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Retezat intensiv

(Karpatentour September/Oktober 2004 – Rumänien)

Inhalt

  1. Anreise
  2. Ins Retezat-Gebirge
  3. Retezatul Mic
  4. Abstecher ins Țarcu-Gebirge
  5. Zurück nach Deva
  6. Informationen

1. Anreise

Unsere Tour begann mit einer zweistündigen Verspätung in Deva. Unser österreichischer Schlafwagenschaffner wusste auch warum: Schuld waren die Berliner Stadtwerke. Aha. Nach meiner Reiseverbindung sollten wir am nächsten Morgen um 6:30 Uhr in Deva ankommen.
Er schaute sich die Verbindung an und meinte: „Das kapieren die weder bei uns noch in Deutschland. Muss wohl daran liegen, dass beide einmal zu den Berliner Stadtwerken gehörten“.
Die eigentliche Ursache waren Gleisarbeiten in Ungarn. Deshalb fuhr der Zug über Episcopia Bihor und Oradea nach Arad und nicht, wie geplant, über Curtici.
Da Răzvan, mein rumänischer Freund, sowieso verschlafen hatte, war die Sache nicht weiter tragisch. Er wartete bereits auf dem Bahnsteig, als wir aus dem Abteil kletterten. Eine viertel Stunde später brannte bereits die erste Begrüßungsțuica in der Kehle.
Zum Schwätzen blieb nicht viel Zeit, unten vor der Tür wartete schon Adi, Răzvans Kollege, in einem kürbisgelben Dacia, um uns in die Berge zu fahren. Zunächst aber brauchte ich rumänische Lei. Adi hielt vor einem Geldautomaten – und kurz darauf durfte ich mich wieder einmal Millionär nennen.
Drei Wochen wollen wir in den Karpaten wandern, zunächst zwei Wochen im Retezat-Gebirge, dann eine Woche in den Karpaten Ungarns, dem Zempléni-Gebirge. Helga, als Karpatenneuling würde mich begleiten.
Răzvan hätte uns gern für ein paar Tage Gesellschaft geleistet, aber zurzeit stresste ihn sein Job in der Forstverwaltung.

2. Ins Retezat-Gebirge

Wir fuhren über Hațeg und Ohaba - mit dem obligatorischen Zwischenstopp in Bacia für eine Ciorba de Burtă (Kuttelsuppe mit Peperoni, die einem sämtliche Schleimhautbakterien im Mund vernichtete) – bis zur Cabana Cârnic. Dichter Nebel hüllte uns ein. Răzvan und Adi wünschten uns alles Gute, in zwei Wochen würden sie uns an der Gura-Zlata-Hütte, im Westen des Gebirges, wieder abholen. Wir schulterten die Rucksäcke, packten unsere Stöcke und schlenderten – zum Schluss bei Nieselregen – hinauf zur Pietrele-Hütte.
Ich hatte die Hütte noch von meiner Wintertour im Januar in guter Erinnerung: Bei Olga gab es Sarmale (Kohlrouladen) und heiße Würstchen zu futtern, und Mihai, der Hüttenwirt, spendierte nach jeder Wanderung eine Țuica. Da kam Vorfreude auf.
Dieses Mal lief aber alles sehr förmlich ab. Ich musste meinen Ausweis abgeben und ein Anmeldeformular ausfüllen. Mihai war nicht da, vermutlich musste er Verpflegung ranschaffen und würde erst in zwei Tagen kommen. Statt Țuica, Sarmale oder andere Leckereien servierte uns Olga eine dünne Bohnensuppe mit Weißbrot, auf dem schon Kolonien grüner Schimmelpilze siedelten. Immerhin hatten sie Klausenburger Bärenbier im Angebot. Zum Schlafen durften wir in Cabana Nummer 10 einziehen, das gleiche Hüttchen wie im Januar.
Der nächste Tag sah nicht besser aus. Am Morgen regnete es. Und das nicht nur draußen: Tropfen um Tropfen pitschte auf den Tisch neben die Tüte mit meinen Müsliriegeln. Laut Olga würde es das auch den ganzen Tag tun. „Am besten, ihr bleibt noch einen Tag“, meinte sie.
Wir ließen das Los entscheiden, zogen Hölzchen – Tagestour oder weiter bis zum Bucura-See? Wir „gewannen“ den Tagesausflug im Stânișoara-Tal. Zwei Stunden wateten wir bis zum Stânișoara-See am Ende des Tals. Die beiden Bucura-Gipfel versteckten sich hinter grauen Wolken. Immerhin: Der Retezat schaute dann und wann zu uns herüber, als wolle er uns einladen hinaufzuklettern. Ich rechnete mit etwa 2 Stunden bis zum Gipfel. Aufgrund einschlägiger Erfahrungen auf einer früheren Karpatentour fragte ich erst mal vorsichtig, ob es okay wäre, noch weiter zu laufen.
„Warum nicht“, meinte Helga, und nach einer Stunde und fünfundvierzig Minuten standen wir auf dem Namensgeber des Gebirges. Zu sehen war nichts, außer Nebel und dem Gipfelschild mit der Höhenangabe „2485 m“. Daneben flatterten bunte buddhistische Gebetsfähnchen im Wind, der die Gebete in die Welt sandte. Was Helga, als Himalajaexpertin, hoch erfreute: „Jedes Tal, jeder Pass wird durch seine zornvolle Gottheit beschützt. In „ihrem“ Tal sollen sie bleiben – und dieses beschützen.“ erklärte sie mir.
Ich fand die Fähnchen in den Karpaten etwas deplaziert. Am liebsten waren mir Gipfel, auf denen überhaupt nichts weht, flattert oder in den Himmel ragt. Und was die Gottheiten betraf, die hätten bei dem Nebel den Weg ins Nachbartal ohnehin nicht gefunden.
Wir stiegen über Geröllbrocken des Lolaia-Kammes an der Nordseite des Retezat-Gipfels ab, das Wetter machte sich zusehends. Die Wolken verkrochen sich in die Täler und gaben den Blick auf das Gebirge frei.
Zurück an der Pietrele-Hütte warteten bereits wieder Bierchen (berică) und Bohnensuppe. Und danach noch ein Omelett.
Sonnenstrahlen durchfluteten am nächsten Morgen den Fichtenwald, als wir dem Pietrele-Tal folgten – unser Ziel: der Bucura-See im zentralen Teil des Retezat Gebirges. Olga hatte mir noch eine Nachricht an den Hüttenwirt der Gențiana-Hütte mitgegeben. Dort angekommen, drückte ich ihm den Zettel in die Hand. Augen huschten über das Papier. Wortlos schnappte er sich kurz darauf seine Mütze und verschwand im Wald in Richtung Pietrele-Hütte. Vermutlich hatte ich ihm die Nachricht überbracht, dass zur Pietrele-Hütte Futter angekarrt wurde, und er sollte heute seine Vorräte aufbessern. Wir tranken noch etwas Tee, dann ging es weiter.
Der Bucura-See gehört zu den wenigen Plätzen im Nationalpark, wo es gestattet war, zu zelten. Am Ostufer des Sees steht eine kleine Hütte der rumänischen Bergwacht, SALVAMONT. Laut Olga waren die Bergwächter letzte Woche abgestiegen, da die Saison vorbei war. Mit etwas Glück könnten wir auch dort übernachten.
Im Herbst in den Karpaten zu wandern, hat somit gewisse Vorteile: Da war niemand, der einem auf den Zünder ging, weil er der Meinung war, das Zelt müsste noch 10 Meter weiter rechts stehen, wenn ich gerade den letzten Hering im Boden versenkt hatte.
Es gab keine paranoiden Hirtenhunde, die in allem, was sich bewegte, gefährliche Schafräuber vermuteten.
Und die Steine gewannen wieder die Oberhand gegenüber den Touristen in den Bergen.
Außer mir hatten das auch ein paar tschechische Wanderer erkannt. Sie hatten in der Salvamont-Hütte bereits Quartier bezogen. Uns blieb nur, hinter einer der Windschutzmauern das Zelt aufzubauen.
Als die ersten Sterne am Abendhimmel zu funkeln begannen, verkrochen wir uns in unsere Schlafsäcke. Morgens hatte das Zelt Raureif, die Tümpel rund ums Klo waren mit einer dünnen Eisschicht überzogen und die gelben Grasbüschel hatten weiße Bärte bekommen.
Leider hielt das gute Wetter nicht sehr lang. Unsere erste Bergtour vom See aus galt dem Bucura-Gipfel auf 2433 Meter. Oben angekommen, waberte über unseren Köpfen eine bleigraue Wolkendecke. Der Gipfel selbst ähnelte einem Haufen Bauschutt. Kein Platz, um etwas länger zu verweilen. An einem rostigen Schild, welches für das Betreten des Gemenele-Reservates 500 Lei Strafe (was heute nicht mal einem Cent entspricht) androhte, tranken wir Pfefferminz-Melissentee und knabberten lila Vollmilchschokolade.
Das Reservat gehörte der Akademie in Bukarest. In den 70er Jahren versuchten Biologen Murmeltiere aus den Alpen wieder in den Karpaten anzusiedeln. Angeblich hatte das Experiment Erfolg. Doch außer Löchern im Boden sahen wir keine Tiere. Nicht mal Gämsen ließen sich blicken. Vor fünf Jahren sah ich unterhalb der Peleaga noch ganze Herden.
Am Rande des Gemenele-Reservates, dessen Grenze rote Quadrate kennzeichneten, liefen wir im Bogen zurück zum Bucura-See. Regenschauer und heftige Windböen ließen uns schon zeitig die Schlafsäcke aufsuchen. In der Nacht war es einfach nur ätzend. Wind peitschte das Zelt. Es knatterte als würde jemand Salven mit einem Maschinengewehr abfeuern. Ich hatte kaum ein Auge zugemacht. Meine erste Handlung am nächsten Morgen bestand somit darin, Isomatte und Schlafsack zu schnappen und in die Salvamont-Hütte umzuziehen. Die Tschechen waren gestern in Richtung Peleaga-Gipfel von dannen gezogen.
Die Peleaga, mit 2509 m höchster Punkt im Retezat-Gebirge, war auch unser heutiges Ziel. Das letzte Mal hatte ich den Berg am 11. August 1999 besucht, zur totalen Sonnenfinsternis. Doch im Gegensatz zu damals standen wir heute nicht im Nebel. Tief unter uns schimmerte türkisblau der Bucura-See, und am Horizont reihten sich die Kuppen der Südkarpaten.
Über einen steilen Grat stiegen wir nach Norden ab in den Pelegii-Sattel, um auf der anderen Seite wieder nach oben zu kraxeln. Der zweithöchste Gipfel war nur einen Meter kürzer als die Peleaga und nennt sich Păpușa - die Puppe. Seinen Namen verdankt der Berg den Steinmännchen, die es überall im Gebirge gibt und die zur Markierung von Wegen dienen.
Eine dünne Eisschicht überzog zum Teil die Geröllbrocken. Wir mussten aufpassen, um nicht ins Rutschen zu kommen. Eine Tour, die mir schon lang unter den Nägeln brennt, führte über die Porțile Închise (geschlossenes Tor) zum Galeș-See. Aber das Tor soll etwas schwierig sein und aufgrund der vereisten Steine entschlossen wir uns, zum Peleaga-See abzusteigen und durch das Pelegii-Tal zurückzulaufen.
Den Weg durch das Tal, den meine sozialistische Retezat-Wanderkarte noch zeigte, hatte man auf der neuen Karte schlichtweg ignoriert. Hundespuren auf dem Wanderweg kündigten eine Schafstation an. Kurz vor der Pelegii-Wiese passierten wir sie – einsam und verlassen. Was macht eine Hirtenstation im Nationalpark, fragte ich mich. Später erfuhren wir von Răzvan, dass es innerhalb des Nationalparks immer noch Privatland gibt und die Eigentümer nicht bereit sind, ihren Besitz an den Staat abzutreten. Vermutlich zeigten deshalb die neuen Karten auch die Wanderwege im Pelegii-Tal nicht mehr an.
Nach 7 Stunden flüsterte endlich wieder Helgas MSR-Kocher. Wir waren nicht allein auf der Hütte. Ein junges Pärchen leistete uns Gesellschaft. Sie waren heute Mittag von der Buta-Hütte im Süden aufgestiegen und wollten morgen zur Pietrele-Hütte.
Am liebsten lag ich am nächsten Tag in meinem Schlafsack. Draußen tobte ein Sturm und graue Wolken verhüllten die Berge. Nur im Süden schien die Sonne und zauberte ab und zu Lichtspots auf die Geröllhänge der Bucura-Kette. Im Vorraum der Hütte hatten sich Mäuse an unserem Müsli gütlich getan, und draußen suchte ein Pärchen Gebirgsstelzen nach etwas Essbaren. Eine Tour zu machen, schien mir bei diesem Wetter sinnlos, der Wind hätte uns wohl vom Kamm gefegt. Wir legten eine Zwangspause ein.
Nachmittags trudelten zwei Rumänen ein. „Wollen auf die Peleaga und dann zurück zur Buta-Hütte“, sagte der eine. In ihren Rucksäcken hatten sie Verpflegung, als wollten sie die kompletten Südkarpaten durchqueren: Dosen mit Bohneneintopf und Weißbrotscheiben stapelten sich auf dem Tisch und eine Flasche mit Țuica fehlte – natürlich – auch nicht. Das sah nicht danach aus, als sei es den Beiden ernst mit einer Peleaga-Besteigung.
Als wir am nächsten Morgen zum Galeș-See aufbrachen, standen sie noch etwas unschlüssig vor der Hütte und beobachteten die Wolkenspiele vor dem Peleaga-Gipfel.
Unser Weg existierte nur noch auf meiner Karte von 1982. Dort war er mit einem roten Punkt markiert. Ein blasses Pünktchen lies sich auch tatsächlich ab und zu blicken, doch meistens folgten wir Steinmännern im Nebel. Im Valea Rea-Tal mischten sich Schneeflocken unter die Regentropfen. Den Galeș-See selbst konnte man zeitweise nur erahnen. Es wurde mit Abstand der feuchteste Abschnitt der ganzen Tour. Feucht ging es auch an der Hütte zu. Fünf Rumänen aus Bukarest, ausgerüstet mit 5 l Weinkanistern, Campari- und Țuica-Flaschen, ließen es sich gut gehen. Wandern wollten sie voraussichtlich nicht. Immerhin schienen sie jedoch wetterfester und kälteunempfindlicher zu sein als ich. Sie hockten noch draußen vor der Hütte, als nur noch meine Nasenspitze aus dem Schlafsack guckte.
Bei unserem obligatorischen Nudelessen beschlossen wir, bei schlechtem Wetter morgen zur Buta-Hütte abzusteigen, bei gutem Wetter wollten wir dagegen eine Tour zum Zănoaga-See unternehmen.
Das Wetter schien es gut mit uns zu meinen. Über ein Plateau, das auch gut in die Hochanden gepasst hätte, liefen wir daher durch goldgelbes Gras nach Westen – zu unserem Tagesziel, dem Zănoaga-See. Gewundert hätte es mich nicht, hätte eine Gruppe Lamas plötzlich unseren Weg gekreuzt. Den Pfad markierte ein gelber Punkt. Im Süden erhob sich der Kalkfelsen Piatra Iorgovan, als westlicher Teil des Kleinen Retezat.
Im Norden schauten wir auf den Zănoaga-Kessel. Zwischendrin liegt das Tal des Zănoaga-Baches. Tal – das hieß Abstieg. 45 Minuten benötigten wir, bis zum See ging es dann noch mal 90 Minuten bergauf. Am Ufer stand eine urige Hütte der Bergwacht, die es bei meinem letzten Besuch vor 4 Jahren noch nicht gegeben hat. Ein Ofen im Innern sorgte für Gemütlichkeit. Den umliegenden Latschenkiefern dürfte die Einrichtung nicht gut tun, denn Brennholz wird hier keiner vom Tal hoch schleppen dachte ich mir. Über den Judele-Pass erreichten wir nach insgesamt 7 Stunden und 15 Minuten den Bucura-See. Die 5 Bukarester versoffen gerade ihre Alkoholreserven. Die Weinbehälter von gestern waren schon leer. In der Hütte roch es nach Țuica, das man sich gar nicht traute den Kocher anzuwerfen. Ein Typ in roter Daunenjacke hielt mir schon am Eingang eine Flasche unter die Nase. Komischerweise bot er Helga nichts an. Sein Kumpel lag im Schlafsack, schaute kurz auf und gab keinen Ton von sich. Die Zwei waren Bergwächter vom SALVAMONT aus Lupeni, einem Bergarbeiterort im Schilltal am Südhang des Retezat-Gebirges. „Müssen ein Fenster reparieren“, sagte der Typ in der roten Jacke und pfiff sich einen Schluck Țuica rein.
Was sie an den Fenstern repariert hatten, blieb mir ein Rätsel. Immerhin hatten sie den Schlauch an der Wasserstelle wieder so positioniert, dass Wasser heraussprudelte. Mit Einbruch der Dunkelheit lockte wieder mein Schlafsack, morgen würden wir das Retezat-Hauptmassiv verlassen. Von der Buta-Hütte aus wollten wir ein paar Tage im Kleinen Retezat wandern.

3. Retezatul Mic

Der Kleine Retezat – auf Rumänisch „Retezatul Mic“ – hat eigentlich mit dem Hauptmassiv nichts zu tun. Die Gebirgszüge Piule und Piatra Iorgovan bilden das aus Kalkstein bestehende Karstmassiv im Süden des Retezat-Gebirges.
Ich war auch gespannt auf die Buta-Hütte. Bei meiner großen Karpatentour 1997 erinnerte nur noch ein Haufen verkohlter Balken an die Berghütte. Der Boss, ein Weihnachtsmanngesicht Mitte 50, hatte sie ein paar Jahre später wieder aufbauen lassen.
Ein Deutscher - und ein Karpatenschäferhund bewachten die Hütte, draußen werkelte ein Typ herum, der Boss war nicht zu Hause. Es sah immer noch aus wie auf einer Baustelle. Die nette Dame an der Rezeption versorgte uns erst mal mit Hațegana-Bier („... gebraut mit dem Wasser vom Retezat ...“, stand auf dem Etikett), einer großen Suppenschüssel voll Gemüsesuppe, Hühnerschenkeln und Pommes frites. Nach fast einer Woche Fasten ein wahrer Genuss.
Als es dunkel wurde, brachte sie uns eine Karbidlampe und vor dem Schlafengehen drückte sie mir eine Schüssel mit warmem Wasser in die Hände. „Warmes Wasser sei doch einfach angenehmer fürs Waschen“, meinte sie. Nach dem Erlebnis an der Pietrele-Hütte hatte ich schon fast den Glauben an rumänische Berghütten verloren. Leider würde es diesen Service nur noch bis Mitte Oktober geben. „Ein schwieriger Mensch, mein Boss, und zu wenig Geld“, begründete sie ihr Weggehen.
Schwierig schienen mir auch die Wanderwege am Piule, zumindest dass, was davon übrig war. Meine aktuelle Retezat-Karte zeigte gar keinen Wanderweg durch das Kalkmassiv. Vor Ort schlängelte sich jedoch ein Pfad, mit gelbem Band markiert, in Richtung Piule-Massiv. Offensichtlich hatte niemand Interesse daran, die Wege zu pflegen. „Besucherlenkungskonzept heißt das“, erklärte mir Helga. Heißt: Man versucht, auf diese Weise die Touristen aus einem Gebiet fernzuhalten. Bereits Mitte der 80er Jahre plante man, das Piule-Gebiet unter Schutz zu stellen. Immerhin sollen hier noch relativ große Bestände an Edelweiß wachsen. Ich fand das besser, als Schilder mit der Aufschrift: „... Verboten ...“ aufzustellen.
Keuchend schleppten wir uns in den Scorota-Sattel. Dort könnten wir in einer halben Stunde auf dem Piule-Gipfel stehen oder der Markierung nach Norden folgen, zum Vârful Drăgșanu. Da wir den Piule nur erahnen konnten, entschieden wir uns zugunsten des Drăgșanu-Gipfels.
Nach ein paar Metern verschwand die Markierung, etwas später der Weg. Vor uns breitete sich ein Gewirr aus Latschenkiefern aus. An manchen Stellen blieb uns nichts weiter übrig als sich auf den Hintern zu setzen, nach hinten zu lehnen und unter den Ästen hindurchzurutschen. Mit großem Rucksack hätte es kein Durchkommen gegeben.
Der Rückweg zur Hütte über den Dragșanu-Rücken war breit und durch ein rotes Band markiert. Ab und an stießen wir noch auf die Markierung blaues Dreieck, welches vom Plaiu-Mic-Sattel nach Uricani ins Schilltal führte.
An der Hütte war einiges los. Der Hüttenboss war mit zwei Arbeitern zurück, die gerade verrostete Bettgestelle auf einen Hänger luden. Die Teile stammten vermutlich noch aus der alten Hütte, hätten aber auch aus einem Krankenhaus sein können. Jetzt pfiff der Wind aus einer anderen Richtung – es gab kein warmes Waschwasser mehr und die Karbidlampe spendete ihr Licht gerade noch so lange, um ein Bierchen zu trinken.
Ich war mir nicht sicher, ob der Hüttenwirt die Marktwirtschaft richtig verstanden hatte.
Der nächste Tag begann genau so, wie ich mir einen Herbsttag vorgestellt hatte: Das trockene Gras leuchtete golden in der Morgensonne und bildete einen wunderschönen Kontrast zum Himmelsblau. In den Tümpeln auf dem Plaiu-Mic-Sattel spiegelten sich die Gipfel des Retezat-Gebirges, Peleaga und Bucura.
Heute verließen wir das Gebirge auf dem Dragșanu-Rücken in Richtung Piatra Iorgovan. Über den Felsen zogen von Süden her Wolken, die sich über dem Lăpușnicu-Mare-Tal wieder auflösten. Fünf Stunden brauchten wir bis zum Stănuleți-Sattel, wo eine ätzende Buckelpiste, mit rotem Dreieck markiert, ins Tal führte. Es dauerte noch über eine Stunde, bis wir auf der Forststrasse im Lăpușnicu-Mare-Tal standen. Es wurde Zeit, sich nach einem Platz für das Zelt umzusehen. Für 2 Euro durften wir am Ende des Grundstücks der Rotunda-Hütte unser Zelt aufbauen. Eine Übernachtung in der Hütte hätte uns um 40 Euro ärmer gemacht. Die Türen des „Nonstop“-Restaurants waren noch verschlossen am nächsten Morgen. Das Zelt war gefroren, und wir hatten kein Wasser mehr. Es schien mir das Beste zu sein, den Rucksack zu packen und so schnell wie möglich das Weite zu suchen. Den Gura-Apei-Stausee erreichten wir nach einer Stunde.
Ab dort ging es noch 2,5 Stunden auf der Landstraße bis zur Cabana Gura Zlata, dem tiefsten Punkt im Retezat-Nationalpark.
Ein Delta-Eisfähnchen baumelte vom Dach, die Tür zur Bar war nicht verschlossen, dafür alle Fenster verrammelt. Drinnen war es finster wie im Bärenarsch. Der Wirt, ein Typ mit Stoppelbart und Augenringen, kümmerte sich gerade um seine Holzvorräte für den Winter. Touristen kamen ihm ein wenig ungelegen, so schien es. Ob er eine Unterkunft habe, fragte ich ihn. Er brummelte etwas vor sich hin, verschwand in der Hütte und erschien kurz darauf mit einem Schlüssel in der Hand. Wir bezogen eines der 5 kleinen Hüttchen neben dem Hauptgebäude. Es war mit 2 Doppelstockbetten ausgestattet. An der Decke baumelte eine Glühlampe, die sogar funktionierte.
Mittlerweile belebte sich die Bar. Der Fernseher flimmerte wie zu DDR-Zeiten bei Überreichweiten. Der Wirt hockte auf der Kante eines Billardtisches, pfiff sich ein Bier rein und schwatzte mit einer Dörflerin, die ein Saftglas voll Kognak in den Händen hielt. Es schien sein Lieblingsplatz zu sein, der Tisch hatte auf dieser Seite schon deutlich Tiefgang.
Mit jedem Bierchen wurde der Mann gesprächiger. Als wir gehen wollten, versuchte er uns etwas zu erzählen, aber außer „Ursus – Bär“ und „Cerbul – Hirsch“ verstand ich nur Bahnhof. Er wandte sich nun an Helga, um ihr sein Anliegen in Französisch zu erläutern, das Ergebnis war das gleiche. Vermutlich wollte er uns vor der Gefährlichkeit wilder Karpatenbewohner warnen. Immerhin nicht ganz unbegründet. Hat doch zur selben Zeit ein tollwütiger Bär bei Kronstadt einen Menschen getötet und mehrere verletzt, wie wir später erfuhren.

4. Abstecher ins Țarcu-Gebirge

Die Warnungen des Hüttenwirtes hielten uns trotzdem nicht davon ab, am nächsten Tag einen Ausflug ins Țarcu-Gebirge zu unternehmen. Das ist der westliche Nachbar des Retezat, sein Kamm ist Weideland. Eine Forststraße windet sich in Serpentinen nach oben. Von ihr führt nach einer reichlichen Stunde ein Pfad nach Westen in den Wald. Plötzlich hörten wir das Gebimmel von Kuhglocken. Konnte es sein, dass ein Hirte den Almabtrieb verpennt hatte, fragte ich mich. Wo Kühe weideten, lauerten auch Hunde. Ich griff mir also den erstbesten Stock und trottete hinter Helga her, die das ziemlich lustig fand.
Immer aufmerksam um mich schauend, erreichten wir die Waldgrenze mit einer Stâna. Die Station war verlassen. In der Hütte gammelte noch ein Fell vor sich hin und an den Wänden hingen einige Gefäße und Geräte, mit denen die Hirten den Schafskäse herstellten. Im Großen und Ganzen war es ziemlich ranzig. Die Sicht auf das Retezat-Gebirge dagegen war atemberaubend. Der Retezat-Gipfel sah von seiner Westseite überhaupt nicht „abgeschnitten“ aus. Wie eine Pyramide thronte er über den restlichen Gipfeln des Gebirges. Im Norden überzog eine tiefblaue Dunstschicht die Ebene in Richtung Deva, bis hinüber zu den Westgebirgen. Wir hatten das Gefühl, auf einen Ozean zu schauen. Dorthin würde es Morgen gehen. Unsere Zeit im Retezat neigte sich ihrem Ende entgegen.

5. Zurück nach Deva

Răzvan und Adi standen Punkt 10:00 Uhr am nächsten Morgen vor der Hütte. Nun war Schlemmen angesagt. „Ich kenne einen Ort, wo es sehr gute Pfannkuchen gibt“, sagte Răzvan. Wir hatten gerade unsere Marmeladenbrote verdrückt. Der Ort heißt Clopotiva und die Pfannkuchen in dem Restaurant schmeckten tatsächlich hervorragend – und machten pappsatt.
Auf dem Weg nach Deva flitzten wir vorbei an mit gelben Gasleitungen „verzierten“ Hausfassaden, und an Zigeuner-Villen mit silbernen Türmchen. „Jedes Türmchen symbolisiert den Besitz von einem Kilo purem Gold“, erzählte uns Răzvan. Manche Dächer hatten einen ganzen Türmchenwald, wie mir schien.
In Deva angekommen, wurden wir gebeten uns erst einmal zu duschen, um anschließend Essen gehen zu können. Immerhin stand uns ja noch eine anstrengende Nachtfahrt bevor, da sollte es schon eine ordentliche Stärkung sein! Voll bis zum Platzen, brachte uns Răzvan zum Bahnhof. Unsere Rucksäcke hatten wir in den letzten zwei Wochen um einige Nudeln und Müsliriegel erleichtert – jetzt schleppten wir stattdessen insgesamt zweieinhalb Liter selbstgebrannte Țuica mit uns.
Wir mussten bis Cluj und von dort mit dem Nachtzug um 0:47 Uhr weiter bis Püspökladany in Ungarn. Kurz nach halb zehn am Abend fuhren wir in Cluj Napoca ein. Da Fahrkarten wie in Rumänien üblich für Schnellzüge erst eine Stunde vor Abfahrt verkauft werden, hatten wir noch reichlich Zeit. Im Wartesaal hockte schon eine Handvoll Gestalten, zusammengekrümmt auf den Holzstühlen.
Wer im Wartesaal pausieren durfte, entschieden zwei Uniformträger. Ein Schönling und sein „Dackel“. Mit geschultem Blick erwischten sie Penner, Nutten und Besoffene, die ihren Rausch ausschlafen wollten, und dirigierten sie aus dem Raum. Kaum hatten die beiden Wachmänner dem Warteraum den Rücken gekehrt, versuchten die nächsten Nichtautorisierten einen Platz zu ergattern. Das klappte dann auch meistens für die nächsten 5 Minuten, bis sie wieder rausgeschmissen wurden.
Wie im Flug vergingen bei diesem Theater die 3 Stunden, bis unser Zug nach Püspökladany fuhr. Von dort sollte es nach Tokaj und ins Zempléni-Gebirge gehen – dem Beginn unserer ungarischen Karpatentour.Ungarn

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