt im Tschernogoramassiv - den Schwarzen
Bergen - im südlichsten Teil der Waldkarpaten. Da ich mich in der Regel mit
Händen und Füßen verständigte, musste ich Dmitriy zwangsläufig aufgefallen sein.
Er hatte Elektronik studiert, jobbte aber in einem Reisebüro in Dubai. In seinem
Beruf fand er hier nichts. Außerdem lag der Lohn in der Ukraine im Durchschnitt
bei nur 70 Hrywen im Monat. Wir reisten gemeinsam weiter. Ursprünglich wollte
ich von Rachow, dem Tal der Weißen Theiß folgend, von Süden zur Gowerla. Doch
das Land südlich der Gowerla war Reservat. „Für Touristen gesperrt“, meinte
Dmitriy. Wiedermal musste ich meinen Plan ändern. Wir wollten mit der Bahn bis
Jasinja und von dort zu Fuß ins Tschernogoramassiv.
Der Zug nach Jasinja ähnelte einem Ameisenhaufen. Auf den Holzbänken drängelten
sich bis zu vier Personen, Bäuerinnen, alte Mütterchen und schwatzende Männer.
Im Gang stolperte ich über Säcke, Körbe und Frauen, die Bier, belegte Brote und
Kuchen verkauften.
Jasinja bedeutet Esche und galt als Hauptstadt der Huzulen. Als die einzigen
berittenen Hirten in den Karpaten waren sie eine Art „Karpatencowboys“. Sie
lebten bis zum Anfang unseres Jahrhunderts als Halbnomaden von der Schaf- und
Rinder-, vor allem aber der Pferdezucht. Wie lange die Huzulen schon im
Tschernogora-Gebirge, sowie in den Tälern der Flüsse Prut und Tscheremosh leben
und woher sie einst kamen, weiß heute niemand genau. Am Mittag des nächsten
Tages kraxelten wir durch dichten Fichtenwald, stopften uns mit Himbeeren voll
und lernten am Abend Ljuba kennen. Sie war eine Pastushka (Kuhhirtin). Dmitriy
fragte sie, ob wir heute in einer der Hütten schlafen dürften. „Ihr seid zu
zweit?“ wollte Ljuba wissen. „Dann könnt ihr mit bei uns schlafen. Gestern
waren es 12.“
In der Hütte knisterte ein Feuer, darüber ein Topf mit Nudeln hing. Auf Brettern
lagen Pilze zum Trocknen aus und an der Wand hingen Holzkellen, Töpfe und Löffel.
Wir rollten unsere Schlafsäcke in eine Ecke, Ljuba öffnete die Tür und brachte
uns einen Eimer frisch gemolkener Milch.
Jeden Morgen und jeden Abend musste sie über 100 Kühe melken. Tagsüber kümmerte
sie sich um die Hütte, holte Feuerholz, kochte Essen und sammelte Pilze. „Bin
jetzt den 33. Sommer hier oben.“ Stolz lag in ihrer Stimme. „Aber nun merke ich
es schon manchmal - das Reißen im Rücken.“ Sie arbeiteten zu viert auf der
Station. Eine Freundin aus Jasinja half Ljuba. Zwei Männer trieben tagsüber die
Kühe auf die Weide. Die Kühe gehörten den Leuten aus den Dörfern. Die
Viehbesitzer bezahlten die Hirten und bekamen im Gegenzug Milch, je nachdem wie
viele Tiere sie besaßen und wie viel Milch diese gaben.
Wir sollten uns um das Feuer kümmern, es durfte nicht ausgehen. Vielleicht
glaubten die Hirten noch immer, dass es Mensch und Vieh Unglück bringen könne.
Ljuba nahm kein Geld für die Unterkunft, drückte mir stattdessen eine Axt in die
Hand und sagte: „Macht mir lieber ein paar Holzscheite fürs Kochfeuer, aber
nicht zu klein.“ Wir wechselten uns ab beim Holzhacken und bekamen zum Abschied
noch frischen Schafskäse. „Schaut wieder mal vorbei“, rief Ljuba. Dann folgten
wir dem Hirten zur Gowerla.
Jemand, der jetzt in München lebt, hat das Gipfelkreuz gespendet, las ich auf
einer Metalltafel unter dem Kreuz. Vom Gipfel aus konnte ich Rumänien sehen. Am
Horizont erstreckte sich die Kette des Rodna-Gebirges, blau und winzig, wie
Streuselkuchen. Der höchste Krümel hieß Pietrosul - ich würde ihn erst am Ende
der Tour besuchen. Etwas näher, mehr im Südosten, lag Pop Iwan, der zweithöchste
Berg des Tschernogoramassivs - „Der aus den Wolken trinkt“ nennen ihn die
Huzulen. Heute musste er dürsten. Dazwischen wuchs Wald, dicht, dunkel und
geheimnisvoll. Es war das Reservat, von dem mir Dmitriy erzählt hatte. Wolf und
Karpatenbär - der größte Gebirgsbär der Welt - lebten dort. Bis zum Anfang
unseres Jahrhunderts trieben außerdem huzulische Räuber ihr Unwesen in den
Wäldern. Oleska Dobosch galt als der Berüchtigtste. Geplünderte Kaufleute,
erschlagene Gutsherren und vergewaltigte Bürgerstöchter gingen auf sein Konto.
1745 wurde er aus dem Hinterhalt erschossen. Heute ist es wieder ruhig in den
Bergen, das Gefährlichste, was uns hätte begegnen können, wäre eine Meute
Hirtenhunde. Doch auch davon blieben wir verschont.
Stundenlang konnte ich so auf dem Gipfel sitzen und einfach nur schauen, bis
sich die Sonne verabschiedete. Ich fühlte mich dann, als ob ich schon immer ein
Teil dieser Berge war.
Unter uns im Osten lag das Sportlerheim von Worochta. Dort wohnten und
trainierten zurzeit die zukünftigen Olympioniken der Ukraine. Wir stiegen ab,
vielleicht konnten wir in dem Heim übernachten. Es war voll, aber Dmitriy gab
noch nicht auf. Ein Stück weiter stand das Heizhaus. „Habt ihr Wodka?“ fragte
der Heizer. Hatten wir leider nicht. Dmitriy verhandelte mit dem Mann und
einigte sich schließlich auf 5 Hrywen fürs Übernachten einschließlich warmen
Wassers zum Duschen. Wir schliefen auf Turnermatten, aus denen die Asbestfüllung
rieselte...
Dmitriys Zug nach Lwow fuhr um Mitternacht, sein Urlaub war zu Ende. Mein
nächstes Ziel hieß Ust - Tschorna, im Tal des Tereswa-Flusses. Ich musste
irgendwie zurück nach Jasinja und von dort etwa 30 km über die Swidowets-Berge
laufen. Sie bilden den mittleren Teil der Waldkarpaten. Ihr höchster Punkt
heißt Bliznitsa (1880 m).
Ich trampte, wurde in Jasinja abgesetzt und lief über eine Stunde, bis ich den
Abzweig zur Touristenstation Dragobrat unterhalb der Bliznitsa fand.
Das Massiv hatte zwar keinen Nationalparkstatus, trotzdem versperrte mir ein
Schlagbaum den Weg. Im Kontrollhäuschen saß niemand. Ich schlüpfte unter der
Schranke durch und baute neben dem Forstweg mein Zelt auf.
Blauer Enzian und eine blaue Bandmarkierung begleiteten mich bis Dragobrat,
Skilifte bis zum Kamm. Unterhalb des Dogjaska-Gipfels sah ich einen See. Es war
mein erster See in der Ukraine - ich blieb.
Am nächsten Morgen, als die Sonne eben über die Bergspitzen kroch, stand ich schon
auf dem Kamm. Am Horizont erschien ein Punkt, der langsam näher kam und sich
als LKW entpuppte, dem die rechte Motorhaube fehlte, was an sich nichts
Besonderes war. Was mich stutzig machte, war die Tatsache, einem LKW zu begegnen,
wo sich sonst nur Wanderer und Hirten herumtrieben. Auf der Ladefläche hockten
ein Dutzend Menschen. Einige mit Videokameras bewaffnet, fingen gleich an, mich
zu filmen. Der Fahrer hielt, pinkelte neben seinen Wagen und sagte, dass er
mich auf der Rückfahrt bis Ust - Tschorna mitnehmen könne. Da ich noch nie auf
einem Gebirgskamm getrampt war, gefiel mir der Vorschlag. Ich lief weiter,
wartete ab und zu, doch kein LKW kam - ich war am Abzweig nach Ust - Tschorna
vorbeigelaufen. So stolperte ich über verwaiste Hirtenpfade nach unten und
erreichte das Tereswa-Tal 3 bis 4 km südlich des Dorfes.
Königsfeld hieß das Dorf zur Zeit Maria Theresias. Im 18. Jahrhundert siedelte
sie dort Tiroler Familien an.
Als erstes begegneten mir Kühe, hinter dem Friedhof - Günter. Er war Deutscher,
Ende 40 und einer der letzten in Ust - Tschorna. „Ich wurde in Sibirien geboren“,
erzählte er mir. „Die ersten 4 Jahre wuchs ich in einem Lager auf. Alle
Deutschen, die arbeiten konnten, wurden 45 nach Sibirien verschleppt - meine
Eltern auch.“ Jetzt wolle er mit seiner Familie nach Deutschland zu seinen
Verwandten. „In 4 bis 5 Jahren habe ich Deutsch völlig verlernt“, sagte Günter
resigniert.
Nach Kolotschawa, dem nächsten Karpatendorf, führte mich die Erdgasleitung
„Sojus“. Wie eine schlecht verheilte Narbe zog sie sich über die Berge. An
manchen Stellen rosteten noch immer eineinhalb Meter dicke Rohre vor sich hin.
Es lief sich nicht besonders gut. Zu sehen gab es auch nichts, da um mich herum
alles in Wolken gehüllt war. Den Blick auf den Boden geheftet, wollte ich nur
noch Strecke machen und erschrak, als mich plötzlich jemand anredete: „Wie spät
ist es?“ fragte mich ein Hirte und hielt mir seine Uhr hin. Sie war stehen
geblieben. Die Zeiten in der Ukraine brachten mich völlig durcheinander.
Offiziell galt im ganzen Land osteuropäische Zeit, westlich der Karpaten wurde
dagegen MEZ verwendet, und Ljuba lebte sogar nach westeuropäischer Zeit,
solange sie in den Bergen war. Ich stellte ihm die Uhr auf MEZ, denn die Mitte
Europas liegt immerhin in den Waldkarpaten, etwa 25 km südwestlich von Rachow.
Die Kinder in Kolotschawa grüßten mit „Ahoi“, sie hielten mich für einen
Tschechen. Die meisten Wanderer, denen ich in der Ukraine begegnete, waren
Tschechen. Sie hatten keine Probleme sich zu verständigen, tschechisch und
ukrainisch sind einander ähnlich.
Das Angebot in den Läden ähnelte sich auch: Wodka und Schokolade konnte man
überall kaufen. Mit Bier und Brot musste man schon etwas Glück haben, Obst und
Gemüse gab es dort dagegen selten. Ich kaufte es bei den Straßenhändlern. In
Kolotschawa bekam ich alles, sogar Wasser aus dem Dorfbrunnen gegenüber der
Holzkirche.
Der See Sinewir lag etwas abseits meiner Route. Da ihn mir Dmitriy empfohlen
hatte, nahm ich den Umweg in Kauf. Ich blieb auf der Straße, die dem Tereblja-Fluß
folgte und nach Sinewirskaja Poljana führte. Einer Legende nach entstand der See
aus den Tränen von Sin, der Frau des Wir, einem Hirten, der an dieser Stelle im
Fluss ertrank.
Ich mochte den See nicht. Alles war so künstlich. Der Pfad drumherum, die
Picknickunterstände oder die Verbotsschilder: „Du sollst nicht Zelten“, „Du
sollst kein Feuer machen“, „Du sollst keinen Furz lassen...“.
Ich fühlte mich wie in einem Museum. Immerhin durfte ich Himbeeren pflücken und
in einem der Unterstände biwakieren.
Es nieselte am Morgen. Ich wollte nach Torun, einem Bergdorf im Rika-Tal, und
von dort zurück zum Hauptkamm - der Borshawa Polonina Bergkette.
Der Weg nach Torun war nicht einfach. Bisher war alles ordentlich. Ich lief
über die Grasmatten der Berge und hatte mein Ziel immer vor Augen. Jetzt sah
ich nur Bäume, Farngestrüpp und Schlammpfade, die ständig ihre Richtung änderten.
Ich holte meinen Kompass aus dem Rucksack und blätterte in den kopierten Seiten
meines Reiseführers. „...folge den gelben Streifen“, stand da. Ich fand keine
und las weiter: „... nachdem du dich 7 Minuten durchs Dickicht geschlagen
hast...“, ich schlug mich ein paar Stunden, erreichte gegen Mittag Torun und
stürmte den Dorfladen.
„Sind Sie etwa allein?“ Es war mit Abstand die häufigste Frage, die mir auf der
Tour gestellt wurde. Meistens gefolgt von der Frage, ob ich kein Auto hätte. Die
Frau hinter dem Ladentisch wollte es noch genauer wissen:
„Haben Sie denn keine Freunde?“ Ich nuckelte an meiner Cola aus Sibirien, die
nach Apotheke schmeckte, und überlegte mir eine Antwort. „Ähm, doch schon, aber
man braucht ja ein Visa und so...“ Dass ich ganz gern auch mal allein reise,
hätte sie sicher nicht verstanden. Ich konnte Entscheidungen treffen, diese
wieder verwerfen und wenn was schief lief, schimpfte ich mich selbst einen
Trottel.
Ritschka liegt am Fuß der Polonina-Berge in den mittleren Waldkarpaten und hatte,
wie die meisten Orte, ein Café. Der Name war irreführend, denn getrunken wurde
in der Regel Wodka. Ich hatte schon erlebt, dass es kein Wasser gab, keinen
Schnaps zu haben war jedoch abgrundtief verdorben.
An der Theke standen drei Dörfler. „Was wiegt der Rucksack?“ fragte einer. Er
war schwer, das wusste ich, aber ich hatte ihn nur einmal gewogen, das war daheim.
Auf stattliche 40 Kilo hatte er es damals gebracht. Jetzt wog er weniger. Ich
rechnete die Slowakei- und Rumänienkarten ab, die bei Tudor in Rumänien lagen,
sowie einen erheblichen Teil meiner Verpflegung. „30 Kilo“, sagte ich.
Ungläubige Gesichter starrten mich an. Jeder hob den Rucksack einmal hoch -
unverständliches Kopfschütteln. Ich musste mich setzen, bekam ein 100-Gramm-Glas,
die Wirtin schenkte ein, und ich stieß an - auf dass die Tour gelang.
Das Zeug schmeckte nicht mal schlecht. Zum Nachtisch gab es Schokolade, denn ein
Ukrainer trinkt den Wodka nie, ohne danach etwas zu essen. Die zweite Runde
setzte ich aus. Mir fiel ein Spruch ein: Für einen Russen sind 1000 Kilometer
nicht weit, 10 Grad minus nicht kalt und 100 Gramm nicht viel, das passte auch
auf die drei Ukrainer.
Das ein Deutscher allein mit einem 30-Kilo-Rucksack durch die Karpaten zog war
zwar selten, wurde aber akzeptiert. Dass ich keine Waffe hatte, verstanden sie
genauso wenig wie der Zöllner bei der Einreise in Djakowo. „Na wegen der Wölfe.“
Erst als ich versicherte, dass mir bis jetzt noch kein Wolf über den Weg
gelaufen sei, beruhigten sich die drei.
Ich verließ das Café mit der Gewissheit, dass ich heute nicht mehr weit gehen
würde. Der Weg, dem ich folgte, war falsch. Ich merkte es nach einer Stunde. Am
nächsten Morgen trommelte mich der Regen aus dem Schlafsack.
Ich lugte unter der Apsis hervor und sah nichts - keine Berge, keine Bäume und
auch keine Wölfe. Auf dem Kamm heulte bloß der Wind, und der Nebel fraß alles,
was sich weiter als 5 Meter von mir entfernte. Mit dem Kompass in der Hand suchte
ich den ersten Pfad, der nach Norden führte, und stieg ab.
Unten empfing mich eine Herde Kühe - das Dorf hieß Pilipets. Die Bewohner dieser
Region waren Bojken. Wie ihre Nachbarn, die Huzulen, lebten sie von der Viehzucht.
Es wird erzählt, dass sie im 13. Jahrhundert in der Nähe des Dorfes Tuchla den
westwärts stürmenden Mongolen die einzige Niederlage zufügten, sodass jene
gezwungen waren, sich einen anderen Weg durch die Karpaten zu suchen.
Sie fanden ihn 1241 weiter im Süden über den Rotunda-Pass, der das Suhard-Gebirge vom
Rodna-Gebirge, meinem Finale, trennt.
Ein Schrott-LKW der Marke GAZ (er hatte Schrott geladen) nahm mich mit nach
Wolowets. Wolowets hatte für mich keine Identität. Orte wie Djakowo oder Ritschka
waren Dörfer. Rachow war ein Städtchen. Wolowets dagegen war weder das eine
noch das andere. Neben Holzhäuschen ärgerten vor sich hinbröckelnde Wohnsilos
das Auge. Immerhin lag Wolowets an der Bahnlinie Moskau - Prag bzw. Budapest,
das machte es wichtig. In einem, sagen wir Supermarkt, kaufte ich noch was zum
Abendbrot (die hatten slowakisches Bier), dann schleppte ich mich noch bis zum
Mentschulpass oberhalb des Ortes.
Zwei Wochen war ich nun schon in der Ukraine unterwegs, wenn nichts dazwischen
kam, würde ich es in 2 bis 3 Tagen geschafft haben.
Die Pfützen am Straßenrand wurden größer. Als es am stärksten goss, flüchtete
ich in Imbissbuden und trank Kaffee. Das klappte ganz gut, obwohl die Dame
hinter dem Tresen in Unter-Worota lieber an ihren Hühneraugen rumpolkte, und
der Wirt in Shdenewo kein Wasser hatte.
Dem Shdenewka-Tal folgend erreichte ich am nächsten Tag Ushok, nahe der Grenze
zu Polen. Es war Sonntag, dem Namen nach. Ich hatte es geschafft. Vor lauter
Freude lief ich ins Nachbardorf Wolosjanka. Es war der 1. September und etwa
drei Viertel der Tour lagen hinter mir. Mein Visum verfiel erst in reichlich
einer Woche. Trotzdem wollte ich zurück nach Rumänien und den Rest laufen.
Der Zug nach Ushgorod fuhr um 5.50 Uhr. Von dort wollte ich mit dem Bus nach
Tschernowzy. Ich weckte die Verkäuferin hinter dem Fahrkartenschalter.
Auf einer Bank vor dem Bahnhof saß ein Opa. Ich stellte meinen Rucksack ab und
setzte mich daneben. Als er erfuhr, dass ich aus Deutschland kam, wurde er
neugierig.
„Was kostet ein Brot bei euch?“ fragte er.
„Drei bis vier Mark“, antwortete ich.
„Und Speck?“
So und so viel.
„Und ein Ei?“ „Was?“
Die Frage war gut. Ich überlegte, ob ich jemals ein Ei gekauft hatte. Ich konnte mich nicht erinnern.
„Esst ihr in Deutschland keine Eier?“
„Doch schon, aber... ich weiß nicht.“
Der Zug kam pünktlich. In Ushgorod war Eile geboten, der Motor des Busses nach
Tschernowzy lief bereits, als ich mich durch den Gang quetschte und den letzten
Sitzplatz ergatterte. Von Tschernowzy fuhr ein Bus nach Suceava in Rumänien. Ich
hatte etwas Zeit, kaufte einen halben Hahn und fütterte mit den Knochen einen
Straßenköter. Dabei verpasste ich den Bus. Der nächste fuhr in zwei Stunden.
„Hast Du Zigaretten?“ fragte meine Nachbarin. Für die Hirten in den Bergen hatte
ich immer ein paar im Rucksack. Doch sie wollte nicht rauchen, sondern mir ein
paar Stangen geben, die ich ihr nach der Grenze wiedergeben sollte. Sie selbst
hatte sich bereits bestens eingedeckt: In vier Nylons reihten sich Schachtel an
Schachtel sorgfältig um Hüfte und Bauch gebunden.
Drüber zog sie einen Rock. In der Aufmachung hätte sie auf einem Ball bei
Ludwig XIV. eine gute Figur abgegeben. Das Phantastischste aber war: In dem Bus
schmuggelte jeder. Wer zuviele Zigaretten hatte, gab sie einem anderen, sodass
sich die Menge gleichmäßig verteilte. Jemand reichte noch seifenstückgroße
Päckchen herum. Dann fuhren wir los. Da ich vermutete, als Ausländer besonders
gründlich kontrolliert zu werden, spielte ich nicht mit. Niemand nahm es mir
übel. An der Grenze fuhr der Bus auf einen Platz, darauf standen mehrere Tische
u-förmig aneinandergereiht. Der Bus hielt in der Mitte. Wir mussten alle raus -
es herrschte Stille, manche bekreuzigten sich. Der Fahrer öffnete die
Gepäckräume, jeder holte seine Siebensachen raus und stellte sie geöffnet auf
den Tisch.
Zwei Zöllner verschwanden im Bus, schauten sich drin um und kamen hinten wieder
raus. Vom gegenüberliegenden Ende der Tafelrunde kam ein dritter Zöllner und
fingerte ein wenig an den Taschen rum, suchte jedoch nirgends gründlich. Mein
Nachbar steckte dem Busfahrer schnell noch ein paar Stangen zu, die jener flink
im Bus verstaute. Dann war ich an der Reihe, wurde jedoch mit dem gleichen
Desinteresse bedacht wie der Rest.
Das Schauspiel wiederholte sich auf der rumänischen Seite noch mal. Als auch das
überstanden war und der Bus fahren durfte, schlug die Stimmung um wie auf 'ner
Silvesterparty. Einige holten Sektflaschen raus und feierten bis Suceava.