(Karpatentour Mai - Oktober 1997 – Rumänien)
Wir befinden uns im Jahre 1988 n. Chr. Alle Hochgebirge Europas, wie Alpen,
Pyrenäen oder die Berge Skandinaviens, sind für einen Bergwanderer aus dem Osten
Deutschlands unerreichbar. Alle? Nein! Östlich von Wien beginnend, bilden sie
einen 1500-Kilometer-Bogen im Osten Europas - die Karpaten.
Mit Uli, einem Freund, sitze ich am 3. August im Balt-Orient-Express nach
Rumänien, unser Ziel: die Westkarpaten.
Es ist meine erste Bergtour, und als Neuling geistern mir allerlei Fragen durchs Hirn:
Wird es schwierig sein, das Zelt aufzubauen?
Reicht das Essen?
Wie können wir uns verständigen, ohne Sprachkenntnisse?
Reichen unsere zwei Wochen Urlaub für die Tour?
Sie reichten und ich war begeistert. In meinem Kopf fing es an zu spuken, eine
Idee, die mich nicht mehr loslassen sollte: Einmal, so wünschte ich mir, werde
ich sie laufen, vom Banat in Rumänien bis zur Donau in der ČSSR - die Karpaten.
22. Mai 1997. Mit Uli sitze ich im Linienbus Freiburg-Bukarest, unser Ziel die
Karpaten. Ich war im Begriff mir meinen Wunsch zu erfüllen. Zu Fuß durch die
Karpaten, das hieß, 1500 Kilometer laufen, durch 3 Länder Europas: Rumänien, die
Ukraine und die Slowakische Republik.
Uli wollte mich auf den ersten vier Wochen durch die Südkarpaten begleiten. Fast
9 Jahre sind seit unserer ersten Reise verstrichen. Vieles hat sich verändert.
Das Wichtigste: Alle Gebirge der Erde sind für einen Bergwanderer aus dem Osten
Deutschlands erreichbar.
In Kanada, Neuseeland und Wales konnte ich genügend Trekkingerfahrung sammeln,
in der Volkshochschule lernte ich etwas Rumänisch und auch den bürokratischen
Teil meiner Vorbereitungen bewältigte ich mit Erfolg. Mein Rumänien-Visa galt
6 Monate, das der Ukraine 6 Wochen, für die Slowakische Republik brauchte ich
keins. Den Job hatte ich geschmissen und hoffte, mein Ziel bis zum Einbruch
des Winters, so Ende Oktober, erreicht zu haben.
400 Mark sollte Florin, der Busfahrer, zahlen, sonst würden die vier Zöllner
ihren Job mal gründlich machen, und den Bus für einige Stunden aus dem Verkehr
ziehen. „200 Mark kriegen die im Monat“, schimpfte mein Vordermann, ein Rumäne
aus Südbaden. „Jetzt verdienen die in einer Minute die Hälfte.“ Florin zahlte
angeblich aus der eigenen Tasche, um seinen Fahrplan einzuhalten, und wir
sammelten danach, um seinen Verlust auszugleichen - ich war wieder in Rumänien.
Die Löcher in der Straße wurden größer, dazwischen tummelten sich Fuhrwerke,
Schafe, Rinder, Hunde und Geflügel.
Arad, die erste Stadt nach der Grenze, wirkte wenig einladend. Die Wohnblocks
an der Straße sahen nicht so aus, als ob sie das Jahr 2000 miterleben dürften.
Wichtige Dinge an ihnen, wie Mörtel, Putz oder Fensterscheiben fehlten zum Teil.
Ich fragte mich, ob Letztere einfach vergessen wurden oder irgendwann einmal
rausgefallen sind.
Neben den Gleisen der Straßenbahn schliefen Zigeuner, Kinder hockten auf dem
Gehsteig, schnüffelten Klebstoff und an der Haltestelle standen Männer, Bündel
mit Geldscheinen in den Händen. Es waren 10 000 und 50 000 Lei Scheine, die
Währung Rumäniens.
„Immer erst die Lei geben lassen, nie umgekehrt!“, warnte mich der Badener, als
ich etwas Geld für den Anfang tauschen wollte. Das zweite Mal hielt der Bus in
Timișoara, unserer Endstation. Als Ausgangspunkt der Tour wählten wir
Sasca Română, ein Dörfchen am Rande der Banater Berge, wenige Kilometer
westlich der Nera-Klamm.
Der erste Tag auf meinen zurückliegenden Bergtouren gestaltete sich immer
folgendermaßen: aus einem Tal schindete ich mich hoch bis zum Kamm und war froh,
dass ich abends vorm Zelt sitzen konnte und meine Suppe löffeln durfte. Das
sollte auf diesem Marsch anders werden, und die Nera-Klamm bot eine
ausgezeichnete Alternative als Auftakt meiner Karpatendurchquerung. Die Nera
entspringt im Zentrum des Banater Berglandes, dem Semenic-Gebirge. Westlich des
Dorfes Șopotu Nou schneidet sie sich durch den Kalkstein des Anina-Gebirges,
und bildet die 18 km lange Klamm, die kurz vor Sasca Română endet. Von
dort sind es noch rund 30 km bis zu ihrer Mündung in die Donau.
Kurz hinter Sasca Română standen wir nun gebückt unter der Rucksäcke Last
und eingehüllt in eine Staubwolke, die der Dacia hinter sich ließ, nachdem uns
der Fahrer abgesetzt hatte. Jetzt, als es ernst wurde, fühlte ich mich nicht
gerade zum Bäumeausreißen. Uli schien es ähnlich zu gehen. Da drückte der
Rucksack, das würde er auch noch nach 1000 km, trotzdem ein guter Grund ihn
abzusetzen, die Teleskopstöcke hatten nicht die richtige Länge und die
Wasserflasche steckte auch noch nicht am rechten Platz. Als alles zu passen
schien, ein Blick auf die Uhr: Viertel vor fünf, es ging los...
Der Weg schlängelte sich durch Maisfelder, die jungen Pflänzchen warfen in der
Nachmittagssonne lange Schatten auf den Acker.
Bauern auf ihren Pferdekarren rollten uns entgegen. Ihr Hauptanbauprodukt ist
Mais. Er dient als Viehfutter und in Form von Maisbrei als rumänisches
Nationalgericht - die Mămăligă.
Wir folgten dem Pfad hinunter zum Fluss. Die Felder lagen hinter uns, vor uns
lagen bewaldete Hügel, aus denen ab und zu weiße Kalkfelsen herausschauten. Auf
den Wiesen am Ufer leuchteten Wicken, die uns bis an die Hüften reichten.
Vor 17 Jahren lief Uli schon einmal durch die Klamm. Er hatte einen
bemerkenswert, exakt ausgearbeiteten Plan, was die Tagesetappen unserer Tour
betraf. So wusste ich schon jetzt, wo ich in zwei Wochen schlafen, und was ich
zum Abend essen würde. Jede seiner Reisen plante Uli vorab bis ins Detail. Das
Interessanteste aber war die Tatsache, sein Plan funktionierte meistens nicht.
„Es wäre ganz gut, wenn wir es heute bis Damians Haus schaffen würden“, rief er
mir zu. „Damals brauchten wir zwei Stunden.“ Hinter besagtem Haus verengt sich
das Tal und die Klamm beginnt. Zwei Stunden verstrichen, kein Haus weit und
breit und meine Schultern wollten sich mit den Rucksackgurten nicht so recht
anfreunden. Drei gute Gründe, den ersten Tag mit einem Bad in der Nera ausklingen
zu lassen.
Als wir bis zum Mittag des nächsten Tages Damians Haus immer noch nicht entdeckt
hatten, konnte irgendetwas nicht stimmen. Wir befanden uns auf Abwegen, das war
klar. Wo wir uns im Moment befanden, war jedoch nicht so klar. Zum Glück hatte
ich vor meiner Abreise in einer Zeitschrift etwas über GPS gelesen. Ich setzte
meine „No-Problem-ich-habe-alles-im-Griff-Miene“ auf, und holte das kleine,
schwarze Wunderding aus dem Rucksack. Drückte auf „on“ und wartete. Als es nach
einer halben Stunde immer noch keine Satelliten entdeckt hatte, kam es zurück
in den Rucksack, weit nach unten. Wir einigten uns aufs Umkehren und fanden
tatsächlich den rechten Weg. Er war mit einem roten Band markiert, eigentlich
kaum zu übersehen. Genauso wenig wie der Typ in grüner Uniformjacke. Die
Nera-Klamm ist Nationalpark und der Mann war der Pförtner. Jeder
zahlte 3000 Lei, wir bekamen eine Quittung und durften passieren.
Die letzte Stunde bis Damians Haus, einem Bauernhof, war die reinste Quälerei.
Da wollte ich 1500 km durch die Karpaten wandern und hatte nach anderthalb Tagen
schon Blutergüsse auf den Schultern. Ich musste unbedingt Ballast abwerfen,
doch so einfach war das nicht. Das Essen war am schwersten, wurde aber von Tag
zu Tag leichter. Dann folgten die Karten. Meine Karten deckten den slowakischen
- sowie ukrainischen Teil der Karpaten komplett ab, den rumänischen Teil zu
etwa zwei Drittel. Für das restliche Drittel hatte ich Uli und meinen Instinkt.
Ich würde die ersten 3 Monate sicher mit einem Viertel der Karten auskommen und
musste mir für die Übrigen etwas einfallen lassen. Doch nicht hier und jetzt.
Im Moment mussten wir etwas trinken, unsere Wasserflaschen gaben schon eine
ganze Weile nichts mehr her. Gute Gelegenheit meine Rumänischkenntnisse zu
testen. „Haben Sie Wasser?“ fragte ich einen Mann, der eine Kuh hinter sich
über den Hof führte. Er deutete mit dem Kopf zur Nera und verschwand im Stall.
Trinkwasser aus der Nera? Das wollte ich meinem verwöhnten Magen dann doch nicht
antun. Die Kuh brachte mich auf eine Idee: „Und Milch?“ rief ich in Richtung
Stall. Ich solle um acht kommen, antwortete eine Frauenstimme. 2500 Lei wollte
die Frau des Hauses für einen Liter Milch. Ich kramte die Scheine aus dem
Rucksack und gab sie ihr. Sie überlegte kurz, gab mir das Geld zurück und
fragte nach Zigaretten. Ich rauche zwar nicht, hatte für solche Gelegenheiten
jedoch immer etwas im Gepäck. Ich gab ihr eine Schachtel. Sie ließ gleich den
ganzen Eimer da. „Nehmt den Rest morgen mit nach Șopotu Nou“, sagte sie
lachend und ging.
Wir liefen am nächsten Morgen, bis uns die Felsen stoppten. Jetzt begann das
Abenteuer. Den in Fels gemeißelten Weg benutzten vor uns römische Legionäre,
nach ihnen Waffenschmuggler und Soldaten. Ab und zu mussten wir auf allen
Vieren durch mehr oder weniger lange Tunnel kriechen. Die schwierigste Stelle
ist etwa 10 Meter lang. Am Fels baumelten vor sich hinrostende Stahlseile. Uli
balancierte an der Wand entlang und kam ohne Probleme rüber. Ich musste das
Stück dreimal laufen, da mein Rucksack zu hoch, und ich, mit der Kameratasche
vorm Bauch, zu dick war. Nach ein paar hundert Metern endete der Pfad am Ufer
der Nera, wir mussten auf die andere Seite des Flusses. Ich konnte ohne Probleme
auf Felsen kraxeln, mich durchs Dickicht schlagen und im Tiefschnee robben, vor
Flussdurchquerungen hatte ich jedenfalls Respekt. Bei so einer Aktion ging ich
mal gründlich baden, zerstörte mir mein linkes Knie und versenkte eine
2000-Mark-Kamera samt Objektiven.
Das Wasser reichte mir hier bloß bis zu den Knien und die Strömung war
erträglich. Weiße, kahle Felsen säumten die Nera, mal auf der Nordseite mal auf der
Südseite. Leider versperrten Sträucher und Bäume oft die Sicht auf den Fluss.
Die Nera erinnerte mich an die Paddelflüsse im Süden Frankreichs, ich würde sie
sicher noch einmal besuchen, mit einem Kanu im Gepäck. Schweigend folgten wir
dem Pfad, der nun immer am Südufer entlanglief und uns nach 6 Stunden aus der
Klamm, auf die Poiana Mielugului, die Lämmerwiese, führte. Lämmer gab es keine,
dafür jede Menge Pfefferminze. Wir konnten die Teebeutel im Rucksack lassen.
Der romantische Teil der Nera lag hinter uns, es folgte der praktische. Auf den
Wiesen links und rechts am Ufer, mähten die Männer Gras. Die Frauen rechten es
zu Haufen. „Wie weit ist es noch bis Șopotu Nou?“ fragte ich einen Opa,
der gerade seine Sense schärfte. „Noch 15 Minuten, bis zur Brücke“, sagte er.
Dann folgten die üblichen Fragen nach dem Woher und Wohin. Mit zwei Deutschen
hatte der Mann offensichtlich nicht gerechnet. „Germania? Jejejeje“, staunte er,
schüttelte mit dem Kopf und lachte. Seine oberen Zähne fehlten, da die unteren
jedoch doppelt so lang waren, machten sie die Lücke wett. Die Wiese, auf der er
arbeitete, war ziemlich groß. „Ein Gesetz, das die neue Regierung in diesem Jahr
verabschieden will, würde jedem 50 Hektar Land und 30 Hektar Wald zuerkennen,
vorausgesetzt die Eigentümer oder deren Erben, können den Besitz vor der
Agrarreform 1945 nachweisen“, erklärte er uns. „Bis jetzt waren es nur 5 Hektar.“
Ich konnte mit 50 Hektar nicht viel anfangen, überlegte und kam zu dem Ergebnis,
dass ich etwa 45 Minuten brauchen würde, um einmal drumherum zu laufen.
Noch weniger verstand ich, wie es möglich ist, Flächen von dieser Größe mit den
primitivsten Geräten zu bearbeiten. Landmaschinen hatte ich bis jetzt bloß in
den aufgelösten Kooperativen gesehen - verrostet und halb zerfallen. Mit dem
Gesetz halten sich die Herren aus der Politik selbstverständlich auch soziale
Unruhen vom Hals. Die Arbeit auf dem Acker lässt den Menschen keine Zeit, über
ihre besch... Lage nachzudenken und deswegen aufzumucken.
Nach einer viertel Stunde standen wir tatsächlich vor einer Brücke. Brücke war
eigentlich nicht das richtige Wort. Über knochenbleiche Bretter, die an zwei
Stahlseilen aufgefädelt waren, konnten wir den Fluss überqueren. Links und
rechts baumelten noch zwei Seile, zum Festhalten.
Șopotu Nou ist ein typisches Dorf in Rumänien. Schweine, Gänse, Kühe und
Pferde kamen uns auf der Straße entgegen, eine Frau wusch ihre Wäsche im Bach,
Männer mittleren Alters bastelten an einem Volkswagen rum und von den
Hinterhöfen drang Hundegekläff herüber. Unser nächstes Ziel lag bereits in den
Südkarpaten - das Godeanu-Gebirge. Ab dort wollten wir etwa 280 km nach Osten,
dem Kamm der Südkarpaten folgen, bis ins Prahovatal am Fuße des Bucegi-Massivs.
Ein Bus sollte 3 Uhr nachmittags bis Bosovic fahren, von dort hatten wir
Anschluss nach Herkulesbad. Da könnte ich dann auch mein „Gewichtsproblem“
lösen, indem ich ein Paket unnötiger Dinge zu Tudor schicken würde, einem
Freund in Nordrumänien. Am Straßenrand stand ein Bus, wir setzten uns daneben.
Da hier sehr selten etwas passierte, schenkten die Leute, besonders die Kinder,
jeder Neuigkeit besondere Aufmerksamkeit. Wir waren so eine Neuigkeit.
Mihai war 11 Jahre alt und Roma. „Wart ihr fischen?“ fragte er, nachdem er eine
Weile meine Teleskopstöcke betrachtet hatte. Ich versuchte ihm zu erklären,
dass ich die Stöcke zum Wandern nehme. Natürlich, mit etwas Talent im
Improvisieren, sind sie auch als Angelruten brauchbar. „Gibst Du sie mir?“
fragte Mihai, als ihm klar war, wozu die Dinger taugen. „Du brauchst sie doch
nicht mehr, bist doch fertig mit Wandern.“ Es brauchte etwas Geduld ihm zu
erklären, dass ich noch nicht fertig war. Dann führte er bessere Argumente ins
Feld: „Gibst Du mir einen? Du hast doch zwei. Ich muss jeden Tag so weit zur
Schule laufen.“
Jetzt war ich an der Reihe und ziemlich sprachlos. Das Argument leuchtete ein:
Wozu brauchte ich zwei Wanderstöcke? „ähm, ja ... das ist so...“
Wir begegneten uns einfach zu früh. Wäre ich die Tour in der anderen Richtung
gelaufen und die Nera-Klamm mein letzter Teil, hätte ich ihm die Stöcke in die
Hand gedrückt. Aber jetzt wollte ich mich noch nicht von ihnen trennen. Zum
Glück gesellten sich seine beiden kleineren Geschwister dazu und brachten Mihai
erst einmal auf andere Gedanken. Aber nicht für lang, die Stöcke faszinierten
ihn nach wie vor. Erst als ich alle drei mit Müsliriegel versorgt hatte, durfte
ich meine Stöcke behalten.
Der Bus fuhr zwar um 15 Uhr, aber nicht in unsere Richtung. Uns blieb nichts
weiter übrig, als zu trampen. Wir wurden zweimal abgesetzt und stiegen in
Herkulesbad im Hotel Roman ab.
Eine Schotterstraße führte von Herkulesbad zum Cerna-Stausee, der sich an die
Ausläufer des Godeanu-Gebirges schmiegte, unserem nächsten Abschnitt. 25
Kilometer waren es bis dorthin, nicht viel, verglichen mit dem was noch vor mir
lag, aber langweilig. „Nehmen wir ein Taxi“, schlug Uli vor. „Dann hätten wir
den verlorenen Tag in der Nera-Klamm wieder raus.“ Die Idee gefiel mir.
Das Taxi ähnelte den Häusern in Arad. Zwar fehlte noch nichts Wichtiges, doch
das konnte sich ändern. Meine größte Sorge bestand darin, unseren Fahrer zu
verlieren. Er lenkte mit der rechten Hand, die Linke hielt die Fahrertür fest,
die sich dauernd öffnete. Sein Fahrzeug war vermutlich nicht für Überlandfahrten
ausgelegt. Dreimal erkundigte er sich bei Straßenarbeitern, ob er bis zum
Stausee fahren könne.
Am Stausee angekommen, fiel dem Mann ein Stein vom Herzen, keinen Meter wäre er
weiter gefahren. Uns ärgerten bereits wieder die Rucksäcke, als er noch immer
über seinen Wagen gebeugt, den Motor inspizierte. „Ob er's zurück schafft?“,
fragte ich mich.
Die Forststraße führte noch ein gutes Stück am See entlang. „Wo der Ivanul-Bach
in den Stausee mündet, müssen wir abbiegen“, meinte Uli.
Wir waren nicht die Einzigen, die in diesem Frühjahr aufstiegen. Zwei Hirten mit
ihren Schafen, Eseln und Hunden hatten den gleichen Weg, jedoch mehr Zeit. „Ist
noch zu früh“, sagte einer. Der 21. Mai, ein orthodoxer Feiertag, galt offiziell
als Tag des Almauftriebs in den Karpaten. Da der Winter sehr viel Schnee brachte,
ließen die Hirten ihre Tiere noch im Schutz des Waldes weiden. Hier war das Gras
besser als auf den Almen, die um diese Jahreszeit noch deutlich über der
Schneefallgrenze lagen. Als es schon dämmerte, suchten wir uns einen Platz zum
Schlafen und bauten das Zelt auf. Die Schäfer lagerten ein Stück weiter unten,
sie hatten kein Zelt, brauchten auch keins. Sie entfachten ein Feuer, das
vermutlich morgen noch brennen würde, und hüllten sich in ihren
Țundră, den Schafspelz. Die Schafe wärmten sich gegenseitig.
Gegen Mittag des nächsten Tages erreichten wir den ersten 2000-Meter-Sattel
unserer Tour, vor uns lag eine Stâna, eine Hirtenstation. Sie war noch nicht in
Betrieb. Schnee und Wolken bedeckten den Godeanu-Gipfel, nachdem das Massiv
benannt wurde. Ein kalter Nordwestwind blies uns entgegen, die Sicht war
trotzdem gut. Am Horizont reihten sich die schneebedeckten Gipfel des
Retezat-Gebirges, dort wollten wir hin.
Wie würde es auf dem Karpatenkamm Ende Mai aussehen? Würden wir durchkommen,
oder lag noch zuviel Schnee? Die beiden Fragen bewegten mich schon Monate vor
der Tour. Jetzt, als ich hier oben stand und den Blick über den Hauptkamm bis
zum Retezat schweifen ließ, hatte ich meine Antwort. Bis auf vereinzelte
Schneefelder war der Kamm frei. Es müsste klappen, vorausgesetzt das Wetter
schlug nicht um.
Es schlug - hart, kräftig und unter die Gürtellinie. Drei Forderungen stellte
ich in der Regel an einen Schlafplatz: windgeschützt, bequem und Wasser sollte
in der Nähe sein. Der Heutige erfüllte keine. Während ich das Zelt aufbaute,
durfte ich es nicht loslassen, der Wind hätte es geschnappt und wir hätten es
aus dem Cerna-Stausee fischen können. Um sicher zu gehen, beschwerte ich die
Abspannschnüre und den Rand mit Steinen. Es hatte eine leichte
Schräglage, sodass wir im Schlafsack immer wieder nach unten rutschten
und zum Kochen mussten wir Schnee schmelzen.
Gegen Mitternacht wurde ich wach, irgendetwas war anders als sonst. Ich hörte
Uli nicht mehr schnarchen - draußen tobte ein Sturm. Im Abstand von wenigen
Sekunden donnerte eine Bö nach der anderen gegen die Breitseite des Zeltes. Das
Gestänge bog sich gefährlich unter der Wucht des Windes, jedes Mal tanzte der
Nylonstoff über meiner Nasenspitze und auf meinen Füßen lag etwas Schweres. Ich
trat gegen die Zeltwand, Schnee rutschte nach unten, Kondenswasser tropfte auf
den Schlafsack. Ich blieb liegen und hoffte, dass die Abspannungen hielten und
ich nicht raus müsste. Erst der obligatorische Druck im Dickdarm trieb mich am
Morgen aus dem Schlafsack. Die Rucksäcke unter der Apsis bedeckte eine fünf
Zentimeter dicke Schneeschicht.
Draußen war alles weiß, wie im tiefsten Winter, der Sturm tobte noch immer. Wir
blieben im Zelt. Erst zum Abend ließ der Wind etwas nach, in der Nacht war es
ruhig. „Was sollen wir machen?“ fragte Uli. Da keiner Lust hatte, sich noch
einen Tag im Zelt zu langweilen, einigten wir uns aufs Weiterlaufen.
Das war falsch. Kaum hatten wir unsere Siebensachen in die Rucksäcke gestopft
und jeder etwas Müsli runtergewürgt, ärgerte uns Zamolxis, der Dakergott, mit
neuen Sturmböen. Den Oberkörper nach vorn gebeugt, stemmten wir uns gegen die
Naturgewalten. Wir sahen nichts. Oben und unten, vorn und hinten, links und
rechts alles weiß. Harte Eiskristalle stachen ins Gesicht und verklebten die
Nasenlöcher. Mein Rucksack wurde hin und her gerissen, ich kam mir vor wie ein
Testkörper im Windkanal. Aber das Schlimmste war - wir hatten völlig die
Orientierung verloren. Das GPS funktionierte nicht, irgendetwas hatte auf den
Einschaltknopf gedrückt, während es im Rucksack lag. Die Batterien waren leer.
Über den Boden peitschte der Sturm, hier das Zelt aufzubauen schien unmöglich,
der Wind hätte es in Fetzen gerissen. Vor etwa 200 Metern passierten wir einen
kleinen Geröllberg, dahinter könnte man vielleicht Zelten. Wir liefen zurück,
glaubten es zumindest. In Wirklichkeit liefen wir nur im Kreis. „Jetzt nur nicht
den Kopf verlieren“, sagte ich mir. Der Wind kam von Nordwesten, der Kamm lief
leicht nach Nordosten. Wir spürten den Wind auf der linken Wange und auf dem
Boden hatte er feine, scharfe Grate in den Schnee geschliffen, zu denen wir im
rechten Winkel liefen. „Wir müssen uns um 180 ° drehen, sodass wir wieder im
rechten Winkel zu den Graten laufen, nur den Wind auf der rechten Wange spüren“,
rief ich Uli zu. Es klappte, nach wenigen Minuten standen wir auf dem Geröllberg.
Uli buddelte Steine aus dem Schnee, ich packte sie, als Ballast, auf den Zeltrand.
Wir krochen hinein, und wieder begann der langweilige Rhythmus eines ungewollten
Zeltaufenthaltes: Essen, schlafen, ab und zu rausgucken, obwohl nichts zu sehen
war, und im Hinterkopf quälten einen immer Gedanken, wie: „Hoffentlich hält das
Zelt“, aus denen sich mit der Zeit die reinsten Horrorvisionen entwickelten.
„Was tun, wenn das Gestänge bricht oder das Nylon reißt und alles
selbstverständlich in der Nacht.“ Unter diesen Bedingungen konnten wir unsere
Tour nicht fortsetzen, wir zogen die Rettungsleine - morgen wollten wir absteigen.
Der Schnee türmte sich früh über einen Meter um unser Zelt, es stand jetzt
erdbebensicher. Eine drei Zentimeter dicke Eisschicht umgab die Spannschnüre,
und meine Schnürsenkel waren gefroren.
„Ich bin so aufgeregt, dass ich kotzen könnte“, rief Uli. Ich hätte mein Gefühl
nicht treffender zum Ausdruck bringen können. Wir wählten für den Abstieg die
Nordseite, so weit wir einschätzen konnten, ging es hier nicht so steil abwärts
wie auf der Südseite. Unsere Talfahrt ähnelte nicht im Geringsten den Abstiegen,
die ich aus Heldenepen à la Messner & Co kannte. Durch knietiefen Schnee, teils
stolpernd, teils auf dem Hintern rutschend, bewegten wir uns talwärts. Bald
lagen die Wolken über uns, und wir sahen endlich, wie es ringsherum aussah.
Unter uns, in einem Kessel, rauschte ein Gebirgsbach, von Osten kommend. Er
vereinte sich mit einem anderen Bach, der in mehreren Kaskaden eine Nordwand zu
unserer Linken hinunterstürzte und verschwand in einem Tal, das nach Norden
führte. Wir folgten dem Bach und stießen nach rund 3 Stunden auf einen Kuhfladen.
Das war ein gutes Zeichen. Hatten Hirten ihre Kühe hier hoch getrieben, musste
es auch runter gehen. Kaum begrüßten uns die ersten Tannen und Fichten,
entdeckten wir einen Pfad, der uns zu einer Hütte mitten im Wald führte. Innen
stapelten sich Holzscheite, die Kochecke war mit Steinplatten ausgelegt, ein
Loch im Dach diente als Rauchabzug und auf einem Reisiglager konnten 3 bis 4
Personen schlafen. Vermutlich diente die Hütte den Hirten während des Almauf-
bzw. -abtriebs als Unterkunft.
Wir konnten uns aufwärmen und unsere Sachen trocknen. Das Zelt glich einem
eingeweichten Wischtuch. Ich spannte ein Stück Schnur zwischen zwei Fichten und
hing es drüber. „Made by Carin Karlsson“, las ich auf einem Schildchen unter der
Apsis. Ich hätte Carin am liebsten einen Brief geschrieben. Ihr Zelt hatte uns
nicht im Stich gelassen, saubere Arbeit, vielen Dank Carin.
Später erzählte mir ein Rumäne, dass zur gleichen Zeit zwei Wanderinnen im
Bucegi Massiv erfroren sind.
Uli legte inzwischen Feuer. Der Rauchabzug wollte nicht richtig arbeiten, der
Qualm entwich aus allen Ritzen in den Wänden. Wir fühlten uns wie Aal in der
Räucherkammer.
Einen halben Tag lang mussten wir uns noch durchs Gestrüpp kämpfen, über
Baumstämme klettern und von einem Wildwechsel zum nächsten stolpern, ehe uns
Hirsch- und Bärenspuren zu einem von Ceaușescus Energieprojekten führten.
Der Gura Apei-Stausee ist eine Baustelle, obwohl auf meiner zehn Jahre alten
Karte, bereits als fertig eingezeichnet. Trotzdem taugte der blaue Fleck, um
sich zu orientieren und ein neues Ziel abzustecken. Das Retezat-Gebirge mit
seinen 2500 Meter hohen Gipfeln dürfte für mindestens eine Woche allein den
Gämsen gehören.
Wir entdeckten einen anderen Punkt. Vom Stausee führt eine Straße nach
Hațeg, östlich der Stadt erstreckt sich das Șurean-Gebirge und
mittendrin, auf dem Grădești-Berg 1200 Meter über dem Meer, liegt
die alte Hauptstadt der Daker - Sarmizegetusa.
44 v. Chr., mit seinem Tod hinterließ König Burebista den Dakern ein Reich, das
sich von der heutigen Tschechischen Republik bis Bulgarien erstreckte. Über
dieses Reich zu herrschen, es zu vergrößern und gegen Feinde zu verteidigen
oblag seinem Nachfolger - Decebal. Feinde hatte er mehr als ihm lieb war, sie
hockten bereits in halb Europa - die Römer.
Etwas mochten die Cäsaren überhaupt nicht: einen starken, kriegerischen Nachbarn,
der ab und zu ihre Legionen verdrosch und noch dazu über ein Land herrschte,
dass Gold besaß. Der Streit war vorprogrammiert und eskalierte im Jahre 106, als
Trajan mit seinen Legionen gen Norden über die Karpaten zog, die Daker schlug,
und das Land als Provinz Dacien dem Römischen Reich einverleibte. Die Hauptstadt
der Daker, Sarmizegetusa, wurde zerstört und geriet in Vergessenheit.
Das Erste, auf das wir stießen, war eine Mauer, mit Moos bewachsen und recht gut
erhalten. Sie schützte die Menschen im Zentrum des Ortes mit seinen Wohnhäusern,
Tempeln und Heiligtümern. Jetzt übernimmt den Schutz ein Wächter, sein Hund und
die UNESCO. Jeden Tag kommt der Mann vom Weiler Grădiștea de Munte
die 8 km auf den Grădești-Berg, im Sommer mit dem Rad im Winter
auf Skiern. Er zeigte uns Reste der Kanalisation, Steine, auf denen die Daker
ihren Göttern Zamolxis und Gebeleizis Opfer darbrachten, sowie Säulenstümpfe,
die wie Pilze aus dem Boden ragen und vermutlich als Kalender benutzt wurden.
An einer Böschung hockte er sich hin und klaubte etwas aus dem Dreck, streckte
uns seine Hand entgegen, dort lagen etwa ein Dutzend verkohlte Weizenkörner -
fast 2000 Jahre alt.
Ein Gewitter beendete unseren Besuch in Sarmizegetusa. Die gesamte Siedlung zu
besichtigen wäre sowieso unmöglich, sie erstreckt sich immerhin über eine Fläche
von 150 Quadratkilometer. Selbst auf den benachbarten Bergen fanden
Wissenschaftler Gebäudereste.
Laut Plan müssten die Südkarpaten bereits Geschichte sein, stattdessen schleppte
ich mich den Südhang des Retezat-Gebirges hinauf. Zwei Dinge fehlten: der Schnee
(geschmolzen) und Uli (zu Hause). Ich saß vor einem Tümpel im Plaiu Mic-Sattel,
spülte meinen Nudeltopf und im Kopf wirbelten die letzten Tage durcheinander.
Zwei Wochen dauerte unsere Zwangspause. Wir wurden vom Regen eingeweicht,
besuchten Freunde und einige Klöster in der Bukowina, die mir immerhin das
Gefühl gaben, die Zeit nicht sinnlos vergeudet zu haben. Zwei Wochen, das
entsprach einer Strecke von fast 300 Kilometern, die ich weiter im Osten sein
müsste. Doch wo war ich? Ungefähr eineinhalb Tage von der Stelle entfernt, wo
uns der Sturm davonjagte. Ab jetzt musste alles wie am Schnürchen laufen, ging
noch einmal etwas daneben, würde ich die Donau im Herbst nicht mehr sehen.
Der Nudeltopf blitzte inzwischen, meine Hände ebenfalls. Ich steckte sie in die
Taschen meiner Fleecejacke und suchte die beiden höchsten Berge des Retezat-Gebirges;
Vârful Peleaga (2509 m) und Vârful Păpușa, die Puppe (einen Meter
kürzer), drängelten sich am Horizont. Den Namensgeber des Gebirges, Vârful
Retezat, konnte ich von hier oben nicht entdecken. Eigentlich war er nicht zu
übersehen, als nördlicher Eckpfeiler des wissenschaftlichen Reservats Gemenele
erinnert der Berg an einen Haremswächter. Und wie jenem fehlt auch ihm das
Wichtigste - der Gipfel. Die Hirten gaben ihm deshalb auch den passenden Namen:
Retezat, auf Deutsch - abgeschnitten.
Das 1630 Hektar große Reservat Gemenele ist Teil des Retezat Nationalparks, es
wird von der rumänischen Akademie der Wissenschaften betreut und ist für den
gemeinen Wanderer tabu.
Am 22. März 1935 wurde der Nationalpark Retezat gegründet, der erste
Nationalpark Rumäniens. Auf einer Fläche von 540 Quadratkilometern beherbergt
der Park die meisten 2000er sowie die meisten Gebirgsseen der Karpaten,
Meeraugen genannt, Überbleibsel abgeschmolzener Gletscher der letzten Eiszeit.
Der Größte unter ihnen heißt Bucura, was „sich freuen“ bedeutet. Die Sonne tat's
ebenfalls, rund und hell lachte sie mich an und auch ich war zufrieden, immerhin
hatte ich für die Etappe wesentlich mehr Zeit veranschlagt. Vor einer Hütte,
die dem Salvamont (rumänische Bergwacht) gehörte, fädelte ich mich aus dem
Rucksack, setzte mich und stopfte ein paar Brotkrümel in den Mund. Auf einem
Zettel, der mit einem Messer an die Tür genagelt war, stand: „Bin bei der
Buta-Hütte“. Gestern kam ich dort vorbei, an die Hütte erinnerte nur noch ein
verkohlter Haufen Holz.
Gewöhnlich brennen die Berghütten in den Karpaten über Silvester ab, die
Buta-Hütte hat es später erwischt. Der Grund war vermutlich der gleiche, die
Lieblingsbeschäftigung der Rumänen - Feuer machen. Selbst auf dem
Făgăraș-Kamm, wo es außer getrocknetem Schafsmist nichts
gibt, was brennen würde, begegneten mir Wanderer mit Äxten im Gepäck.
Die nächsten Stunden waren anstrengend. Über einen schmalen Grat und lockere
Geröllbrocken kraxelte ich auf den höchsten Berg im Retezat, die Peleaga. Es
war mein erster 2500-Meter-Berg. Zweitausendfünfhundert Meter, das sind für die
Karpaten schon eine beachtliche Höhe, wenn ich mir überlege, dass der höchste
Berg, die Gerlsdorfer Spitze in der Hohen Tatra, 2655 m misst.
Oben angekommen teilte ich den Platz neben dem Steinmann, der den Gipfel
markierte, mit einer Gruppe Tschechen. Ihnen kam ich sehr gelegen, durfte ich
doch gleich von allen ein Gipfelfoto machen. Ich blieb noch ein Weilchen auf
dem Gipfel und sah den Tschechen beim Abstieg zu, als sie zu winzigen bunten
Punkten geschrumpft waren, stieg ich auch nach unten. Über das Valea Rea-Tal
ging es zum Galeș-See. Laut Uli sollte es dort von Forellen nur so
wimmeln. Das Einzige was wimmelte waren kleine schwarze Fliegen, nicht mal ein
mickriger Stichling zeigte sich. Bei dem Namen kein Wunder, Lacul Galeșul
hieß der Schmachtende See. Ich holte meinen Juwel-Kocher raus und machte Wasser
heiß für einen Tee.
Morgen würde ich das Gebirge verlassen. Aber auf welchem Weg? Es gab zwei
Möglichkeiten: Über die Baleia-Hütte nach Lupeni und weiter nach Petroșani
oder über die Pietrele-Hütte nach Ohaba de sub Piatră. Von Lupeni aus
hatte ich es näher zu meinem nächsten Abschnitt, dem Parâng-Gebirge. Allerdings
ereilte die Baleia-Hütte das gleiche Schicksal wie die Buta-Hütte. Von Ohaba
war es zwar weiter bis zum Parâng, dafür gab es in der Pietrele-Hütte sicher
Bier. Ich entschied mich für das Bier. Von Ohaba bis Petroșani könnte
ich mit der Bahn fahren.
Inzwischen kochte das Wasser, ein Teil der Fliegen war in den Topf gefallen und
ersoffen. Ich hing die Teebeutel dazu und beobachtete, wie das Wasser langsam die
Farbe wechselte. Auch der Himmel verfärbte sich, anfangs goldgelb später orangerot.
Die Bergspitzen glühten ein letztes Mal auf, dann war es finster.
Am nächsten Mittag um halb zwölf erreichte ich die Hütte. Ich bekam mein Bier
und hockte mich unter ein Schild auf dem stand, dass Campen am Galeș-See
verboten sei und mit 50 000 Lei bestraft werden konnte. Das galt vermutlich nur
für Einheimische, dachte ich mir. Einem Ausländer hätte man sicher Devisen
abgeknöpft oder den Kopf abgerissen. Ein schlechtes Gewissen hatte ich nicht.
Zum Glück brauchte ich nicht den ganzen Weg bis Ohaba laufen, kurz vor einem
Dorf, das Nucșoara hieß, hielt ein gelber Dacia. An der Bahnstation in
Ohaba wurde ich abgesetzt, wo mir der Zug nach Petroșani vor der Nase
wegfuhr.
„Sie können dort unten am Fluss ihr Zelt aufbauen“, sagte die Dame von der
Bahnstation. „Dort finden sie auch schon Feuerstellen. Suchen sie sich den
besten Platz aus.“ Ich fand ihn zwischen Bahndamm und Strei-Fluss, glaubte es
zumindest. Dass meine Wahl ziemlich ungeschickt ausfiel, merkte ich gegen
Mitternacht. Es krachte einige Male, Tropfen und Hagelkörner rollten die
Zeltwand runter und um mich herum schossen Blitze nieder, dass es im Zelt
taghell wurde. Damit konnte ich leben, ersparte mir das lästige Suchen nach der
Taschenlampe, wenn ich wissen wollte, wie spät es war. Als der Regen nach zwei
Stunden stärker wurde, fing ich an, mir Sorgen zu machen. Ein Gedanke biss sich
penetrant in meinem Hirn fest: So ein Fluss könnte sich ja innerhalb kurzer
Zeit in einen reißenden Strom verwandeln. Gespannt lauschte ich dem Rauschen des
Wassers, suchte schließlich doch die Lampe und schaute jede halbe Stunde nach
draußen. Zum Glück dachte der Strei überhaupt nicht daran, sein Bett zu
verlassen und bald darauf ließ auch der Regen nach, nicht jedoch der Zugverkehr
auf der anderen Seite. Immer wenn einer auf meiner Höhe war, vibrierte die
Isomatte.
Noch etwas benommen kletterte ich am nächsten Morgen in den Zug nach
Petroșani. Im Abteil saßen Bauern mit ihrer Feldhacke, ein Soldat starrte
aus dem Fenster und mir gegenüber saß eine Omi, auf ihren Knien stand ein
Karton, in dem es piepste. Küken die sie auf dem Markt in Petroșani
verkaufen wollte. Ab und zu steckten bettelnde Zigeuner den Kopf durch die Tür,
klimperten mit ein paar Münzen oder zeigten die mit Geschwüren bedeckten Arme
und Beine. Verschwanden jedoch meistens ohne Lei, um ihr Glück im Nachbarabteil
zu versuchen, bis sie der Schaffner an der nächsten Station rausschmiss. Im
Gang standen die Raucher, blaugrauer Dunst der Marken Snagov und Carpați
sammelte sich unter dem Dach. Das Beste aber war die Toilette, auf dem
Brillenrand klebte die Ladung meines Vorgängers und auf dem Boden gärte der Urin
einer Generation Reisender. Für Frischluft während der Fahrt sorgte die
geöffnete Wagontür.
Nach zwei erfolglosen Versuchen, in einer Bank Geld zu tauschen, verließ ich
Petroșani auf der Nationalstraße 7A, in Richtung Parâng-Gebirge. Ich
brauchte den ganzen Tag, um nach oben zu kommen und war stolz, mancher schaffte
es sein Leben lang nicht.
Unterhalb eines Gipfels der Parângul Mic hieß, traf ich Christie mit seinem
Vater, 200 Schafen und 5 Karpatenschäferhunden. Genau genommen machte ich mit
den Hunden zuerst Bekanntschaft. Kläffend und mit gefletschten Zähnen stürzten
sie auf mich los, stoppten ein paar Meter neben mir und begleiteten mich runter
zu den Hirten. Erst ein Hagel von Flüchen, die ich nicht verstand und ein
Hirtenknüppel schien sie davon zu überzeugen, dass ich weder Bär noch Wolf war
und auch keine Schafe klauen wollte. Die 200 Schafe gehörten Christies Vater
und darauf war er stolz. „Die meisten Hirten in den Karpaten sind nur angestellt“,
sagte er. „Die Schafbesitzer holen bloß den Käse, um ihn auf dem Markt zu
verkaufen.“ „Du willst hier oben zelten?!“ Christie wollte es kaum glauben.
„Gestern hatten wir einen Hagelsturm, der uns fast vom Kamm fegte“, bestätigte
sein Vater. Als die beiden merkten, dass es mir mit dem Zelten ernst war,
führten sie mich zu einer kleinen Mulde an der Südseite des Berges. „Hier ist
es nicht so windig“, sagte Christie. Während ich das Zelt aufstellte,
überschüttete er mich mit Fragen.
„Ist das Zelt wasserdicht?“
„Hält es dem Wind stand?“
„Aus welchem Material ist das Gestänge?“
Dass es aus Aluminium war, wollte er mir nicht recht abnehmen. Wie und was so
einer wie ich im Gebirge aß, interessierte ihn natürlich ebenfalls. Ich holte
meinen Kocher raus und machte wieder mal die Spezialität des Hauses - Spaghetti
und Tütensuppe. Die Suppe missriet mir, „... in 1/2 Liter kaltes Wasser
einrühren ...“, stand auf der Verpackung - meines kochte bereits 5 Minuten.
Christie konnte ich nicht überzeugen, mit mir zu Abend zu essen. Sein Vater
zeigte mir den Weg, den ich morgen gehen müsste. „Wenn das Wetter schlechter
wird, kannst du zu uns in die Stâna kommen“, sagte er zum Abschied. Dann
verschwanden sie mit der Herde in den aufziehenden Wolken. Nur einer der Hunde
leistete mir noch Gesellschaft. Als es dunkel wurde, trollte auch er sich.
Leider wurde das Wetter nicht schlechter, ich hätte sonst was drum gegeben, eine
bewirtschaftete Hirtenstation von innen zu sehen.
Die meisten Zweieinhalbtausender auf der Tour waren stattliche Berge, die mir
ordentlich den Schweiß aus den Poren trieben. Parângul Mare, war eine
Enttäuschung. 2518 Meter las ich auf einem Blechschild, das den Gipfel
markierte, und kam mir veralbert vor. Ohne das Schild hätte ich es gar nicht
mitbekommen, aber ich stand auf dem fünfthöchsten Berg der rumänischen Karpaten.
Der von Süden und Westen sanft ansteigende Grashaufen fiel nach Norden steil ab,
und das ganze Massiv tat es ihm nach.
Meine Schuhe rutschten über glatte Steine, stolperten über tiefliegende Äste von
Latschenkiefern und stoppten abrupt an einer Stelle, die aussah, als ob jemand
mit einer Handvoll Wald Mikado gespielt hatte.
Die Lawine hatte eine Schneise von etwa 60 m in den Wald geschlagen. Das Wirrwarr
endete in einem Bachbett, genau an der Stelle, wo der Pfad den Bach überquerte.
Von einem Steg gab es keine Spur mehr. Unglücklicherweise war der Bach zu breit,
um drüberzuspringen und zu reißend, um durchzuwaten. Ich löste das Problem,
indem ich mich rittlings über einen Baumstamm schob, der von meinem Ufer bis zur
Mitte des Baches ragte. Dort war er abgebrochen, aber nebenan, etwas tiefer,
lag das Ende eines zweiten Stammes, der auf die andere Seite führte. Es war nicht
einfach von einem Baumstamm auf den anderen zu kriechen. Ich fühlte mich wie
ein kleiner Junge auf einer Wippe, wenn man oben hockt und mit den Beinen in der
Luft rudert, weil auf der anderen Seite Zwei sitzen um einen nicht runter zu
lassen. Drüben angekommen ähnelte ich einem gefoulten Fußballspieler. Die Knie
waren dreckig, das linke Schienbein blutete und in die Hose hatte ich mir ein
Loch gerissen.
Ich erweckte somit nicht den besten Eindruck, als ich die Cabana Obârșia
Lotrului betrat. Dennoch bekam ich mein Bier. Das entschädigte mich für die
Plackerei der letzten Stunden und machte den Aufstieg ins Lotru-Gebirge leichter.
In mühevoller Kleinarbeit sammelte ich auf meinen früheren Rumänienreisen jede
Wanderkarte, die mir in die Hände fiel. Die Folge war, ich besaß von fast jedem
Massiv in den Südkarpaten eine Karte. Es fehlte nur eine - das Lotru-Gebirge.
Den Aufstieg zeigte noch meine Parâng-Karte, er war mit rotem Kreuz markiert.
Mit dem Kartenende endete auch die Markierung, tauchte ab und zu noch mal auf
und verschwand schließlich gänzlich.
Ich schob mir einen Power-Riegel zwischen die Zähne, lief querfeldein durch
Tannen, Fichten, Farn und Wacholderbüsche und landete auf einer Forststraße, an
der drei Häuser standen. Eins schien bewohnt, ich hörte Hundegebell, das Zweite
war ein Stall, das Dritte war nur noch Attrappe. Hinter der halbgeöffneten Tür
des Stalls stand eine Kuh, die von einem Jungen gemolken wurde. Ich erfuhr, dass
dieser Ort der Weiler Șteflești sei und der nächste Weg auf der
linken Seite ins Zibins-Gebirge führt.
Das Lotru-Gebirge endet im Tal des Olt, neben der Donau, der einzige Fluss, der
die Karpaten durchbricht. Von dort hätte ich ins Făgăraș-Gebirge
aufsteigen können. Da sich jedoch mein Nudelvorrat dem Ende neigte, wählte ich
den Weg übers Zibins-Gebirge. Ich verjagte die Kribbelmücken von meinen
Handgelenken und lief los nach Sibiu, der Hauptstadt Transsilvaniens.
Dunkelgraue Gewitterwolken sammelten sich hinter der Röm.-kath. Kirche. Kurz
darauf trommelten die ersten Tropfen an die Fensterscheiben meines Zimmers am
Piata Mare, im Zentrum von Sibiu.
Ich humpelte zurück zum Bett, es war hart und verbeult wie eine transsilvanische
Dorfstraße. Porcule, der Hauskater, hatte mir soeben mein letztes Stück
Hermannstädter Salami geklaut. Mir wollte es noch immer nicht in den Kopf,
draußen tobte das Leben und ich sollte meine Tour nicht mehr fortsetzen können.
Vorgestern Mittag: ich lehnte meinen Rucksack an den Pfahl eines Wegweisers und
nagte an einem Schokoriegel. Der Gipfel des Cindrel spendete Schatten, die Sonne
zeichnete Lichtreflexe auf den Iezerul Mare-See, tief unter mir. Trotz des
Sommerwetters wehte ein frischer Wind, der mir zu sagen schien „Los beweg dich!
Pause kannst Du woanders machen“. Ich folgte seinem Rat, packte den Rucksack und
wollte ihn mit einem heldenhaften Schwung auf meinen Rücken befördern, blieb mit
der Unterkante des Rucksacks an der Kniescheibe meines rechten Knies hängen und
riss mir diese nach oben. Ein stechender Schmerz bohrte sich bis ins Mark. Der
Rucksack fiel zu Boden, ich folgte ihm.
Es dauerte eine Weile bis mir klar wurde, was passiert war. Das man sich beim
Aufheben des Rucksacks außer Gefecht setzen konnte, hätte ich noch vor wenigen
Sekunden für Unsinn gehalten. Nun half auch alles Schimpfen und Fluchen nichts,
ich hatte mich angestellt, wie ein Idiot, ein Anfänger, einer der noch nie in den
Bergen war. Und „klatsch“, schon hatte ich meine symbolische Ohrfeige bekommen.
Vorsichtig tastete ich das Knie ab, versuchte es zu beugen, es klappte. Auf
meine Stöcke gestützt rappelte ich mich auf und ging ein paar Schritte. Wenn ich
das Bein nicht zu stark belastete, konnte ich laufen.
Bis Păltiniș waren es etwa 6 Stunden, ich wollte laufen, soweit es
ging. Hier zu bleiben und abzuwarten hielt ich nicht für sinnvoll, wenn sich mein
Zustand verschlechtern würde, käme ich überhaupt nicht mehr weiter. Schritt für
Schritt humpelte ich in Richtung Păltiniș, von dort konnte ich mit
dem Bus nach Sibiu fahren. Mein Knie ähnelte mittlerweile einem gefüllten Wassersack.
Jetzt saß ich im Gästezimmer von Elena*, einer Dame Anfang 60, die mit ihrem
Sohn Nicu* und bereits erwähntem Porcule, in einem Haus am Großen Platz in Sibiu
wohnte. Wenn sich die Gelegenheit bot, vermietete sie ein Zimmer an Touristen,
da sie neben ihrer Familie auch das Geld liebte.
Neugierig schaute ich zu, wie mir Dr. Ciorteach, ein Mann Ende fünfzig, zum
siebenten Mal eine Flüssigkeit mit dem Namen Boicil Forte ins Knie spritzte.
„Acht Wochen sollten Sie das Knie nicht belasten“, sagte der Doktor, während er
die Nadel herauszog. Ich glaubte, nicht richtig zu hören. Da hätte man mir auch
Geld und Papiere stehlen können, es wäre nicht deprimierender gewesen. In zwei
Wochen kommen Michael und Hans-Jürgen, zwei Freunde, nach Brașov, um
mich für ein paar Wochen auf meinem Trip zu begleiten. Im Moment sah es nicht
so aus, als ob ich überhaupt noch mal einen Fuß in die Berge setzen würde.
Nach einer knappen Woche war die Schwellung fast verschwunden, nur mit dem
Laufen klappte es noch nicht richtig. Es tat noch weh. Der Arzt war trotzdem
zufrieden und brauchte nur noch jeden zweiten Tag zu kommen, um mir Spritzen zu
geben. „Es ist ein guter Arzt“, bemerkte meine Vermieterin. „Es gibt nur drei
Ärzte in Sibiu, die so was behandeln können. Du hattest Glück, dass Du nicht ins
Krankenhaus musstest.“ Dann erzählte sie mir, wie es in Rumäniens Krankenhäusern
zugeht.
Über eine Pflichtversicherung, wie in Deutschland, wird in Rumänien zwar
geredet, aber noch gibt es sie nicht. Nur Rentner haben eine Teilversicherung,
die 75 Prozent der Kosten trägt. Jeder andere zahlt den Aufenthalt im
Krankenhaus aus eigener Tasche, und man lässt ihn sich gut bezahlen. Die Löhne
sind gering, ein Arzt verdient etwa 100 Dollar im Monat - Korruption steht an
der Tagesordnung vom Chefarzt bis zur Putzfrau. So kümmert sich das Pflegepersonal
nicht ordentlich um die Patienten, macht z.B. nicht sauber, wenn ihm nicht hin
und wieder etwas Geld zugesteckt wird. Verpflegt werden die Patienten meist von
ihren Angehörigen. Und wer nicht zahlen kann, wird nicht behandelt, lediglich
Erste Hilfe ist kostenlos.
Tag für Tag schlich vorüber, am Vormittag kam der Doktor und malträtierte mein
Knie, nachmittags schaute ich dem Treiben der Leute zu. Meistens schien die
Sonne, das ärgerte mich. Die Eisverkäuferin unter meinem Fenster machte gut
Umsatz. Kinder bettelten die Passanten an, holten ab und zu die Geldscheine
aus der Hosentasche und zählten ihre Einnahmen. Zigeunerinnen verkauften
Holzlöffel an Touristen. Ein Mann, dem die Beine fehlten, rutschte über den
Platz, sein Rollstuhl war ein Brett mit vier Rädern. An der Hauswand gegenüber
stand ein Mönch und popelte in der Nase, auch er wollte Geld und im Radio
faselte Stargast Clinton irgendwas von Freiheit und Demokratie, die Rumänen
klatschten Beifall wie zur Ära Ceaușescu.
Immerhin konnte Clinton zufrieden sein. Nach der sogenannten Revolution
überschwemmten zahlreiche Lehrer aus den USA die Länder Osteuropas. Sie wurden
von Amerika bezahlt, um an den Schulen in Rumänien, Moldawien oder sonst wo,
die englische Sprache zu unterrichten. Für mich waren es keine Englischlehrer
sondern Missionare des „American way of life“. Ebenso wie Coca-Cola und
McDonalds sollten sie die Amerikanisierung Osteuropas vorantreiben. Vermutlich
braucht Amerika in Europa neue Untergebene, da es sich auf den Westen nicht
mehr so recht verlassen kann. Als amerikatreue Störenfriede in der EU würde die
Rechnung vermutlich aufgehen.
Nach elf Tagen bekam ich meine letzte Spritze, Doktor Ciorteach nickte
zufrieden mit dem Kopf, ich konnte wieder in die Berge.
Insgesamt war ich nun über einen Monat im Rückstand, die Tour würde ich nicht
mehr wie geplant beenden können. Ich entschloss mich, schweren Herzens auf den
slowakischen Teil der Karpaten zu verzichten. Der Aufenthalt in Sibiu hatte
auch ein gewaltiges Loch in meine Reisekasse gerissen. Dem Arzt zahlte ich 80
Mark, das war in Ordnung. Für die Unterkunft zahlte ich fast 500 Mark, das war
eine Katastrophe.
* Namen geändert
„Die Tüchtigsten aber erbauen im Gebirge Sennhütten. Dort verweilen Sie mit Gott und der Einsamkeit, bis der Tag kürzer wird.“ schrieb der rumänische Schriftsteller Mihail Sadoveanu in seinem Werk Baltagul.
Nicu kannte einen Hirten in Cașolț, einem Dörfchen östlich von
Sibiu. Wir wollten ihn besuchen, mein Wunsch eine Stâna von innen zu sehen
erfüllte sich doch noch.
Das grünliche, kalte Licht der Straßenlampen ergab mit dem warmen, gelben Licht,
aus den Fenstern der Häuser eine eigenartige Mischung. Auf einigen Höfen bellten
Hunde und Silhouetten der Pferdekarren holperten durch die zerfurchte Straße,
das Dorf erwachte. Mollige Wärme schlug mir entgegen, als ich den Kuhstall betrat.
Ghița war gerade mit dem Melken der Kühe beschäftigt, seine Frau half ihm
bei der Arbeit. Der Stall war schmal, ein paar Glühlampen spendeten schummriges
Licht, an der Wand, über den Köpfen der Kühe hingen Bildchen der Schutzheiligen,
damit den Tieren kein Unglück widerfahre. Zwölf Kühe besaß Ghița, doch in
erster Linie war er ein Păcurar - ein Schafbesitzer.
Seine 500 Schafe weideten auf 60 Hektar Bergwiesen hinter dem Dorf. „Wir müssen
uns beeilen“, sagte Ghița. „Die Schafe werden jetzt auch gemolken.“ Wir
kletterten mit Nicolai, seinem Bruder, in den Geländewagen und schaukelten in
die Berge. Ghița gehörten 10 Hektar Land, den Rest musste er pachten, für
50 Mark im Jahr je Hektar. „Nicht jedes Stück Weideland ist für die Schafhaltung
geeignet“, erzählte Ghița. „Du brauchst Wasser und vor allem Schatten.
Gegen Hitze sind die Tiere sehr empfindlich; mindestens vier Stunden am Tag
müssen die Schafe in den Schatten, so von 12:00 bis 16:00 Uhr.“
Von einer Herde war noch weit und breit nichts zu sehen, als den Wagen sechs
Hirtenhunde attackierten. Jeder trug ein stachliges Halsband, als Schutz gegen
Wölfe und zwischen den Vorderbeinen tanzte ein etwa 20 cm langes, daumendickes
Rundholz. Was zum einen die Hirtenhunde als solche kennzeichnete und zum anderen
sie daran hindern sollte, schnell zu laufen und sich irgendwo zu verbeißen. Als
sie den Boss erblickten, herrschte augenblicklich Ruhe. Ein Hund blieb bei uns,
der Rest trollte sich zurück zur Herde.
Auf meine Frage, was so ein Hund kostet, antwortete Ghița: „Ein guter
Hirtenhund ist unbezahlbar. Kein Hirte würde je einen guten Hund hergeben. Der
da ist nicht mal zwei Schnaps wert“, sagte Ghița lachend, indem er auf
den Hund wies, der neben ihm saß und sich mit der Hinterpfote am Ohr kratzte.
„Zum Glück gibt es in der Gegend keine Bären, nur ab und zu Wölfe, da reichen
sechs Hunde. Sonst brauchte ich doppelt so viele. Auch mit den Wölfen hatten
wir noch nie Probleme - Gott sei Dank.“
„Ein Wolf kann, wenn er will, 100 Schafe
töten. Der Bär nimmt in der Regel eins, höchstens zwei. Bei uns gibt es noch
keine Versicherung, mit einem Schaf verliere ich auch ein Lamm und natürlich
Käse. Das sind - Ghița überlegte - etwa 150 Mark. Wenn ich Glück habe,
kann ich noch die Haut verkaufen. Aus Schafleder werden Jacken, Taschen oder
Ähnliches gemacht.“
Wir näherten uns einem Pferch, in dem sich die Schafe gegenseitig auf die Füße
traten. Sie wurden gerade gemolken. Von den vier Ciobani (Schafhirten), die bei
Ghița arbeiteten, waren drei mit dem Melken der Tiere beschäftigt. Einer
stand im Schafpferch und trieb die Tiere zu zwei Öffnungen in einem
Bretterverschlag, dem Comarnic. Dahinter saßen zwei Hirten. Sobald die Köpfe der
Schafe sichtbar wurden, packten die Männer zu und zogen die Schafe durch die
Öffnungen, jeder klemmte sein Schaf zwischen die Knie und fing an es zu melken.
Alles dauerte nur wenige Sekunden. Früh, meist vor Sonnenaufgang, und am Abend
werden die Schafe im Sommer gemolken, manchmal auch noch ein drittes Mal. Ein
Schaf gibt jetzt etwa einen bis zwei Liter Milch am Tag. Im Frühling und Herbst
ist es weniger.
Als alle Tiere gemolken waren, trieb sie ein Hirte wieder auf die Weide. Der
andere nahm die Milch und wir gingen zusammen zur Stâna, um Käse herzustellen.
Käse ist das einzige Produkt, was die Hirten auf dem Markt verkaufen. Für den
Eigenbedarf machen sie auch ab und zu Butter oder gesäuerte Milch zum Trinken.
Einmal im Jahr, meistens im Mai, werden die Schafe geschoren. Die Hirten
erledigen diese Arbeit selbst, ein Schafscherer würde pro Schaf genauso viel
kosten, wie der Hirte für ein Kilo Wolle bekommt. Die Wolle spielt keine große
Rolle als Verkaufsprodukt. Ein Teil geht in die Türkei, der Rest bleibt im Land.
Die Frauen in den Dörfern trocknen, waschen und färben die Wolle, anschließend
fertigen sie Kleidung für den Alltag, Wandteppiche für die eigene Wohnung oder
für Touristen und selbstverständlich auch den Țundră - den
klassischen Schafspelz der Hirten, mit dem die Schäfer Regen, Hagel und Schnee
in den Bergen trotzen.
In der Stâna angekommen, schüttete der Hirte die Milch in einen Kessel, hing ihn
übers Feuer und rührte mit einem Stab, damit sich die Milch gleichmäßig erwärmte.
„Um Käse zu machen, muss die Milch etwa 35 ℃ haben“, erklärte er. Dann nahm er
den Kessel, trug ihn in die Hütte und gab einen Schluck Lab, das Ferment zur
Käsebildung, dazu. Zum Abschluss warf der Mann einen Hirtenpelz über den Kessel,
um die Temperatur zu halten. Jetzt würde es etwa eine Stunde dauern, dann ist
der Käse fertig. Fünf Liter Milch ergeben rund ein Kilo Käse - Telemea genannt.
Ich erfuhr, dass es vier Käsesorten gibt: Brânză de Caș,
Brânză de Telemea, Brânză de Urdă und Brânză de
Burduf. Letzterer aber wird nur aus der Milch guter Bergschafe erzeugt, da diese
Milch den höchsten Fettgehalt hat. „Es ist auch der Teuerste, auf dem Markt
kostet das Kilo knapp 10 Mark“, sagte Ghița.
Er musste es wissen. Jeden Tag holen Ghița oder sein Bruder Nicolai den
fertigen Schafskäse und verkaufen ihn auf dem Markt in Sibiu. Ghița gehört
zu den Hirten, die von ihrer Arbeit noch gut leben können. Da er in der Nähe von
Sibiu lebt, kann er die Transportkosten von der Stâna zum Markt in der Stadt
gering halten. Mit seinem Auto ist er auch wesentlich schneller, und vor allem
täglich auf dem Markt präsent. Im Gegensatz zu den Hirten in den abgelegenen
Bergregionen. Für sie wird das Geschäft mit dem Käse immer unrentabler. Nur
ein- bis zweimal in der Woche kommen Fahrer (meist Schwarzarbeiter) die ihren
Käse abholen. Die Angestellten in den Bergen verdienen etwa 50 Mark im Monat,
das liegt rund zwei Drittel unter dem Durchschnittslohn in Rumänien. Die Folge
ist, immer weniger Menschen besitzen immer größere Herden und viele einst
selbständige Hirten lassen sich bei einem 1000-Schaf-Besitzer anstellen.
„Fahr nach Poiana Sibiului“, sagte Nicolai. „Und du lernst die High Society
unter den Schafbesitzern kennen. Bereits unter Ceaușescus Zeiten besaßen
diese soviel Geld, dass sie nicht wussten, wohin damit. Der Staat importierte
Schafe aus Neuseeland und Australien, um sie für rumänische Verhältnisse zu
züchten. Nach einer Fernsehreportage über die Schafhaltung in Australien, wo
die Tiere mit Helikoptern zusammengetrieben wurden, stellte ein Schafbesitzer
aus Poiana Sibiului bei Ceaușescu einen Antrag. Er wollte auch einen
Helikopter kaufen - natürlich ohne Erfolg.“
Erstaunlicherweise wurden die Eigentumsverhältnisse der Hirtenmillionäre
während der Diktatur der Kommunisten so gut wie nicht angetastet. Es gab
lediglich Verträge, die die Hirten verpflichteten ihre Produkte an den Staat zu
verkaufen. Dieser bestimmte auch, wie viel gezahlt wurde. Außerdem gehörte das
Weideland in der Regel dem Staat, sodass die Pacht der Hirten ebenfalls das
Staatssäckel füllte. Wer wenig Schafe besaß, war schlechter dran. Er musste
seine Tiere Genossenschaften überlassen. Nach der Revolution holte jeder sein
Eigentum zurück. Dadurch ist heute die Konkurrenz zwar größer, die Preise aber
sind frei.
Während der Käse im Kessel reifte, hockte sich Ghița ans Feuer und
begann Mămăligă zu kochen - das Grundnahrungsmittel der
Hirten. In einem Topf brodelte bereits Wasser, Ghița schüttete Maisgrieß
dazu und fing an zu rühren, bis sich in dem Topf ein zäher gelber Brei bildete.
Mit Schwung stülpte er den Topf um und balancierte den dampfenden Teigklumpen
zu einem Holztisch vor der Stâna. Mit einem Bindfaden schnitt sich jeder eine
Scheibe ab, füllte sie mit Schafskäse (Urdă) und knetete den Brei zu
einer Kugel.
„Was esst ihr außer Mămăligă?“ fragte ich die Hirten.
„Nudeln, Speck und ... Țuică.“ Alle lachten.
Der Käse war inzwischen fertig und konnte abgeschöpft werden. Ein Hirte packte
ihn in ein Tuch, dass er an einem Balken unter dem Hüttendach befestigte. Aus
der Flüssigkeit, die im Kessel blieb, erzeugten die Hirten die Urdă,
einen Frischkäse.
Die Schafe weideten auf dem Hang gegenüber, das würden sie noch bis Mitte
Oktober, wenn die Hirten mit ihren Herden zurück ins Dorf kommen. Dann gibt es
bis zum nächsten Frühling Trockennahrung.
Ich brauchte nicht bis Oktober zu warten, Trockenfutter würde es schon am
nächsten Tag geben, wenn ich mit Michael und Hans-Jürgen zum höchsten und
wildesten Gebirgszug der rumänischen Karpaten aufsteige - dem
Făgăraș-Gebirge.
Was man nicht im Kopf hat, hat man in den Beinen, heißt ein Sprichwort. Was man
beim Start einer Tour nicht im Rucksack hat, kann mitunter zu Problemen führen,
besonders zu einer Zeit, wenn sich der Durchschnittsbürger auf die Nachtruhe
vorbereitet.
Hans-Jürgen brauchte noch Benzin für seinen Kocher. Er merkte es bei Einbruch
der Dämmerung in Turnu Roșu, einem Dörfchen am Fuß des
Făgăraș-Gebirges. Von hier wollten wir morgen früh den
Aufstieg beginnen.
Zum Glück sind die Zeiten, wo es Sprit auf Zuteilung gab, ein für allemal
vorbei. So sollte eine Brennstoffversorgung im Land der unbegrenzten
Unmöglichkeiten kein Problem darstellen. Hans-Jürgen betrat den erstbesten
Bauernhof und bat um Hilfe, die ihm im Handumdrehen gewährt wurde.
Der Mann tat einen kräftigen Zug an einem Ende des Plastikschlauches, spuckte
aus und schon lief die gelbliche Flüssigkeit aus dem Tank seines Dacias in
Hans-Jürgens rote Benzinflasche. Im Dorf war es bereits stockfinster, doch
Hans-Jürgens Augen leuchteten, jetzt fehlte nichts mehr. Viele Wege führen zum
Făgăraș-Kamm. Die meisten Wanderer begannen ihren Aufstieg,
oder beendeten ihre Tour an der Cabana Suru, 10 km weiter im Osten. Seit jedoch
ein Feuer auch die Suru-Hütte vernichtete, ein Schicksal, was meiner Meinung nach
früher oder später alle Karpatenhütten ereilen wird, ging es auf dem Weg von
Turnu Roșu äußerst lebhaft zu. Eine Gruppe Rumänen mit Hund, fünf
Tschechen, vier Ungarn in Tarnuniformen mit furchterregenden Messern am Gürtel
und drei Deutsche lieferten sich ein Wettrennen zum Avrig-See, dem Sieger winkte
das Fleckchen fürs Zelt mit den wenigsten Huckeln. Wir waren die Ersten. Die
Tschechen wollten weiter, die Rumänen bekamen unterwegs Ärger mit einem Hirten,
da ihr Hund die Schafe jagte und den Ungarn war vermutlich ihr Kilo Stahl hinderlich.
Bis jetzt spielte mein Knie recht ordentlich mit, was ich zum Großteil meinen
beiden Stöcken verdankte. Würde es aber morgen zum Spielverderber, wenn unser
Weg über das Kirchendach führte?
Die Custura Sărății, das Kirchendach, ist ein scharfkantiger
Grat zwischen den Bergen Șerbota und Negoi. Im Sommer 1994, während meiner
ersten Făgăraș-Wanderung, kraxelte ich über dieses Felswirrwarr.
Wie lang es damals dauerte, wusste ich nicht mehr, konnte mich aber noch gut daran
erinnern, dass ich stark geschwitzt und noch stärker geflucht hatte. Hans-Jürgen
musste gar absteigen, an besagter Stelle. Wir beschlossen also, nicht über das
Kirchendach zu balancieren und wählten für das nächste Etappenziel, den
Calțun-See, einen Umweg über die Negoi-Hütte. Hütte ist nicht das
richtige Wort, der Bau ähnelte einem Berghotel zu Saisonende. Die 170
Schlafplätze waren frei, Herr Pitaru, der Hüttenwirt, sägte Holz für den Winter
und mit zwei videokamerabewaffneten Berlinern saßen wir als einzige Gäste im
Speisesaal.
Mit Bohnensuppe, Omelett und Bärenbier im Bauch arbeiteten wir uns eine Stunde
später in Richtung Calțun-See. Der Weg drückte sich am Fels entlang, ihn
markierte ein blaues Dreieck. Stellen, die gefährlich aussahen, überbrückten
Gitterroste und am Fels baumelten Stahlseile.
Ohne diese Vorkehrungen wäre der Weg sicher ungefährlicher. Die Gitterroste
waren zum Teil heruntergebrochen und hingen nur noch an einer Verankerung. Zum
Glück regnete es nicht. Wie ein Sägeblatt zog sich hoch über uns die Custura
Sărății zum Negoi, dem zweithöchsten Gipfel der rumänischen
Karpaten. Überall klebten Schneefetzen des letzten Winters.
Der Weg wühlte sich durch Geröllmassen und schien geradewegs in einer Sackgasse
aus Fels zu enden. Doch es war keine Sackgasse, ein Spalt kaum breiter als zwei
Rucksäcke, teilte die Wand. Strunga Ciobanului, Hirtenkamin, hieß die Stelle auf
meiner Karte. Ich ärgerte mich über den Namen. Nie im Leben wäre ein Hirte auf
die Idee gekommen, sich da durchzuschinden. Michael kletterte los, Hans-Jürgen
folgte ihm, ich bildete das Schlusslicht. Auch hier hingen wieder Ketten, wenn
man sie ignorierte, klappte der Aufstieg ganz gut. Die Überraschung lauerte beim
Abstieg. Ein Brocken, groß wie eine Tischtennisplatte, steckte im Kamin und
begrub unter sich die Ketten an einer Stelle, wo sie tatsächlich einen Sinn
gemacht hätten.
Verschwitzte Finger pressten sich auf rauen Fels und zwei Beine ruderten durch
die Luft, bis die Schuhspitzen endlich etwas fühlten, worauf sie stehen konnten.
Das Schauspiel wiederholte sich dreimal, dann lag der Kamin hinter uns.
So wild und zerklüftet ist das Făgăraș-Gebirge nur auf
seiner Nordseite. Lange, sanft abfallende und dicht bewaldete Hänge ziehen sich
dagegen nach Süden. In den Wäldern versteckten sich in den 50er Jahren
Partisanen, um gegen das kommunistische System in Rumänien zu kämpfen. Ihre
Hoffnung setzten sie auf die Amerikaner, um mit deren Unterstützung Rumänien
vom Kommunismus befreien zu können. Soldaten durchstreiften tatsächlich die
Wälder, nur waren es keine GI's sondern Angehörige der rumänischen Armee. Anfang
der 60er Jahre galt das Partisanenproblem in den Südkarpaten als gelöst.
Als wir nach zehn Stunden auf und ab am Calțun-See kaum noch geradeaus
laufen konnten, und mir die Spaghetti nicht mehr schmeckten, wusste ich, es war
ein Fehler, den Umweg über die Negoi-Hütte zu nehmen.
Die vier Stunden bis zum Capra-See am nächsten Tag waren wie Urlaub. Zwar
regnete es am Morgen, doch das beeindruckte niemanden. „Wir machen es wie Kohl“,
sagte Hans-Jürgen. „Absitzen und einen günstigen Moment abpassen.“ Dieser ließ
nicht lange auf sich warten, bereits nach einer Stunde brannte die Sonne wieder
auf der Nasenspitze.
Von einem Sattel, der Bâlea-Fenster heißt, sahen wir im Norden die Reste der
Bâlea Schutzhütte (abgebrannt Ende August 1995). Nach Süden windet sich die
Transfăgărașan, die Făgăraș-Hochstraße,
in das Tal des Capra-Baches. Wir standen genau über dem Tunnel, der in 2030 m
Höhe, durch das Gebirge bricht. Die Straße ist eines der Monumentalbauten des
Diktators Ceaușescu und wird als solches auch kräftig kritisiert. 1972
begannen Soldaten und Sträflinge mit dem Ausbau des 1944 eingeweihten
Transfăgăraș-Höhenweges zur Făgăraș-Hochstraße.
Ceaușescu sprach zwar von der Errichtung eines Wintersportgebietes im Bâlea-Tal,
doch der eigentliche Sinn bestand, falls nötig, in einer raschen militärischen
Präsenz in Siebenbürgen, wo ja immerhin mehrere Jahrhunderte Ungarn das Sagen
hatten. In zwei Weltkriegen mussten die Regierenden in Bukarest die bittere
Erfahrung machen, dass der Kampf um die Karpatentäler höchste Verluste forderte.
Verkehrspolitisch notwendig war der Bau nicht. (Wie viel Straßen sind das schon?)
In einer sozialistischen Hau-Ruck-Aktion grub, bohrte und sprengte man die Straße
in ein Lawinengebiet ersten Grades. Weder Ingenieure noch Techniker erkannten,
oder wollten die Gefahr erkennen, die von diesem Teil des Gebirges ausging. Wie
viele Arbeiter und Soldaten beim Bau der Straße Lawinen zum Opfer fielen, wurde
nie bekannt - von einem Skigebiet war keine Rede mehr. Den letzten Toten gab es
im vergangenen Winter, eine Lawine zerstörte den halbfertigen Neubau der
abgebrannten Bâlea-Schutzhütte. Trotzdem gehört die
Transfăgărașan, zusammen mit der Straße durch die
Bicaz-Klamm in den Ostkarpaten, zu den spektakulärsten Straßen in den Karpaten.
Am Gämsen-See, wir sahen wirklich Gämsen, hatten wir etwa die Hälfte des Gebirges geschafft.
„La trei pasi de moarte“ - „Drei Schritte bis zum Tod“ nennt sich ein Felsgrat
auf unserem Weg zum Moldoveanu, Rumäniens höchstem Berg. Ganz so schnell geht
es aber doch nicht. Die mit Stahlseilen gesicherte Stelle war ein Klacks
verglichen mit dem Hirtenkamin am Negoi. „Drei Schritte bis zum Tod“ dürfte
für einige Straßenabschnitte in Deutschland passender sein.
Mit mehreren Superlativen kennzeichnete mein Wanderführer das
Făgăraș, als höchstes, felsigstes und wildestes
Hochgebirge der rumänischen Karpaten. Ich setzte noch eins drauf und bezeichnete
es auch als das Dreckigste. Nirgendwo sonst stolperte ich über so viele
Konservendosen, Gaskartuschen, Schuhsohlen und alte Socken wie hier. Kurz vor
der Negoi-Hütte hatte sogar jemand seine Hosen liegen lassen.
Nicht Hirten und Schafe zerstören die Karpaten, diese gab es bereits als sich
Decebal mit Trajan prügelte. Schuld sind einzig die Touristen mit ihrer
Bequemlichkeit. Unterhalb des Moldoveanus bauten wir zwischen Ciorba de
burtă Tüten von Maggi, Thüringer-Rotwurst-Dosen zum „Einheitlichen
Volkspreis“ von 0,37 Mark und Red Bird Luncheon Loaf, aus Holland, die Zelte
auf.
Irgendwie waren wir keine richtigen Helden, da lag der Moldoveanu (Warum ein
Berg auf der Grenze zwischen Transsilvanien und der Walachei ausgerechnet „Der
Moldauer“ genannt wurde?) zum Greifen nahe, und wir ignorierten ihn, wegen ein
paar albernen Regentropfen, die sich vermehrten und für die letzten drei Tage
im Făgăraș zum ständigen Begleiter wurden. Wir begnügten
uns mit dem dritthöchsten Gipfel, Viștea Mare (Große Aussicht) genannt
und folgten den roten Bändern, die auf den regennassen Steinen erheblich an
Ausdrucksstärke verloren hatten.
Im Moșu-Sattel lernten wir Ion kennen. Er ist Hirte aus Corbi, einem
Dorf am Südhang des Gebirges, und wollte Zigaretten. Ion gehört zu der Sorte
Hirten, wie sie es schon seit der Dakerzeit gab. Er befand sich auf der
Transhumanz, der Wanderschäferei. Das Leben der Wanderhirten bestimmten die
Schafe. Im Sommer zogen sie mit ihren Tieren durchs Gebirge, im Winter kehrten
sie zurück in die Dörfer. Die Hirten legten gewaltige Strecken zurück, manche
zogen bis zum Kaukasus. Die Zeiten sind für Ion vorbei. Heute beweiden seine
Schafe nur noch die Hänge in der Nähe der Stâna. Zu seiner Familie wird aber
auch er erst im Herbst zurückkehren, wenn das Gras trocken ist und die Schafe
keine Milch mehr geben.
Nasser grauer Nebel waberte am nächsten Morgen über dem Kamm, mittags regnete
es und kurz vor unserem Ziel, dem Zârnei-Sattel, erschlugen uns fast
Hagelkörner. Die Notunterkunft im Zârnei-Sattel hat die Form eines Iglus, mit
Löchern in den Wänden. Außen auf den Löchern klebten Pin-up-Girls, innen sah es
aus wie auf einer Bahnhofstoilette.
Hans-Jürgen musste absteigen, da sein Schlafsack aus allen Nähten tropfte. Mit
zwei Freunden wollte er für eine Woche nach Nordrumänien fahren. In
Brașov wollen wir uns wieder treffen, um gemeinsam das Penteleu-Gebirge
zu durchstreifen.
Königstein und Bucegi, die letzten Massive der Südkarpaten warteten auf uns.
In der Kneipe von Podu Dâmboviței, einem Dorf zwischen Königstein und
Bucegi, ertränkten wir unseren Trübsinn. Ein Gewitter hatte uns vom Kamm des
Königstein gefegt. Damit fehlte mir eines der bedeutendsten Karpatenmassive
auf der Tour.
Die Männer am Tresen und an den Tischen hatten andere Probleme, bei
Țuică und Bier diskutierten sie, ob Rumänien Mitglied der Nato
werden solle oder nicht. Mit jeder Runde wurde die Diskussion temperamentvoller.
„Was meint ihr?“ fragte uns ein Typ am Nachbartisch. Wir versuchten ihm zu
erklären, dass Rumänien im Moment sein Geld sinnvoller verschleudern kann, als
für Tornados und Leoparden. Die Antwort gefiel dem Mann. Er bestellte noch zwei
Bier, und brachte sie zu uns rüber mit den Worten: „Jesus beschütze euch.“
Podu Dâmboviței blüht, der Grund - seine günstige Lage in den Karpaten
weckte das Interesse der Bukarester Mittelschicht, die hier ein
Wochenendhäuschen nach dem anderen baut. Trotzdem ist es noch nicht vom
Tourismus überlaufen wie z.B. Sinaia oder Bușteni jenseits des
Bucegi-Massivs, zudem wir am nächsten Morgen aufbrachen.
In einem Bachbett, dem das Wasser fehlte, staksten wir bergauf. Nach einer
Stunde dann doch Wasser, erst auf Stirn und Rücken, später bis zu den Knöcheln.
Der Bach war nicht sehr breit, ich konnte ohne Probleme auf die andere Seite
springen. An den Rändern reihten sich morsche, glitschige Bohlen. Über diese
haben Holzfäller in der Vergangenheit unzählige Baumstämme zu Tal rutschen
lassen. Als wir gegen Mittag aus dem Wald traten, hatte sich etwas verändert -
die gelbgrünen Berghänge hatten Farbe bekommen. Gelbe, weiße, blaue und rosa
Flecken leuchteten in der Sonne. Sie nannten sich Himmelschlüsselchen,
Kuhschelle, Frühlingsenzian oder Bergnelke. Doch all das war nichts, verglichen
mit den riesigen Matten blühender Alpenrosen. Ganze Hänge bedeckten die roten
Blüten dieser Azaleenart, und am Horizont ragten die Steilwände des Bucegi
in die Wolken.
Es gab Tage, da lief es einfach nicht, die Beine waren wie mit Blei gefüllt,
der Rücken schmerzte und alle paar Schritte möchte man Pause machen und überlegte
sich irgendeinen triftigen Grund, nur damit der andere nicht merkte, dass man
schwächelt. Der Gründe gab es zum Glück einige: die Wasserflasche rausholen und
einen Schluck trinken, von dem Enzian unbedingt ein Foto schießen, die langen
Hosen ausziehen, pinkeln gehen usw. Wenn einem die Karte auch noch eine
Seilbahn offeriert, die uns den Aufstieg ersparen kann, ist das wie Geburtstag.
Wie ein Schlag ins Gesicht ist es dagegen, wenn besagte Seilbahn nicht fährt,
und das tat die Seilbahn aus dem Ialomița Tal rauf zur Babele-Hütte schon
seit Jahren nicht mehr, wie mir schien. Die Seile hatten Rost angesetzt, die
Tür der Station war verrammelt, und aus dem Mauerwerk spross Unkraut. Solche
Schläge steckte ich dann weg, wurde bockig, streckte den Mittelfinger hoch und
lief weiter. Am späten Nachmittag saßen wir als Sieger in der Babele-Hütte, der
Preis ein halber Liter.
Das überdimensionale Hufeisen Bucegi tanzt gleich mehrmals aus der
Karpatenreihe. Der westliche Teil besteht aus Kalkstein, der östliche aus
Konglomeraten. Die Folge davon ist: uneinige Wissenschaftler! Für die Geologen
zählt es zu den Ost-, für die Geographen zu den Südkarpaten. Der östliche
Schenkel bildet ein Hochplateau, aus dem im Norden der Omu, mit 2505 m höchster
Berg des Massivs, herausragt. Die Cabana Omu auf dem Gipfel ist somit die
höchstgelegene Berghütte in den Karpaten. Die östlichen Berge (z.B.
Coștila, Caraiman) des Bucegi-Hauptkammes bilden die größten
Steilabbrüche in den Karpaten. 400 Meter misst die Valea-Albă-Wand,
die höchste Wand der rumänischen Karpaten, an der Südseite des 2498 m hohen
Coștila Gipfels.
Und wer glaubt, die Sphinx gibt es nur in Gise, irrt. In Rumänien gibt es sie
gleich zweimal: auf dem Bucegi-Plateau, etwa 200 m nördlich der Babele-Hütte,
das Original und die Kopie auf der Rückseite einer 50 000 Lei Banknote, im
Volksmund Bojarengeld genannt, da es meistens in den Geldbörsen Wohlhabender
steckt. In Deutschland geht auch nicht Otto-Normalverbraucher mit 1000 DM
Scheinen zum Wochenendeinkauf.
Wind und Sandkörner bearbeiteten den Konglomeratbrocken in tausenden Jahren zu
seiner heutigen Form, wie auch die Babele-Felsen neben der gleichnamigen
Berghütte. Alte Weiber bedeutet Babele, und die vier Gestalten erinnern mit
etwas Phantasie in der Tat an eine Gruppe tratschender Mütterchen.
Das Heldenkreuz unterhalb des Caraiman-Gipfels erinnert an etwas anderes.
Als Helden galten im Winter 1916 die Soldaten der königlichen Armee Rumäniens,
die bei der Verteidigung des Prahova-Tals ihr Leben ließen. Ein Pfad, der im
Winter gesperrt ist, windet sich über den Abbrüchen zum Heldenkreuz. Am Wegrand
erinnern kleinere Kreuze an andere Helden. Sie wurden zum Gedenken an Mitglieder
des Salvamont errichtet, die bei Rettungsaktionen selbst tödlich verunglückten.
Rote Punkte schaukelten zwischen den Felswänden und verschwanden in den Wolken
unter uns, die Seilbahn ins Prahova-Tal war in Betrieb. Mit der nächsten Kabine
schaukelten wir mit nach unten, tauchten in die Wolken und wurden in
Bușteni ausgespuckt - die Südkarpaten lagen hinter mir.
Mit den Südkarpaten lag auch die alpine Landschaft hinter uns, der Vârful
Ciucaș versuchte sich zwar noch einmal mit aller Macht zu strecken,
brachte es letztlich doch nur auf 1954 Meter. Erst in Nordrumänien, im
Călimani - und Rodna-Gebirge lagen die Berge noch mal jenseits der
2000-Meter-Marke.
Hinter dem Wintersportort Predeal tauchten wir in die bewaldeten Hänge des
Gârbova Gebirges. Ablaufendes Regenwasser hatte tiefe Rinnen in den Weg
gewaschen, Dreckklumpen klebten an den Schuhen. Wir bewegten uns wie auf
Schmierseife. Zweige knackten, Ketten klirrten und laute Rufe ertönten. Aus
dem Wald trat ein Mann mit einem Gespann. Zwei Ochsen zogen ein paar Baumstämme
durch das Gestrüpp. Zwei Meter liefen sie, blieben stehen, ein Hieb mit der
Rute folgte und wieder bewegte sich der Pulk zwei Meter weiter. „Greu -
Schwierig!“ rief uns der Typ zu.
Nach der Revolution bekamen ehemalige Waldbesitzer ihren Forst zurück. Um den
Wald vor dem Kahlschlag zu schützen, erließ die Regierung ein Gesetz, wonach es
einer Genehmigung bedurfte, wenn jemand Holz verkaufen wollte. Doch wenn es
galt Gesetze zu umgehen, wusste man sich schon immer zu helfen. Die
frischgebackenen Waldbesitzer griffen zu Axt und Säge, fällten die Bäume und
zimmerten Särge daraus, diese zu verkaufen war ja nicht verboten. Die Särge
konnten von den Empfängern wieder in Bretter zerlegt werden. Es gab nur ein
Problem: Die Bretter mussten eine Mindestlänge besitzen. Die Folge war: Den
Behörden wollte es partout nicht in den Kopf gehen, wer seine letzte Ruhestätte
in einem Sarg einnehmen sollte, der zweieinhalb Meter lang war.
Das Knarren und Poltern des Ochsengespanns hatte sich hinter uns verloren, vor
uns endete der Weg auf einer Bergwiese mit Kühen, Bänken und Picknicktischen.
In der Susai-Hütte bot sich uns die letzte Möglichkeit für ein Bier und da
sowieso Mittag war holten wir auch Müsliriegel, Brot und Speck aus dem Rucksack.
Die Rindviecher fühlten sich vor der Hütte wie zu Hause, vielleicht waren sie
das auch. Eine Kuh trabte an unseren Tisch und im Handumdrehen hatte sie meinen
Speck samt Papier verschlungen und langte bereits nach dem letzten Stück Brot.
Erst ein ordentlicher Schlag auf den Schädel brachte die Kuh davon ab, sich
auch noch an Bier und Müsliriegeln zu vergreifen.
Mit den Südkarpaten hatten wir noch etwas zurückgelassen: Wegmarkierungen, auf
die wir uns verlassen konnten. Hier tauchten sie auf, verschwanden wieder, um
nach etlichen Metern erneut aufzutauchen. Wer auch immer mit Pinsel und
Farbeimer durch die Karpaten rannte, um gelbe Bänder, blaue Dreiecke oder rote
Punkte an Bäume und Steine zu malen, hier im südlichen Teil der Ostkarpaten
hatte er entweder keine Lust gehabt oder ihm ging laufend die Farbe aus. Wir
rutschten einen Hang hinunter auf einen staubigen Waldweg und wussten nicht
mehr, wo wir waren. Im Allgemeinen führen Wege irgendwo hin: in ein Dorf, auf
eine Straße oder wenigstens zu einer Hirtenhütte. Dieser hier tat das nicht.
Er endete mitten im Wald an einer Pfütze, neben der ein Stapel Baumstämme in der
Sonne döste. Eine matschige Rinne, auf der die Stämme heruntergelassen wurden,
verschwand im Dunkel des Blätterdaches. Wir folgten dem Gemisch aus Schlamm,
verrotteter Blätter und Baumrinde. Periodisch wiederkehrende Regenschauer
ließen uns unter Bäume flüchten und die Regenklamotten anziehen. Kaum hatte ich
die Kapuze über die Ohren gestülpt schien wieder die Sonne - ich kam mir
verarscht vor.
Oben im Kamm holte ich meine Karte raus. Wir mussten zu einem Pass der
Predeluș hieß. Er trennte das Gârbova- vom Grohotiș-Gebirge.
Grohotiș heißt Geröll, etwas was es in diesem Massiv nicht gab. Bis zum
Horizont zogen sich Grasbuckel, der Krähenstein dahinter sah aus, wie eine Burg
aus dem Märchenbuch. Männer mähten einen Grashang, wie es aussah, wird es
länger dauern. Auf einem gemähten Stück Wiese stand ein Zelt, aus Holzstangen
und Plastikplanen errichtet, und über einem Feuerchen brodelte das Mittagessen.
Die Leute bleiben hier draußen, bis das Gras gehauen war, dann erst würde es mit
vollgeladenen Pferdekarren zurück ins Dorf gehen. „Noch drei Stunden bis Cabana
Muntele Roșu“, rief mir ein Typ mit rostrotem Vollbart zu, als ich mich
nach dem Weg zum Krähenstein erkundigte.
Nach drei Stunden hockten wir auf einer Lichtung neben einer Forststraße mitten
im Wald. Von einer Hütte weit und breit keine Spur, dafür holperte ein gelber
Lieferwagen durch die Schlaglöcher und hielt ein paar Schritte neben meinem
Kochtopf. Zwei Typen stiegen aus, der Ältere ähnelte einem Hirten, der Jüngere
nuckelte an einer Weinflasche und nannte sich Ștefan. Das pinkschwarze
T-Shirt, sein Silberkettchen und die Ohrringe gaben ihm etwas Schwuchtelhaftes.
Ich mochte ihn nicht. Nicht weil er schwul war, er war besoffen und lästig wie
eine Scheißhausfliege. „Ihr wollt wirklich über die Berge?“ fragte Ștefan
und hielt mir die Weinflasche unter die Nase.
„Das ist gefährlich, gibt jedes Jahr Tote. Ihr könntet die Felsen runterfallen.“
Ich versuchte ihm zu erklären, dass wir nicht zum ersten Mal auf Tour waren -
ohne Erfolg.
„Also in 'ner Woche fahre ich ans Schwarze Meer, ihr könnt mitkommen.“ Er
schien von seiner Idee begeistert zu sein. Eine volle Stunde versuchte uns
Ștefan davon zu überzeugen, dass es mit ihm am Schwarzen Meer doch viel
schöner war, als in den Karpaten. Plötzlich klapperte es auf der anderen
Straßenseite. Hirten kamen aus dem Wald geritten. Sie brachten frischen
Schafskäse, den Ștefan nach Brașov bringen musste. Der Käse wurde
verladen, einer der Hirten stieg mit in den LKW, der Motor heulte auf und das
Auto mit Ștefan verschwand in der einsetzenden Dämmerung. Der Alte, er
war tatsächlich Hirte, ritt mit dem Rest zurück in die Berge. Wir hatten endlich
Ruhe.
Am nächsten Morgen folgten wir der Forststraße nach Osten, sie mündete auf die
Nationalstraße 1A in der Nähe eines Restaurants mit dem Namen Babarunca. Wir
waren früh dran, drinnen langweilte sich das Personal, draußen, am Straßenrand,
eine Nutte.
Der Weg zum Ciucaș begann auf der anderen Straßenseite und war mit roten
Dreiecken markiert, die irgendwann von blauen Dreiecken abgelöst wurden. Laut
meiner Karte hätten es rote Kreuze sein müssen. Solch kleine Unstimmigkeiten
gewöhnt, setzten wir unseren Weg unbeirrt fort und standen gegen Mittag im
Țigăilor-Sattel unter bizarren Konglomeratblöcken, die denen
im Bucegi ähnelten. Über dem Ciucaș-Gipfel versammelten sich bleigraue
Wolken, die sich auch bald ihrer Last entledigten. Klitschnass bis auf die
Knochen zwängten wir uns durch die Tür der Cabana Ciucaș.
Die Hütte glich einem Bauernhof, hinter dem Gebäude wühlten Schweine im Boden,
am Treppengeländer wetzte sich die Hauskatze ihre Krallen und der Hofhund
balgte sich mit den Hirtenhunden der benachbarten Sennstation. Der Wirt
schleppte eben einen Eimer voll frisch gemolkener Milch aus dem Stall in die
Küche. Die Wirtin machte uns Gemüsesuppe, anschließend gab es
Mămăligă mit Schafskäse und zum Nachtisch Bier, das zu der
Gegend passte, es hieß Ciucaș. Regengüsse, die die Fensterscheiben
herunterliefen, verzerrten die Sicht nach draußen. Schäfer trieben ihre Herde
in einen Pferch zum Melken. Nach über zwei Monaten in den Karpaten, wurde ich
meinem Zelt zum ersten Mal untreu, wir schliefen in der Hütte.
Ein klarer, kalter Julimorgen begrüßte mich auf dem Weg zum Klo. Im Gegenlicht
der aufsteigenden Sonne sah die Landschaft unter mir aus wie ein Meer, die
waldbedeckten Gebirgszüge bildeten blaue Wellen, mit zunehmender Entfernung
heller werdend. Der milchige Spritzer am Horizont hieß Penteleu, dort wollten
wir hin. Doch erstmal stiegen wir ab, um in Brașov Hans-Jürgen abzuholen.
Brașov oder auf deutsch Kronstadt liegt den Karpaten zu Füßen. Direkt
hinter der Altstadt erheben sich die Hänge des Tâmpa-Berges und von dort sind
es etwa 3 - 4 Tage bis ins Bucegi-Massiv.
Ich mochte die Stadt, auch aus einem anderen Grund; jedes Mal, wenn ich auf dem
Hauptbahnhof aus dem Zugabteil stolperte, umringten mich zwei Sorten von
Menschen - Taxifahrer und Zimmervermieter. Erstere wies ich meist höflich ab,
mit den Zimmervermietern wurde ich jedoch rasch handelseinig.
Diesmal aber schien uns das Pech im Nacken zu sitzen. Weder auf dem Bahnhof
stellte man uns die obligatorische Frage: „Unde dormiți?“ - „Wo schlafen
Sie?“, noch auf dem Piața Sfatului im Zentrum hatte jemand Lust uns ein
Quartier für eine Nacht zu vermieten. Nach zweimaligem, erfolglosem Promenieren
auf Brașov's Einkaufsboulevard der Strada Republicii gaben wir auf.
Vielleicht sahen wir nach mehreren Karpatenwochen nicht mehr wie ausländische
Touristen aus?
Wir erinnerten uns einer Billigherberge, die uns Hans-Jürgen empfohlen hatte -
Hanul Codreanu - etwa 15 Minuten zu Fuß vom Hauptbahnhof gelegen. Die Fassade
des Gebäudes war bunt wie der Rock einer Zigeunerin. Der Junge an der Rezeption
sah ziemlich schwer aus, das Mädchen, das uns die Zimmertür aufschloss umso
leichter.
Wir bezogen einen Raum in der obersten Etage. Auf den ersten Blick sah es recht
nobel aus. Die Wände waren mit Holz verkleidet, das Bad gefliest und die Betten
tip top gerichtet. Doch ich fand etwas zum Mäkeln. Die Tür ließ sich nicht
verschließen, das Waschbecken im Vorraum war eine Attrappe, ihm fehlte der
Abfluss. Dafür lief das Wasser der Klospülung ständig, nur nicht dann, wenn ich
an der Strippe zog, und an den Holzwänden stand, wer sich wann mit wem geliebt
hatte.
Immerhin konnten auch wir glücklich und zufrieden sein, doch noch eine Bleibe
für die Nacht gefunden zu haben. Was ich jedoch, im Gegensatz zu Micha, nicht
konnte war schlafen. Schreie weckten mich, sie kamen aus dem Nachbarzimmer.
Je nach Gefühlszustand der Dame kurz und spitz oder tief und kraftvoll.
Unterbrochen wurden sie nur durch Regieanweisungen an ihren Partner. Wortfetzen
drangen an mein Ohr: „acum - jetzt“, „așa - so“ oder „mă doare -
es tut mir weh“ (Trottel).
So hatten meine Nachbarn jede Menge Spaß, ich keinen Schlaf, dafür eine
Sonderlektion rumänisch. Als die beiden endlich befriedigt waren und wieder
Ruhe eintrat, fielen auch mir die Augen zu, um sie wenig später wieder aufzuschlagen.
Diesmal waren es andere Geräusche. Es regnete, das registrierte ich, da das
Fenster einen Spalt offen stand, doch das war es nicht. Tok, tok, tok machte es
neben mir. Ich tastete mit den Händen in die Richtung, aus der das Geräusch kam.
Pitsch, ich fühlte etwas Nasses auf meiner Hand, und wieder pitsch. Von der Decke
fiel ein Tropfen nach dem anderen neben mein Bett, es hatte sich bereits eine
kleine Pfütze gebildet.
Ich weckte Micha, zu schlafen hatte sowieso keinen Sinn mehr. Wir stellten unsere
Trinkflaschen unter die tropfende Stelle, schlüpften in unsere Klamotten, holten
die Pässe an der Rezeption und wankten zum Bahnhof, um auf Hans-Jürgen zu warten.
Dieser hockte bereits mit seinen Freunden Uwe und Ulrich in der Vorhalle.
Vier Männer, fünf Frauen und ein Schwein, das in einem Kartoffelsack steckte,
setzten uns in Siriu, einem Dorf im Südwesten des Buzău-Gebirges, ab.
Vârful Penteleu ist mit 1772 Metern der höchste Hügel im Buzău-Gebirge,
welches drei Massive bildet: das Siriu-Gebirge im Westen, anschließend das Podul
Calului-Massiv und im Osten das Penteleu-Gebirge, zu dem eine staubige,
langweilige Forststraße führte. Das ganze Massiv schien nur aus Wald und
Forststraßen zu bestehen. Es ist Rumäniens Holzlieferant Nummer eins. Demzufolge
herrschte auf den Schotterstraßen ein reges Treiben. Holzlaster donnerten über
die Piste, wippende Baumstämme im Gepäck. Tanne und Rotbuche werden am häufigsten
geschlagen. Die meisten Stämme bleiben jedoch im Land. Niedrige Holzpreise auf
dem europäischen Markt und hohe Kosten beim Holzschlag, machen der Forstwirtschaft
Rumäniens das Leben schwer.
80 Mark bekommt Rumäniens Holzmonopol Romsilva für einen Kubikmeter Holz
innerhalb des Landes. Wird die gleiche Menge exportiert, sind die Einnahmen
gerade mal halb so hoch. So genannte Erntemaschinen zum Fällen der Bäume, wie
im Flachland üblich, können in den Bergen nicht eingesetzt werden, hier diktiert
die Handsäge das Arbeitstempo. Ebenso mühsam ist der Transport der Stämme.
Traktorenreifen wühlen sich neben Pferdehufen in den Waldboden. Eine neue
Forststraße anzulegen kostet genauso viel wie der spätere Erlös aus dem
Holzverkauf in diesem Gebiet.
Der nächste LKW, der um die Ecke preschte, hatte nichts geladen. Hans-Jürgen
streckte den Daumen hoch, Bremsen quietschten und aus dem Fahrerhaus schaute
ein sonnenblumenkernekauendes Mondgesicht, das nach Covasna wollte, einer Stadt
nordwestlich des Gebirges. Wir bekamen ebenfalls Sonnenblumenkerne, sprangen
auf die Ladefläche und übten uns im Kerne knabbern. Die Dinger hatten hier die
gleiche Bedeutung wie bei uns Marsriegel, man hatte irgendwas im Mund ohne
etwas in den Bauch zu bekommen. In den Dörfern und Städten verkauften Frauen und
Kinder die Kerne an jeder Ecke sackweise. Die Rumänen knackten mit den Zähnen
die Schale, popelten irgendwie den Kern heraus und spuckten zuletzt die Schale
aus. Eine Kunst, die ich nie begreifen werde. Entweder zermalmten meine Zähne
alles, oder ich verknotete fast meine Zunge, beim Versuch den Kern zu erwischen.
Der Fahrer kam aus Ploiești und kannte sich in den Bergen genauso wenig
aus wie wir. Obwohl er sich anhand meiner Karte orientierte, verfuhren wir uns
nur zweimal (wir verliefen uns später ständig) und wurden im Bisca Mare-Tal
neben einer Brücke abgesetzt. Wir liefen im Tal nach Süden, gefolgt von unseren
Schatten, die inzwischen auf ihr Minimum geschrumpft waren.
An einem Forsthaus, das Tisa hieß, hätte laut Karte ein Pfad nach Osten führen
müssen, tat es aber nicht. Wir hockten uns unter ein paar Tannen, knabberten
einen Riegel und nahmen den nächsten Weg, der sich rechts in den Wald schlug.
Aus dem Weg wurde irgendwann ein Pfad, aus dem Pfad wurde irgendwann überhaupt
nichts. Halbwüchsige Fichten fuchtelten uns im Gesicht herum, Nadeln stachen
ins Genick, Brombeerranken umklammerten die Beine, wir mussten zurück und
krochen den Hang hinauf.
Rote Punkte leuchteten zwischen den Wanderschuhen. Die Erdbeeren machten zwar
nicht satt, ich brachte es aber trotzdem nicht übers Herz, einfach dran
vorbeizulaufen. Der Penteleu war weit und breit der höchste Punkt im Gelände,
solange es bergauf ging, war alles in Ordnung. Nach einer Stunde lichtete sich
der Wald und zwischen den Bäumen blinkte ein Haus in der Abendsonne, die
Wetterstation unterhalb des Penteleu-Gipfels.
Auf dem Gipfel entdeckte ich am nächsten Morgen etwas, das ich schon seit
Tagen vermisste: auf einem Stein leuchtete ein rotes Band. Ein Pfad, kaum
breiter als meine Schuhsohle, verschwand in nordöstlicher Richtung unter
Heidelbeerbüschen. Mit ihm verschwand auch die Wegmarkierung. „Wie in Sibirien“,
stellte Hans-Jürgen fest. „Dort waren die Wege auch zugewachsen, nur an die
Bäume genagelte Drähte dienten als Wegweiser.“ Hier hatte es nicht mal Drähte,
nur mannshohes, triefendes Tannendickicht, das einen nass machte wie bei einer
Woche Dauerregen. Es hatte keinen Sinn, weiter zu laufen, wir stolperten nach
unten auf ein Stück Wiese. Ärgerlich schaute ich auf meine Karte: Der Berg, der
uns zum Rückzug zwang, hieß „Porcul“ - „das Schwein“.
Hans Jürgen suchte nach einem Weg und fand tatsächlich einen. Fuß- und
Schafspuren zeichneten sich deutlich am Boden ab. Wir passierten eine
Hirtenstation, die es nach meiner Karte nicht geben durfte, kurz danach teilte
sich der Pfad. Wir wählten links und fühlten uns bald darauf verarscht. Eine
Weile latschten wir noch parallel zum Kamm, dann machte der Pfad einen Schwenk
und entließ uns auf eine Forststraße. Keiner hatte mehr Lust, ein drittes Mal
umzukehren, und so bauten wir neben einem Bach, der sich Bâsculița
nannte, die Zelte auf. Über mehrere kleine Staustufen sprudelte uns das Wasser
entgegen, ein Zeichen, dass hier Forellen lebten. Es war eine einfache Methode
das Wasser mit Sauerstoff anzureichern, ich begegnete ihr oft in den Karpaten.
Es regnete, als ich am Morgen aus dem Zelt kroch, um zu pinkeln. Fünf Paar
Wanderschuhe quatschten etwas später durch einen schmierigen, braunen Kleister,
krochen unter mannsdicken Baumstämmen durch, verloren ab und zu den Halt - was
der Träger jedes Mal mit „Scheiße“ quittierte - und standen endlich klitschnass
und besudelt vor einer Hirtenstation.
„Tămășoiul“, sagte ein Opa, als ich mich nach dem Namen der
Stâna erkundigte. Die gab es sogar auf meiner Karte, endlich wieder ein Punkt,
an den wir uns klammern konnten. Der nächste Punkt war ein Forsthaus,
Gheorghiță hieß es. Ich fragte nach dem Weg dorthin, der Mann
verstand mich nicht. Ich musste einen markanteren Punkt finden. Die
Holzfällersiedlung Comandău kannte er und zeigte in eine Richtung. Wir
folgten dem Fingerzeig und standen nach drei Stunden wieder bei dem Opa. Ich war
kurz davor durchzudrehen. „Wenn wir noch einmal im Kreis laufen, gehe ich
zurück nach Siriu und streiche das Penteleu-Gebirge aus meinem Bewusstsein“,
schwor ich mir.
Wir verliefen uns nicht mehr. Dafür versenkte ich im Obârșia-Bach meinen
Rucksack. Zum Glück war nichts passiert, die Benzinflasche hatte ab jetzt eine
Beule und das Klopapier war genauso nass wie meine Socken und musste getrocknet
werden.
Eine Schotterstraße führte nach Comandău, auf ihr herrschte ebensoviel
Verkehr wie bei unserem Einstieg in Siriu. Staub knirschte noch zwischen den
Zähnen, als wir in der Nähe des Dorfladens abgesetzt wurden - unser Blindflug
hatte ein Ende. Der Ort erhielt seinen Namen aufgrund einer österreichischen
Grenzkommandostelle. Eine Grenze bestand in dieser Region bereits seit dem
Mittelalter, als der ungarische König die Szekler hier ansiedelte, damit sie
das Königreich vor Eindringlingen aus dem Osten schützten. Die Nachfahren jener
Szekler leben heute als eine von vielen Minderheiten in Rumänien. Auch in
Comandău sprechen die Leute ungarisch. Sie leben von der Landwirtschaft
und der Holzindustrie, mehrere Sägemühlen zerkleinern die angelieferten Stämme.
Aufgrund des starken Verkehrs - alle fünf Minuten donnerte ein Holztransporter
durch den Ort - steckte der Hauptweg unter einer knöcheltiefen Schlammschicht.
Die Waldeisenbahnen, die in der Vergangenheit den Holztransport übernahmen,
sind heute bis auf wenige Ausnahmen stillgelegt. Von den Bahndämmen hat der Wald
inzwischen wieder Besitz ergriffen.
Covasna lag 12 km nördlich und etwa 450 m unterhalb von Comandău. Wir
erreichten den Luftkurort im Tal der Feen - Valea Zânelor, durchgeschüttelt wie
Mixgetränke und gepudert wie Weihnachtsstollen auf der Ladefläche eines LKWs.
Die Berge über dem Tal erinnerten mich an die Westküste Kanadas. Dort nannten die
Holzfäller das rigorose Abholzen ganzer Berghänge „clear cutting“.
Hans-Jürgen, Uwe und Ulrich wollten die letzte Waldeisenbahn Transsilvaniens
suchen, Michael und ich wollten weiter. Die nächsten vier Tage würden wir im
Ciomatu- und Bodoc-Gebirge den vulkanischen Charakter der Karpaten kennenlernen.
Wir nahmen den Bus zum Bahnhof, Tickets verkaufte die Schaffnerin. Es war witzig,
hier gab es selbst in Bussen Leute, die die Fahrkarten kontrollierten. Noch
witziger aber war, dass unsere Tickets, die ich beim Einsteigen gekauft hatte,
nachher, bei der Kontrolle ungültig waren. Erst eine Diskussion und der
Nummernvergleich überzeugten die Dame, dass die Fahrscheine gültig waren: Wir
durften weiterfahren.
Nördlich von Sfântu Gheorghe erheben sich die Hügel, die sich später
Munții Bodoc nennen. Sie mussten noch eine Weile warten, unser erstes
Ziel hieß Lacul Sfânta Ana. Der St.-Annen-See liegt im südöstlichsten Zipfel
des Harghita-Gebirges, das hier Ciomatu-Gebirge heißt, und ist der einzige
Kratersee der Karpaten.
Wir waren nicht die einzigen Rucksacktouristen, die in Bixad, einem Dorf am
Fuße des Ciomatu-Gebirges, aus dem Zug sprangen und sich in Richtung Berge
vorarbeiteten. Mehr als ein Dutzend Jugendlicher hatte den gleichen Weg. Das war
ungewöhnlich. Zum einen, weil uns in letzter Zeit entweder Waldarbeiter oder
Hirten begegneten, nur keine Wanderer, zum anderen sahen die Typen nicht wie
Wanderer aus. Ich konnte mir zumindest nicht vorstellen, wozu Ghettoblaster in
den Bergen nützlich sein sollten.
Dagegen war ich von den Wegweisern
beeindruckt: Hatte es im Penteleu überhaupt keine, waren sie hier gleich
dreisprachig. Auf rumänisch, ungarisch und deutsch sagte uns ein Schild mit
blauem Kreuz, dass es noch 700 Meter bis zum See waren. Der See hat weder Zu-
noch Abfluss sein Wasser ist gespeichertes Regenwasser, in dem jetzt gebadet
wurde.
Michael trieb es auch ins Wasser. Ich hatte keine Badehose, brauchte auch keine,
da ich immer nackt baden ging. Doch hier konnte ich das nicht, erstens badeten
alle in Textil und zweitens war der See der heiligen Anna geweiht. Ich konnte
keine Schwierigkeiten gebrauchen, hockte mich ans Ufer und kaute Datteln. Aus
einem roten Pick-up wurden gerade Bierkisten für den Strandkiosk entladen, der
einem Bushäuschen ähnelte. Auf dem Weg nach Băile Tușnad, wo wir
Geld wechseln und Essen kaufen mussten, sprudelten kohlensäurehaltige
Mineralquellen aus dem Fels, das Wasser schmeckte wie Clausthaler. Trotz des
Kratersees und der Brausequellen wollte bei mir irgendwie kein richtiges
Vulkangefühl aufkommen. Unter vulkanischem Charakter stellte ich mir etwas vor
wie Schwefeldämpfe, Geysire, Lava, kurzum heiß musste es sein. Hier dagegen war
es nass, der Aufstieg von Băile Tușnad am nächsten Tag war mit
Abstand der feuchteste der ganzen Tour.
Bis zu den Knöcheln im Dreck staksten wir ein schmutzig braunes Etwas hinauf,
das gestern noch ein Weg war. Lehmgelbe Bäche stürzten uns entgegen, das T-Shirt
klebte am Körper und kleine, boshafte Rinnsale bahnten sich einen Weg über Bauch
und Rücken in die Hose, um an den Beinen hinab in die Schuhe zu laufen. Das
alles hatten wir nur unserer Faulheit zu verdanken. Als die ersten Tropfen
fielen, beachteten wir sie nicht, bis es zu spät war. War man dann mal nass bis
auf die Haut, machte es auch keinen Sinn mehr, die Regenklamotten anzuziehen.
Nach knapp drei Stunden traten wir aus dem Wald auf eine Wiese, größer als ein
Fußballfeld.
Zelt an Zelt quetschte sich bis zum anderen Ende, das eine Straße begrenzte.
Wir bahnten uns einen Weg über leere Bierflaschen. Zwischen Plastikbechern und
aufgeweichten Papptellern standen Würstchenbuden und Krimskramsverkäufer. Aus
den Zelten dröhnte Musik, Polizisten regelten den Verkehr auf der Straße. Am
Waldrand hockten ein paar Gestalten unter Plastiktüten und kifften. Hierhin
wollten also die Typen aus dem Zug. Wir hatten keine Ahnung, was hier abging.
Die Straße, der wir folgten, führte nach Turia, so stand es zumindest auf den
Kilometersteinen. Vor dem Hotel Carpați in Turia sprudelten wieder
Brausequellen aus dem Berg. Wir konnten wählen zwischen Kohlendioxid und Eisen,
oder ohne Eisen, dafür mit Bor und Aluminium. Wir wählten Eisen.
Die Berge hinter dem Hotel gehörten schon zum Bodoc-Gebirge. Wir krochen einen
Hang hinauf, irgendetwas roch faul. Der Gestank entwich einer Grotte, es war
Schwefelwasserstoff. Die Wände der Grotte waren gelb vom abgelagerten Schwefel.
Nach einigen Metern versperrte ein Gitter den Weg ins Innere. Das Gitter war
unnötig, stellte ich fest. Aus dem Loch strömten Dämpfe, die einem die Kopfhaut
wegätzten, würde man weiter gehen. Auf einer Tafel am Fels stand, dass hier
Schwefel abgebaut wurde. Auch der Name der Höhle ließ daran keinen Zweifel,
Peștera Puciosul hieß „die Schwefelhöhle“, oder auf ungarisch:
Büdösbarlang - Stinkhöhle. Ich glaubte nun doch an den vulkanischen Ursprung
des Gebietes.
Noch etwas faszinierte mich am Bodoc: links und rechts des Pfades leuchteten
Pfifferlinge, Birken- und Steinpilze sowie Rotkappen zwischen braunen Blättern,
Tannennadeln und Grasbüscheln hervor. Wir brauchten uns nur zu bücken, um die
Pilze einzusammeln. Nach einer Stunde hatten wir genug und brauchten drei Abende
lang keine Nudeln mehr zu kochen.
Gegen Mittag des nächsten Tages erreichten wir den Cașinul-Nou-Paß,
hier endete das Bodoc-Gebirge und das Ciuc-Gebirge begann. Der Pass war nichts
Besonderes, eine Schotterstraße zwischen zwei bewaldeten Hängen mit einem
Monument, das an die Gefallenen ungarischen Revolutionäre von 1849 erinnerte.
Sie kämpften in diesem Gebiet gegen die zaristische Armee Russlands. Mich
erinnerte der Pass an etwas anderes, die Hälfte der Tour lag nun hinter mir.
Die nächsten Kilometer ging es über Wiesen. Etwas Orangenes am Horizont, das
wie ein Zelt aussah, erregte unsere Aufmerksamkeit. Beim Näherkommen entpuppte
sich das Zelt als Auto unter einer Plane, aus dessen Radio Volksmusik dudelte.
Es gehörte zu vier Männern, die hier oben Heu machten. Im Moment machten sie
erst mal Mittag.
In einem rußgeschwärzten Kessel brodelte das Essen. Auf dem selbstgezimmerten
Tisch standen Teller, neben den Tellern Schnapsgläser. Es gab Lammfleisch mit
Kartoffeln und Pilzen, zum Dessert Țuică. Ich fragte nach dem Weg.
Unser Tagesziel hieß Uz-Paß, dort querte laut Karte wieder eine Forststraße das
Gebirge. Mit dem Pass konnte keiner der Vier etwas anfangen. Ich holte meine
Karte raus und zeigte auf die Stelle. Köpfe beugten sich über das Blatt. Die
Karte wanderte von einem zum Anderen und eine heiße Diskussion entbrannte. Da
die vier ungarisch redeten, verstanden wir kein Wort.
Ein Typ mit Strohhut auf dem Kopf, der etwas deutsch sprach - „War schon in
Deutschland. Mit einem Tiertransport bis München und Hamburg.“ - studierte noch
mal die Karte. „20 Kilometer“, stellte er überzeugt fest. Das konnte nicht sein!
„Besser ihr geht zurück bis zur Straße und fahrt per Anhalter, sind bloß 2 km
mehr.“ Ich erklärte ihm, dass wir durch das Ciuc wandern wollten - große Augen,
Unverständnis. „Drei Wochen braucht ihr schon“, war schließlich die Antwort. Wir
hatten drei, höchstens vier Tage geplant. Dass ich durch die ganzen Karpaten
laufen wollte, erzählte ich nicht mehr. Auf die Frage, wie ich es mir leisten
konnte, drei Jahre nicht zu arbeiten, hätte ich keine Antwort gewusst.
Es folgte wieder eine kurze Konversation. Ein etwas korpulenter Herr verschwand
hinterm Auto und kam zurück, zwei sagenhafte Knüppel in den Händen. „Wegen der
Hunde“, meinte der LKW-Fahrer „Da hinter“ - er zeigte auf den nächsten Hügel -
„ ist 'ne Hirtenstation - große Hunde.“ Ich war baff. Sie meinten es gut, aber was
sollten wir mit diesen Steineichen anfangen? Wir wollten die Hunde doch nicht
pfählen. Außerdem hatten wir unsere Teleskopstöcke und bis jetzt noch nie
ernstere Probleme gehabt.
Wenn wir schon ohne Knüppel weiter wollten, ohne etwas gegessen zu haben, ließen
sie uns nicht weg. Wir hockten uns mit an den Tisch. Fett tropfte vom Kinn,
Țuică rann die Kehle runter. Im Radio kamen Nachrichten,
irgendwas von einem Bürgermeister aus Cluj. Die vier fingen plötzlich an zu
schimpfen und fluchten. „Rumänen - Katastrophe“, sagte der Typ mit dem Strohhut.
„Hier Magyaren - keine Probleme. Aber im Norden wieder Rumänen, wieder
Katastrophe.“ Bis jetzt hatten wir die angebliche Katastrophe recht gut überlebt.
Wir überlebten auch die Hunde, sie parierten aufs Wort. Wenn nicht, hätten uns
die Knüppel auch nicht viel geholfen, es waren etwa 20 Stück. Was mir viel mehr
Kopfzerbrechen bereitete: der Hirte kannte auch keinen Uz-Paß. Vermutlich
kannten die Leute nur den ungarischen Namen, den aber kannten wir damals nicht.
Meine Karte war in rumänisch geschrieben. Zu Hause erfuhr ich den anderen Namen:
Rugat-Pass.
Wir erreichten ihn am anderen Morgen um halb zehn. Auf den Wiesen herrschte
jetzt emsiges Treiben. Jeder hatte etwas zu tun, die Frauen luden Heuballen auf
Pferdekarren, die Männer machten Pause.
Ab jetzt orientierten wir uns nur noch nach Kompassnadel und Forstwegen. Führte
ein Weg nicht nach Norden, wurde halt Querfeldein gelaufen. Das klappte ganz
gut, bis wir am Nachmittag wieder mal im Unterholz festsaßen. Ein Slalomlauf
zwischen Kuhfladen brachte uns zu einem Dorf, das ringsherum eingezäunt war.
Eine Stunde dauerte es, bis wir eine Lücke fanden, um auf den Hauptweg zu gelangen.
„Eghersec“, antwortete ein Waldarbeiter, der am Wegrand auf einem Holzhaufen saß,
als ich ihn fragte, wo wir sind.
In den Tälern des Ciuc-Gebirges siedelten szekler Bauern bereits ab dem 11.
Jahrhundert. Die Dörfer ziehen sich oft etliche Kilometer am Ufer der Bäche
entlang bis in die höheren Bergregionen. Für uns hatte das den Vorteil, dass
wir nicht soviel Lebensmittel zu schleppen brauchten. Etwas Brot und Käse, ein
paar Tomaten und Paprika würden wir schon bekommen. Womit wir jedoch nicht
gerechnet hatten, war das meist miserable Angebot der Dorfläden, Magazin Mixt
genannt. Dem Anspruch als Gemischtwarenladen wurden sie schon gerecht. In den
Regalen des Dorfladens von Coșnea, dem nächsten Dorf, langweilten sich
Gläser mit Kirschkompott neben Flaschen mit Alkohol (87%) und getragenen
Damenschuhen. Wir hatten nur noch drei Müsliriegel und brauchten dringend was
zu beißen.
Im Dorf war nichts los, die meisten waren draußen auf den Bergwiesen zum Gras
mähen. Hinter einem Zaun standen ein paar Frauen und Männer rum, die ihren
Selbstgebrannten vom vergangenen Jahr probierten. Ich fragte, ob es hier
irgendwo Brot zu kaufen gäbe. „Bei Victoria“, lautete die Antwort. „Geht 100
Meter zurück, dann rechts.“ Victoria war Ende 50 und hatte nicht nur
selbstgebackenes Brot, sondern ein richtiges kleines Geschäft im Flur ihres
Hauses. Sie verkaufte Tomaten, Zigaretten, Erdbeermarmelade, Schokolade, Bier,
das ebenfalls Ciuc hieß, und vieles mehr. Über den Hof sausten Zwerghühner,
Puten und Gänse und ihre Kunden. Kinder kauften Schokolade, Frauen traten aus
der Tür, Brote unter den Armen und der Dorfpope brauchte ein paar Stahlnägel.
Hinter dem nächsten Pass lag die Gemeinde Lunca de Sus, am Trotuș-Bach.
Dem Tal folgt eine der zwei Bahnlinien durch die Ostkarpaten. Sie verbindet
Transsilvanien mit der Moldau und trennte Michael und mich. Micha musste zurück
nach Deutschland, etwas fürs Studium tun, wie er sagte. Ich musste erst mal
Rumänien verlassen. Mir fiel mein Visum für die Ukraine ein, es galt vom 1.
August bis zum 15. September, heute war bereits der 13. August - die
Waldkarpaten der Ukraine warteten.
Auf Platz 75 im Wagen Nr. 7 saß schon jemand, d.h. das ganze Abteil war voll,
wie seine Insassen, Gendarmen des ersten Diensthalbjahres am Ende ihres Urlaubs.
Ich kramte meine Platzkarte aus der Hosentasche, in der Hoffnung, damit Eindruck
zu schinden. Wenn die nicht wollten, würde mir nichts weiter übrig bleiben, als
es mir auf dem Gang bequem zu machen. Doch es klappte, man rückte zusammen und
ich quetschte mich dazwischen. Mein Nachbar reichte mir 'ne Flasche Kirschlikör
und der Zug setzte sich in Bewegung.
In einem Ort, der Salva hieß, stolperte ich aus dem Zug, es war mitten in der
Nacht. Ich setzte mich auf den Bahnsteig und wartete zähneklappernd auf den
Anschlusszug, der mich nach Sighetu Marmației, der Hauptstadt der
Maramureș, bringen sollte.
Von dort sollte ein Zug nach Rachow in die
Ukraine fahren. Der Zug fuhr, allerdings gestern Vormittag, heute war Samstag.
Der Nächste würde in vier Tagen fahren, erfuhr ich von der Dame hinter dem
Fahrkartenschalter. „Wenn sie in die Ukraine wollen, müssen sie nach Halmeu
oder Siret, wir haben keinen internationalen Grenzübergang“, säuselte sie
lächelnd.
Das hatte mir gerade noch gefehlt, Halmeu oder Siret, beides war ein Umweg, der
mich ein paar Tage kosten würde. Ich entschied mich schließlich für Halmeu, so
konnte ich den „Lustigen Friedhof“ in Săpânța besuchen, er lag an
der Strecke.
Fuhrwerke polterten über die Dorfstraße, je nach Wohlstand des Bauern wurden
sie von einem oder zwei PS gezogen. Den Pferden mit ihren roten Bommeln am Kopf
begegnete eine Herde Kühe, die eine Oma über den Asphalt trieb. Am Straßenrand
watschelten Gänse durch Regenpfützen.
Ich lief durch ein richtiges Dorf, so wie ich es aus Kinderbüchern kannte. Die
Häuser, oft aus Holz, waren mit Lehm verputzt und anschließend blau, gelb oder
pink gestrichen worden. Sie erinnerten mich an die Bergblumen im Bucegi. Über
einem Zaun hing Schafwolle zum Trocknen und vor den meisten Gehöften saßen
Frauen mit Spinnrad, Rocken mit Wolle (caier) und Webstuhl, die aus der Wolle Jacken, Westen, aber
vor allem Decken fertigten.
Doch das Originellste in Săpânța ist sein „Lustiger Friedhof“.
Ion Pătraș, ein Holzschnitzer aus dem Dorf, schuf zu seinen
Lebzeiten die Grabkreuze, auf denen die kleinen Sünden und Laster der
Verstorbenen zu sehen sind. Spieler, Trunkenbolde und Diebe liegen hier
friedlich nebeneinander.
Hirten waren in der Regel gute Menschen, wie mir schien. Ich sah kein Bild, das
einen Hirten einer Missetat bezichtigte. Der Alkohol dagegen musste auf viele
anziehend gewirkt haben. Leider verstand ich die Texte unter den Bildern nicht.
Ein Lieferwagen setzte mich am nächsten Tag in Satu Mare ab, ich gab ihm 5000 Lei
und trödelte zum Bahnhof. Es gab gleich mehrere Züge in die Ukraine, der Nächste
fuhr 15:30 Uhr. Ich schaute auf die Uhr, es war fünf Minuten vor halb vier.
Mit einem Satz stürzte ich zum nächsten Schalter. „Ich kann ihnen kein Ticket
verkaufen“, sagte die Dame. „Das geht nur im Zug beim Schaffner“. Der Zug fuhr
eben ein, ich schnappte meinen Krempel und spurtete auf den Bahnsteig.
Zum Glück hantierte ein Schaffner gerade an einer Abteiltür rum. Ich fragte ihn
nach dem Preis für ein Ticket, Achselzucken war die Antwort. Er verschwand im
Waggon, ich sollte ihm folgen. Er wühlte sich durch den Zug, um mich schließlich
dem Schlafwagenschaffner zu übergeben, der etwas englisch sprach. Ich sollte
mich erst mal setzen. Als sich der Zug in Bewegung setzte, kam er zurück, einen
Taschenrechner in der Hand. „Wir halten in Djakowo und Tschop, wohin willst du?“
fragte er. Djakowo lag gleich hinter der Grenze und somit näher an den Karpaten.
„Djakowo“, sagte ich. Seine Finger sausten über die Tasten des Rechners, er faselte
was von 27 km, kritzelte auf ein Stück Papier herum und kam auf die stolze Summe
von 30 US-Dollar. So was hatte ich vermutet. Satu Mare - Djakowo, das waren
knapp 30 Kilometer, der Typ verlangte wahrhaftig über einen Dollar je Kilometer.
Ich könnte in Halmeu, dem rumänischen Grenzübergang, aussteigen. Aber was, wenn
man mich dort auch nicht rüberließ, ohne ein ordentliches Bakschisch? Wir
einigten uns auf 20 Dollar und er musste mir beim Ausfüllen der Zollerklärung
helfen.
Zwischen Kisten, Säcken und Taschen warteten Leute auf dem Busbahnhof in Suceava
auf ihren Bus. Ich nahm ein Taxi zum Bahnhof. Mein Zug fuhr erst in fünf Stunden,
es war jetzt kurz nach Mitternacht.
Ein Schild im Bahnhof weckte mein Interesse: „Hotel - 100 m - Wir haben neue
Preise.“ stand dort. Ich bin kein Hoteltyp, musste trotzdem ab und zu auf diese
Möglichkeit der Übernachtung zurückgreifen. Meistens, wenn ich wie jetzt mitten
in der Nacht in einer wildfremden Stadt saß, und keine Lust hatte die Zeit auf
dem Bahnhof totzuschlagen. Der neue Preis war akzeptabel - 15 Mark - und das
Zimmer ausgezeichnet - Dusche und Toilette funktionierten.
Am nächsten Tag stapfte ich schon wieder in Traktorenspuren eines Forstweges.
Matsch knatschte unter den Schuhsolen hervor, ich wollte ins
Hășmaș-Gebirge. Es ist der nördliche Nachbar des
Ciuc-Gebirges, das ich vor knapp 4 Wochen verlassen hatte und bildet im zweiten
Drittel mit dem Mördersee - Lacul Roșu und der Bicaz-Klamm den wohl
spektakulärsten Abschnitt der Ostkarpaten.
Gründe, warum ich den Karpatenkamm öfters verlassen musste, gab es einige:
Unwetter, Unfall, den Weg verloren oder Verpflegung kaufen. Doch keiner war so
idiotisch wie kurz vor dem Săcădat-Sattel am Beginn des
Hășmaș-Gebirges.
Der Grashang zu meinen Füßen zog sich sanft in eine Senke, wo eine Sennhütte
ihr Dasein fristete. Ein Hirte stand vor der Tür und sägte Holz. Ich hielt auf
ihn zu. Sieben Hirtenhunde schossen plötzlich aus der Bretterbude in meine
Richtung, umringten mich und tobten, als wenn sie der Teufel ritt. Ich drehte
mich um und lief rückwärts, um die Brut einigermaßen unter Kontrolle zu halten.
Ich hatte völlig den Überblick verloren - vor, neben und hinter mir knurrte und
bellte es. Die Kreise, die die Hunde um mich zogen, wurden immer kleiner. Schon
verbiss sich der Erste in einen meiner Teleskopstöcke. Ich wehrte ihn ab, doch
ein zweiter erwischte mich am rechten Bein. Wild mit den Stöcken um mich
schlagend, sah ich zu, aus der Gefahrenzone herauszukommen. Nach einer Weile
ließen sie tatsächlich von mir ab, zwei oder drei kläfften mir noch hinterher,
dann war Ruhe. Ich hatte schon mehrere Hundeattacken während meiner Tour erlebt,
doch noch nie bin ich gebissen worden, und was mich am meisten aufregte, der
Idiot von einem Hirten hatte keinerlei Anstalten getroffen, seine Hunde
zurückzurufen.
Ich setzte mich auf einen Stein und schaute mir meine Wade an. Die Wunde war
nicht tief, doch sie blutete. Ich holte die Karte raus. Auf dem geplanten Weg
zum Lacul Roșu reihte sich Sennhütte an Sennhütte, zehn Stück zählte ich.
Das war zuviel, ich hatte die Schnauze voll, noch mal wollte ich nicht so 'nen
Spießrutenlauf mitmachen und zog die Notbremse. Querfeldein durchs Gestrüpp
stolperte ich nach unten auf einen Forstweg, er endete in einem Ort der
Bălan hieß.
In der Bergarbeitersiedlung roch es noch förmlich nach Sozialismus. Wenn die
Kioske am Straßenrand nicht wären, wo Coca-Cola, Kippen und Kondome verkauft
wurden, hätte man meinen können, Ceaușescu persönlich schwinge noch das
Zepter. Bauernkaten schlummerten zwischen Plattenbauten, vor der Kupferhütte
brachte eine Kolonne Schichtbusse die Arbeiter nach Mircurea Ciuc, Gheorgheni
oder andere Städte. Das Werk selbst war praktisch tot. Transformatoren rosteten,
Fabrikgebäude zerfielen zu Ruinen, und Rohrleitungen spuckten trübes Abwasser
in den Olt.
Ich folgte einer staubigen Schotterstraße nach Norden. Unter mir blitzte der
Bălan-Stausee, darüber erhoben sich die Kalkwände des
Hășmașul Mare, 1791 m hoch, bleich wie Knochen in der Sonne.
Einhundertunddrei Tage waren seit dem Schneesturm im Godeanu-Gebirge vergangen -
einhundertunddrei Tage hatte ich nicht einen Gedanken daran verschwendet, es
könnte in den Karpaten auch wieder Winter werden - am nächsten Morgen, dem 11.
September, war mein Zelt gefroren.
Die Sonnenstrahlen saugten noch an den Reifkristallen der Ebereschenzweige und
Fichtennadeln, als das Olt-Tal bereits hinter mir lag, und ich in einem Pass
stand, der zum Giurgeu-Gebirge gehörte, dem Nachbarmassiv des
Hășmaș im Westen. „Gheorgheni - 1 Stunde“, stand auf einem
Wegweiser. Ich wollte gar nicht so weit nach Westen abdriften, hatte jedoch auch
keine Lust auf einen neuen Blindflug wie damals im Penteleu, folgte deshalb dem
Wegweiser und trat tatsächlich nach etwa einer Stunde hinter Gheorgheni auf die
Nationalstraße 12 C. Sie führte geradewegs zum Lacul Roșu und durch die
Bicaz-Klamm.
Lacul Roșu, der rote See oder auch Gyilkos tó (ung. - Mördersee) genannt,
verdankt seinen Namen einem Erdrutsch aus dem Jahr 1838. Erdmassen des
Ucigașul-Berges (Gyilkos) rutschten ins Tal, mehrere Gebirgsbäche
stauten sich und bildeten den See, der den Wald im Tal ertränkte. Der fehlende
Sauerstoff und Mineralablagerungen konservierten die Stämme, deren Spitzen noch
heute aus dem Wasser ragen.
Der rumänische Name führt zurück auf den Pârâul Roșu (Roter Bach). Er
gehörte zu den Bächen, die zur Entstehung des Sees beitrugen, eisenhaltige
Minerale gaben seinem Wasser einen roten Farbton. Den Legenden nach, die sich um
den See ranken, starben in den Fluten entweder Schafe, Touristen oder ein böser
Bojar.
Das Einzige, was nicht gut aussah, als mich ein Lieferwagen oberhalb des Sees
absetzte, war ein Holztransporter am Straßenrand, auf dem Führerhaus liegend.
Daran hatte sicher nicht der See schuld, vielmehr der abartige Fahrstil mancher
LKW-Fahrer.
„Die fahren doch die Berge nur im Leerlauf runter, um Sprit zu sparen. Treten
auf die Bremsen, bis diese irgendwann hinüber sind. Die Folge sind Unfälle wie
der hier.“ erzählte mir Mircea, ein Medizinstudent aus Cluj.
Den Abfluss des Lacul Roșu bildet der Bicaz-Bach. Noch plätschert er
lustig neben der Straße, doch nur wenige Kilometer weiter östlich, hat er sich
bis zu 200 Meter in den Kalkstein gefressen und somit die mächtigste Klamm der
Karpaten geschaffen - die Bicaz-Klamm.
Die Asphaltstraße fädelt sich neben dem Bach durch die Felsen, sie stahl der
Landschaft eindeutig etwas von ihrer Wildheit. Touristenbusse hielten an einem
Ende der Klamm, spuckten ihren Inhalt auf die Straße und sammelten ihn am
anderen Ende wieder ein.
Im Gâtul Iadului - dem Höllenschlund, wimmelte es von Ausflüglern. Kiosk an
Kiosk quetschte sich an die Felsen, verkauft wurde, was Geld bringt, billige
Schnitzereien: Krüge, Teller, Löffel, nebenan Lammfellwesten und Tücher. Kinder
rannten mit Schulheften durch die Gegend, zwischen den Seiten getrocknete
Edelweißblüten. Imbissbuden entdeckte ich keine.
Warum gab es keine Imbissbuden? Hotdogs, Pizza und Coca-Cola zu verkaufen, wäre
sicher ein einträgliches Geschäft. Doch vielleicht würden die Abgase der
Holztransporter, Sonntagsfahrer und Touristenbusse den Leuten den Appetit
verderben, mir jedenfalls nicht. Ich holte Brot und Marmelade aus dem Rucksack
und wollte erst mal vespern. Wieder schlich eine Reisegesellschaft die Straße
entlang. Es waren Dänen. Eine Frau trippelte auf mich zu, zeigte auf meine
Schnitte und wollte wissen, was ich da esse. Erstaunen und Enttäuschung kämpften
auf ihrem Gesicht um die Oberhand, als sie erfuhr, dass es gewöhnliche
Kirschmarmelade war, die an meinen Lippen klebte. Sie lächelte unsicher, drehte
sich um und verschwand in der Menge. Vielleicht hätte ich etwas von Rattenblut
faseln und meine Eckzähne zeigen sollen.
Zelten war im Naturschutzgebiet Bicaz-Klamm verboten, ich musste mir ein
Fleckchen jenseits des Spektakels suchen. Hinter einem Schild mit der
Aufschrift: „Der Wald ist unsere Zukunft“, verschwand ein Sandweg im Gebüsch.
Ich brauchte nicht lang zu suchen, konnte aber lang nicht schlafen. Es war
schon stockdunkel, doch noch immer dröhnten Lastwagen über den Asphalt - ihre
Zukunft hinter sich herziehend.
Dochia, die Tochter Decebals, dessen Dakerheer von den römischen Legionen
geschlagen wurde, flüchtete in die Wälder der Karpaten und flehte zu Gebeleizis,
ihrem Gott, er möge sie vor den Römern beschützen.
Jener fackelte auch nicht lang, und verwandelte das Mädchen in einen Felsen,
unterhalb des Ceahlău-Gipfels, sagt die Legende. 1750 m hoch, blickt sie
heute der untergehenden Sonne nach und kann an besonders klaren Tagen sogar ihre
alte Heimat bis zu den Südkarpaten oder gar die Donau sehen.
„Es gab einen Berg in den Karpaten, der für die Daker heilig war, Kogaionon
nannten ihn die Griechen“, erzählte Bogdan vor der Dochia-Hütte auf dem
Ceahlău-Plateau. „Heute kann niemand mehr mit Bestimmtheit sagen, welcher
Berg das war. Omu oder Baba Mare im Bucegi oder der Ceahlău, wird
vermutet.“ Bogdan studierte Theologie in Bukarest. Mit Raluca, einer Bekannten,
sowie Steffi und Mathias, Freunden vom Christlichen Verein Junger Menschen aus
Deutschland, waren sie gestern zu einem Kurztrip auf den Ceahlău gekommen.
Die Vier über die Westflanke von Durău, einem Ferienort, ich über die
Ostflanke von Izvorul Muntelui, einem Bergdorf zwischen Bicaz-Stausee und dem
„Olymp der Moldau“, wie die Rumänen das Ceahlău-Massiv auch nennen.
Auch jetzt umgibt den Ceahlău ein Heiligenschein, nur dass die Vertreter
Gottes keine dakischen Hohepriester sind, sondern orthodoxe Mönche. Zehn Minuten
von der Berghütte steht eine kleine Holzkirche. Sie wurde Christi Verklärung
auf dem Berg geweiht.
Wir besuchten mit Bogdan die Morgenmesse. Ein Mönch schlug mit zwei Holzhämmern
auf ein Brett, Toaca genannt, wie der zweithöchste Gipfel des Massivs. Es war
das Zeichen zum Beginn der Zeremonie. Im Innern der Kirche funkelte und
glitzerte es in Gold und Silber. Die Mönche sangen, einer lief mit einem
qualmenden Topf durch die Gegend. Das ganze dauerte länger als eine Stunde. Für
mich eine harte Geduldsprobe, obwohl mich der Prunk doch irgendwie beeindruckt
hat.
„So ist die orthodoxe Kirche“, sagte Bogdan auf dem Weg zurück zur Hütte.
„Sie missioniert die Menschen nicht, wie die Katholiken, sie werden verführt.
Das sollte sich ändern.“
Die Rezeption war noch geschlossen, wir brauchten unsere Pässe. Bogdan sagte
etwas zu einem Typen, der im Vorraum herumlungerte. Dieser verschwand, kurz
darauf torkelte schlaftrunken der Hüttenwart aus seinem Zimmer, den Schlüssel
der Rezeption in der Hand.
Mit Raluca, Bogdan, Steffi und Mathias stieg ich auf zum Toaca-Gipfel, es ist
der einzige Gipfel in den Karpaten, den man über eine Holztreppe erreicht. 445
Stufen (einige fehlten schon) führen nach oben.
Der Abstieg nach Durău dauerte knapp drei Stunden. Die Vier hatten im
Ort ein Zimmer gemietet und wollten mich am nächsten Tag mit nach
Toplița nehmen, zu Bogdan's Tante, von dort könnte ich weiter ins
Călimani-Gebirge.
„24 Prozent Ungarn leben bei uns in Toplița, ab 20 Prozent dürfen laut
Gesetz die Ortsschilder zweisprachig sein. Doch die Ungarn wollen keine
Übersetzung des rumänischen Namens, die wollen ihren alten Namen, als Transsilvanien
noch zu Österreich-Ungarn gehörte - Maroshévíz oder so. Wie hört sich das denn
an! Darüber ist noch nicht das letzte Wort gesprochen!“ schimpfte Bogdans Tante.
„Ins Călimani willst du? 40 Jahre war ich Geographielehrerin und mit
meinen Kindern oft im Călimani unterwegs. Eine ökologische Katastrophe
ist es heute. Schwefel haben sie unter Ceaușescu abgebaut, bis es sich
nicht mehr gelohnt hat, '88 war schluss. Schwefel war mit Titan vermischt;
konnten es nicht trennen. Einen ganzen Berg haben sie abgetragen und eine Höhle
zerstört, die es sonst nirgends in Rumänien gab, Schokoladenhöhle wurde sie
genannt. Die Stalagmiten und Stalaktiten waren nicht aus Kalkstein, sondern
aus Vulkangestein.“
Inzwischen kam Bogdans Onkel ins Zimmer, eine Wanderkarte in der Hand. Ich
bekam meine Instruktionen über die Route.
„Du musst zu den Zwölf-Apostel-Felsen gehen“, sagte er. „In der Gegend stecken
Steine in der Erde, wie auf den Osterinseln“, ergänzte die Tante.
„Wenn du schnell bist - der Onkel fuhr mit dem Finger über die Karte - kannst
du es morgen bis zum Rețitiș-Gipfel schaffen. Dort hat es eine
Wetterwarte, frag, ob du da schlafen kannst - morgen soll es schneien. Wenn es
friert, oder neblig ist, geh nicht über den Pietrosul. Ein Pfad, hier, siehst
du, mit rotem Punkt markiert, umgeht den Gipfel.“
Noch auf keiner Etappe wurde ich derart gründlich vorbereitet wie für diese,
es konnte nichts mehr schief gehen.
„Genug geredet!“ - erscholl es aus der Küche - „Jetzt wird gegessen!“ Auf dem
Tisch stapelten sich bald Salatschüsseln, Braten, Schafskäse, Grillwürste und
Mămăligă. Als Vorspeise löffelten wir Gemüsesuppe zum
Nachtisch wurde Apfelschnaps und natürlich Țuică gereicht.
„Unter Ceaușescu lebten die Rumänen wie die Pinguine“, sagte Bogdan.
„Warum?“ fragte ich. „Sie hockten in der Kälte, aßen bloß Fisch und klatschten
laufend Beifall, das ist vorbei.“
Ich war mir nicht so sicher, was die ersten beiden Punkte betraf. Sicher war
auch nicht, wo wir heute schlafen würden. Im Haus von Bogdans Verwandten war
nicht genug Platz für fünf Personen. Wir hatten die Wahl, entweder zelten im
Garten oder in einem Kloster außerhalb der Stadt übernachten. Wir gingen ins
Kloster.
Vater Victor lebt als einziger Mönch im Kloster. Für mich stellte er den
klassischen Fall eines Aussteigers dar. Den Job als Forstingenieur hängte er
an den Nagel, schlüpfte in die Mönchskutte und wurde ein Diener Gottes. Etwas
hat Vater Victor aus seinem früheren Leben mitgebracht - eine schwedische
Motorsäge. „Wir brauchen im Winter Holz zum Heizen. Wir kaufen das Holz beim
Förster, den Baum fälle ich selbst. Unter Ceaușescu musste man flexibel
sein genauso wie jetzt im Kloster“, erzählte er uns.
„Die Gegend um Toplița ist der Kältepol Rumäniens. Minus 46 ℃ hatten wir
schon gehabt. Bei den Temperaturen friert mir der Messwein fürs Abendmahl. Ich
habe Schuhgröße 39, im Winter 43, wegen der Socken. Als ich hier im Kloster
anfing, waren wir zu dritt. Für die zwei anderen Mönche war das Leben hier oben
zu hart.“ Jetzt halfen dem Mönch zwei Gendarmen im Grundwehrdienst. Auf dem Hof
liefen Schweine, Schafe und Hühner zwischen Blumenbeeten und Obstbäumen. Ein
Hund zerrte an seiner Kette und bellte. Neben dem Eingang stand ein VW Jetta,
dem Nummernschild nach aus Recklinghausen. „Den hat uns die Polizei hochgebracht,
ist vermutlich geklaut“, sagte der Mönch. „Wir können ihn zum Einkaufen nutzen,
bis er wieder abgeholt wird.“
Dreihundertundvierzig Jahre hat die Klosterkirche auf dem Buckel und einiges
mitgemacht. „Drei Eimer gefüllt mit Gold bekamen die siebenbürgischen Baumeister.
Sie hatten die Aufgabe ein Kloster aus Stein zu errichten. Doch sie bauten nur eine
Holzkirche, das Geld floss in ihre eigenen Taschen“, erzählte Vater Victor.
Heute gibt es nicht mehr viele Klöster dieser Art in Rumänien. Auf Befehl von
Maria Theresia wurden die meisten kleinen orthodoxen Klöster zerstört. Dieses
überlebte, da man es der griechisch-katholischen Kirche geschenkt hatte. Doch die
nutzte es nicht, jetzt hält wieder ein orthodoxer Mönch die Messe.
Trotz Kältepol und Schlechtwetterprognosen schneite es nicht am nächsten Tag,
es regnete. Ab 1500 Meter gesellte sich auch noch Nebel dazu. Mich führten rote
Kreuze in den Rețitiș-Sattel, von einer Wetterwarte keine Spur.
Zwischen Latschenkiefern und Blaubeerkraut suchte ich mir einen Platz. Ich hatte
noch nicht mal den letzten Hering im Boden versenkt, als sich die Nebeltropfen
an den Spannschnüren bereits in winzige Eiskristalle verwandelten.
Die Kälte kroch zu mir in den Schlafsack, Komforttemperatur -12 ℃, stand unter
dem Modell im Ausrüstungskatalog. Es war nicht nur unkomfortabel, ich fror
entsetzlich. Erst als ich die Fleecejacke anzog, die Ohren unter meiner Mütze
vergrub, und aus dem Schlafsack bloß noch die Nasenspitze herausschaute, fühlte
ich mich besser.
Ein Paar verquollene Augen blickten am nächsten Morgen aus der Apsis direkt auf
die ökologische Katastrophe. Die Sonne schob sich Stück für Stück über den
Horizont und hüllte das Bergbaugelände unter mir in ein warmes, sattes Orange.
Im wahrsten Sinne des Wortes hatte man dort unten Berge versetzt. Das Gelände
ähnelte einem Tagebau, war aber ein Vulkankrater - 10 km Durchmesser.
Mein Zelt stand wieder von selbst, von der Decke hingen kleine Eiszapfen -
gefrorenes Kondenswasser. Ich hatte etwa zweihundert Meter unterhalb der
Wetterwarte gezeltet. Der Weg lief auf gleicher Höhe am Kraterrand entlang.
Obwohl die Sonne schien, befolgte ich den Rat von Bogdans Onkel und ging nicht
über den Pietrosul, sondern folgte den roten Punkten durchs Erdgeschoß, ich
brauchte Wasser.
Ich achtete stets darauf meine beiden 1,5-Liter-Flaschen, bei der ersten
Quelle, der ich begegnete, aufzufüllen. Das Wasser reichte dann den ganzen Tag,
selbst am Abend zum Kochen, wenn ich mal an einem Platz zeltete, wo kein Wasser
in der Nähe war.
Ich schraubte gerade den Deckel auf die zweite Flasche, als ich etwas sah, was
ich von meinen Touren in Kanada bestens kannte - neben einem Kiefernbüschel lag
Bärendreck. Ich hatte bereits meinen Glauben an den Karpatenbären verloren,
doch ihn gab es wirklich. Seit unserem Abstieg vom Godeanu, Anfang Juni, wies
nichts mehr auf seine Existenz hin. Jetzt war Mitte September und für die Bären
Zeit, um sich noch mal richtig vollzufressen. Singend und mit den Stöcken
klappernd lief ich weiter.
Nach Westen verschwand ein Wanderweg mit blauem Kreuz markiert. Er führte laut
Wanderkarte zum Tihuța-Pass. Tihuța-Pass? Der Name kam mir
bekannt vor. Ich wühlte meine Transsilvanienkarte aus dem Rucksack. Da man sie
in Budapest gedruckt hatte, verwendete sie auch die ungarischen Bezeichnungen.
Ich suchte den Pass: „Borgói-h.“ stand dort. Jetzt dämmerte es.
„Am Borgopass wird mein Wagen Sie erwarten und zu mir bringen.“ schrieb der Ire
Bram Stoker in seinem Roman. Erwartet wurde Jonathan Harker, Anwaltschreiber aus
Exeter, von einem adligen Herrn mit Weltruhm - Graf Dracula. Und das Beste war,
ich lief geradewegs durch die Gegend, in der laut Stokers Beschreibung, Draculas
Schloss stehen sollte. Nun, ich fand weder einen furchtbaren Abgrund, noch ein
teuflisches Schloss, dafür etwas sehr Heiliges, vor mir auf dem Kamm erhoben sich
die Felsen der 12 Apostel - schwarz wie Klostermönche.
Immerhin hatte sich Stoker in einem Punkt nicht geirrt: Wald umgab mich bis
zum Horizont, dort sah ich, wie damals in der Ukraine die Zacken des
Rodna-Gebirges, meinem nächsten und vorläufig letzten Abschnitt in den Karpaten.
In Vatra Dornei kaufte ich noch einmal Verpflegung. Ich rechnete mit einer Woche
für die Etappe Vatra Dornei - Borșa. Zwei Wege führten zum Rotunda-Pass am
Ostende des Rodna-Gebirges, über die Bergkette des Suhard-Gebirges oder durch das
Tal der Goldenen Bistritz. Den Beinamen „Goldene“ erhielt die Bistritz aufgrund
des Laubes der Bäume, das sich, jedes Jahr zur Herbstzeit, im Wasser des Flusses
spiegelt. Das Tal und der Fluss waren vor allem durch einen Beruf bekannt, den
es heute in Rumänien nicht mehr gibt - das Flößerhandwerk.
Die Arbeit der Flößer war hart und gefährlich. Die Männer starteten am Abend,
wenn die Schleusen in Cârlibaba geöffnet wurden und es genug Wasser hatte, und
fuhren die ganze Nacht durch. Für einen Hungerlohn schossen sie auf den Stämmen
über die Stromschnellen der Bistritz, immer darauf achtend, dass sich die Flöße
nicht verkeilten. Passierte es doch, hatte der Mann am Steuer kaum noch eine
Chance. Tonnenschwere Stämme schoben sich übereinander, brachen, stellten sich
auf und schlugen ins Wasser, der Flößer wurde zermalmt. Viele verloren auf die
Art ihr Leben. Wer nicht auf dem Fluss starb, den rafften Tuberkulose und
Rheumatismus dahin.
Cârlibaba lag hinter mir, neben mir plätscherten die Wellen der Goldenen
Bistritz. Der Bicaz-Stausee hatte den Fluss gezähmt. Hinter einer
Gebirgsjägerkaserne zweigt ein Forstweg ab nach Süden. In dem dunkelblauen
Dacia, der neben mir hielt, saßen schon vier Männer - Waldarbeiter. Ich
quetschte mich und meinen Rucksack dazu. Eine Hand war noch mit der Autotür
beschäftigt, die andere griff bereits nach der angebotenen Brandweinflasche.
Nach zwanzig Minuten stand ich im Rotunda-Pass - das letzte Gebirge auf meiner
Tour wartete.
Ich fühlte mich wie Dschingiskhans Enkel Batu, der von dieser Stelle 1241 mit
seinem Heer durch die Karpaten brach, um Siebenbürgen zu verheeren. Von einer Art
Freudentaumel gepackt, stürmte ich los, um schon nach der ersten Wegbiegung wie
versteinert dazustehen. Der Weg führte mitten durch eine Sennstation.
Der 14. September galt in Rumänien als Tag des Almabtriebs, heute war der 19.
Die Station müsste also lehr sein. War sie aber nicht. Zehn bis fünfzehn weiße
Häufchen lagen vor dem Zaun in der Sonne und pennten. Verschwitzte Hände
umklammerten die Griffe der Teleskopstöcke, wacklige Beine setzten einen Fuß
vor den anderen. Ein Häufchen hob den Kopf, sprang auf und die Meute stürzte
auf die willkommene Abwechslung im Leben eines Hirtenhundes los. Zum Glück
stürzte noch jemand, der Hirte aus seiner Hütte. Er brüllte etwas, die Hunde
wurden langsamer, er brüllte lauter und schmiss seinen Knüppel, die Hunde
standen still.
„Hast du Zigaretten?“ fragte er mich. Er mochte so um die zwanzig sein. Ich
gab ihm ein paar und wollte den Rest wieder einpacken, falls ich noch mal
welche brauchte. Doch der Hirte schlug mir einen Tausch vor, die ganze
Schachtel gegen Schafskäse. Das überzeugte mich.
In der Hütte flackerte ein Feuer, darauf stand ein Topf mit
Mămăligă. Ein Opa rührte den Maisbrei mit einem gewaltigen
Holzlöffel. Neben ihm standen mehrere Holzkübel, randvoll mit Schafskäse und
an den Wänden hingen Leinensäcke ebenfalls mit Käse gefüllt.
Fünf Hirten wirtschafteten auf der Stâna, jeder hatte eine Herde. Die Anzahl
der Schafe aber war nicht der einzige Grund, warum die Schäfer so viele Hunde
besaßen. „Es leben viele Bären in den Wäldern“, sagte Mihai der Jüngere. „Zu
viele. Schießen darf man einen Bären erst, wenn er mehr als 7 Millionen Lei
(1700 Mark) Schaden angerichtet hat. Er müsste etwa 10 Schafe töten. Dann kommt
entweder der Jäger oder ein Ausländer, der bezahlt. Meistens ein Ausländer.“
Die Hunde lagen wieder in der Sonne und dösten. Es waren echte
Karpatenschäferhunde, die einzige reinrassige Hunderasse in Rumänien. Ich
erfuhr, dass Deutsche und Amerikaner bereit sind, bis 500 Dollar für einen
Welpen zu zahlen.
„Kommt essen, Kinder“, rief der Opa. Wir stopften uns mit Maisbrei und
Schafskäse voll, mit Schafsmilch und Wasser wurde nachgespült. Ich erfuhr,
dass der Almabtrieb in den Karpaten nicht mehr so genau genommen wurde.
„Solange die Schafe was zu fressen finden, bleiben die Hirten in den Bergen“,
erzählte Mihai. „Wir bleiben bis zum Winter.“
Es war bereits spät am Nachmittag, als ich mich, zum Platzen voll, von den
Hirten verabschiedete. Mit einem 2-Kilo-Klumpen Schafskäse im Gepäck arbeitete
ich mich den Berghang hoch zum Großen-Lala-See. Wolken krochen die Berghänge
herab, die Dämmerung von Osten herauf. Mein Kocher spielte verrückt - brannte
nur noch auf zwei Flammen.
Irgendetwas beunruhigte mich am nächsten Morgen. In der Nacht plagte mich
Schüttelfrost und um mich herum herrschte eine eigenartige Stille. Ich lugte
nach draußen - die Berge hatten sich umgezogen. Den einzigen schneefreien Platz
bildete das Fleckchen unter der Apsis meines Zeltes. Der Rest verschwand unter
einer 10 cm dicken Schneedecke, Flocken wirbelten mir um die Nase. Ich schlüpfte
zurück in meinen Schlafsack und wartete, gegen zwei Uhr nachmittags hörte es
auf zu schneien.
Das Weiß der Umgebung brannte in den Augen, als ich mich aufrappelte, um zum
Rodna-Hauptkamm aufzusteigen. Ich musste lachen, meine Tour hatte mit Schnee
begonnen, sie endete auch mit Schnee. Der Kamm lief von Ost nach West, ich
folgte ihm größtenteils auf der Südseite, wo am folgenden Tag nur noch die
weißen Bärte der Grasbüschel an den Wintereinbruch erinnerten.
Erst Morgen würde ich vom Hauptkamm nach Norden abzweigen, über den Pietrosul
kraxeln und nach Borșa absteigen.
Die Sonne ließ das Nylon meines Zeltes aufleuchten, ich setzte mich davor und
wartete, bis sie Brot und Tomaten aufgetaut hatte. Nach dem Frühstück überschritt
ich die Grenze zum Naturreservat Pietrosul und kletterte auf einen Berg, der laut
Karte Buhaescu Mare, laut Routenbeschreibung Buhaiescu Mare hieß. Die Szenerie
war gewaltig, tief im Süden schemenhafte Berge, ich kannte sie - Munții
Făgărașului.
Am Rebra-Gipfel wechselte der Pfad nach Norden. Eis stellte sich mir in den
Weg, in zweimeterbreiten Rinnen stürzte es sich den Steilhang hinunter. Stellen,
die ich sonst mit zwei Schritten überquert hätte, wurden zum Problem. Die
Spitzen der Stöcke rutschten über das Eis - meine Schuhe dito. Fast eine halbe
Stunde bastelte ich an einer Strecke von etwa hundertfünfzig Metern. Auf eine
Wintertour war ich in keiner Weise vorbereitet, weder was meine Ausrüstung
betraf und erst recht nicht in meinem Kopf.
Den höchsten Berg der Ostkarpaten erreichte ich am Mittag. 2303 Meter hoch
nennt er sich - wie sein Kollege im Călimani-Gebirge - Pietrosul. Unter
mir spiegelten sich die Sonnenstrahlen im Eis des Lacul Iezer - Iezer-See und
im Tal lag Borșa mit den Bergen der Maramureș im Hintergrund. Es
war geschafft.
Dienstag - 23. September: Nach exakt 4 Monaten endete nicht nur meine Tour durch
die Karpaten, sondern auch ein unvergessliches Abenteuer im Herzen Europas. Ich
war nicht deprimiert, auch wenn ich meinen Plan einer Komplettdurchquerung
aufgegeben hatte. Wie heißt es doch: Der Weg ist das Ziel, und ich werde den
Weg zu Ende gehen - versprochen!
Die Bukowina, das Buchenland, beginnt im Nordosten der Ostkarpaten Rumäniens
und reicht weit in die Ukraine.
Mit Uli besuchte ich vier der berühmten Moldau-Klöster: Voroneț,
Moldovița, Sucevița und Putna. Berühmt sind die drei ersten
aufgrund ihrer Außenfresken, in Putna befindet sich das Grab Stefan des Großen,
Fürst der Moldau zwischen 1457 - 1504 und Stifter zahlreicher Klöster in der
Region. Voroneț und Putna wurden u.a. auf sein Geheiß gebaut, anlässlich
seiner Siege über die Osmanen.
Unser erster Abstecher galt Voroneț, auch die „Sixtinische Kapelle des
Ostens“ genannt.
Das Kloster liegt am Ende des Dorfes. Schier endlos zieht sich die Straße durch
den Ort. An jedem dritten Haus fragten uns die Leute, ob wir ein Zimmer wollen.
Bei einem Typen, der etwas deutsch sprach, sagten wir endlich zu.
50 000 Lei inklusive Abendbrot kostete das Zimmer bei seinem Onkel, ein Opa
um die 70.
Wir wuschen uns in einer Schüssel auf dem Hof. Das Plumsklo, ein Wassereimer, der
schon überquoll, stand in einer Schuppennische.
Der Neffe des Opas stand den ganzen Tag an der Dorfstraße und fing Touristen ab,
um ihnen ein Zimmer zu vermitteln. Er war Elektronikingenieur, wie er sagte und
arbeitslos. „Hier finde ich keine Arbeit“, erzählte er uns. „In Suceava hätte
ich eine Stelle bekommen, wenn ich dem Chef 2 Millionen Lei (500 Mark) Kaution
hinterlegt hätte.“
Am Morgen machten wir uns auf zum Kloster. 1488 ließ es Stefan der Große erbauen.
Die Außenfresken entstanden jedoch erst 1547 auf Weisung des Metropoliten Grigore
Rosca. Blau ist die dominierende Farbe, die die Künstler verwendeten. Mit dem
Jüngsten Gericht an der Westwand der Klosterkirche schufen sie ein Kunstwerk,
das weit über die Karpaten hinaus berühmt wurde.
Moldovița hieß unser nächstes Ziel. Erbaut wurde es 1532 unter Petru
Rareș, dem Sohn Stefans, Moldaufürst zwischen 1527 - 38 und 1541 - 46.
Die Fresken malte 1537 ein unbekannter Künstler. Rot ist die vorherrschende Farbe
am Kloster Moldovița. Leider sind die Bilder an der Wetterseite vom Regen
fast gänzlich ausgewaschen.
Die Belagerung Konstantinopels zeigt holde Christen mit Reliquien der heiligen
Maria im Kampf gegen grimmige Türken. Obwohl Maria die Stadt nicht gegen Türken
im 15. Jh. sondern gegen Perser und Awaren im 7. Jh. beschützt haben soll, sagt
die Legende. Doch um das Feindbild aufzupolieren, tat man in der Geschichte
des Öfteren einen Griff in die Trickkiste.
„Es ist schwer die Fresken zu erhalten“, so Schwester Tatjana. „Die
Zusammensetzung der Farben war ein Geheimnis der Künstler, das sie mit ins Grab
nahmen.“ Ein Rätsel bleibt auch der Grund für die Außenbemalung der
Klosterkirchen. War es eine Modeerscheinung? Oder wollte man den Bauern auf
einfache, verständliche Art die orthodoxe Lehre näher bringen?
Die Schwester wollte uns ein Zimmer vermitteln doch die Bergwiese hinter den
Klostermauern lud förmlich zum Zelten ein. „Auch gut“, sagte sie. „Braucht ihr
nichts zu bezahlen.“
Ein Bauer trieb gerade seine Kühe ins Dorf, als wir einen Platz für unser Zelt
gefunden hatten. „Ist Florea Neagra (Schwarze Blume) dabei?“ fragte seine Frau,
die dem Bauern entgegen kam. „Ja, dort unten läuft sie doch“, war die Antwort.
Das Mütterchen war zufrieden.
Wir nicht, Wolken zogen auf und es begann zu regnen. Es regnete die ganze Nacht
durch, Wasserbäche schossen unter die Apsis und in die Rucksäcke. Es dauerte
eine Weile, bis wir am Morgen die Sachen getrocknet hatten und uns nach
Sucevița, dem dritten Kloster aufmachten.
32 Kilometer sind es bis Sucevița. Ein weißer Lieferwagen mit Zuckersäcken
im Laderaum setzte uns direkt vor dem Klostereingang ab. Wir waren nicht die
Einzigen. Mehrere Busse mit Schulkindern warteten auf dem Parkplatz vor dem
Kloster.
Die letzten Schultage vor den großen Ferien nutzte man für Ausflüge wie diese.
Die Kinder kauften Ikonenbildchen und die orthodoxe Kirche kämpfte auf die Art
erfolgreich um zukünftige Seelen für den rechten Glauben.
Das Kloster liegt eingebettet zwischen bewaldeten Hügeln des Obcina Mare
Gebirges. Wie die Wälder sind die Farbtöne der Fresken überwiegend grün. Die
Klosterkirche umgibt eine Mauer, mächtig wie die einer Festung. Auf Befehl des
Fürsten Ieremia Movila gebaut, ist Sucevița das letzte Kloster, das
Künstler in den Jahren 1595 - 1606 mit Fresken bemalten.
Die Himmelsleiter bildet den Blickfang an der Nordwand der Klosterkirche. Die
Braven folgen den Stufen hinauf zum Himmel, die Sünder werden von Teufeln in
den Höllenschlund gezogen.
Eine Nonne führte uns durch die Ausstellung im Innern der Kirche und erklärte
die einzelnen Gegenstände. So erfuhr ich z.B., dass der schräge Balken des
russisch-orthodoxen Kreuzes (ein Geschenk des Zaren) die zwei Räuber am Kreuz
Christies symbolisiert. „Die nach oben zeigende Seite steht für den guten
Räuber“, sagte sie. „Dieser kommt in den Himmel. Die nach unten zeigende Seite
steht für den schlechten Räuber, der zur Hölle fährt.“
Wir mussten auch fahren, jedoch nach Putna, unserem letzten Kloster. Ich fragte
den Dorfpolizisten, ob ein Bus nach Putna fahren würde.
„Bis Putna nicht“, antwortete der Mann. „In ein paar Minuten fährt einer bis
Radauți. Stellt euch vor das Polizeischild, er wird dann halten.“ Der
Tipp war gut, der Bus hielt tatsächlich. Mit dem Personenzug Iași-Putna
fuhren wir weiter in das Dorf nahe der ukrainischen Grenze.
1470 wurde das Kloster unter Stefan dem Großen erbaut. Hier liegt der
Moldaufürst auch begraben.
Freskenbemalung besitzt die Klosterkirche von Putna nicht, da sie nach Zerstörung
des Originals, 1662 wieder aufgebaut wurde.
„Taxa fotografia“, rief jemand hinter unserem Rücken. Uli wollte gerade eine
Aufnahme der Kirche machen, als ein Uniformierter 10 000 Lei verlangte. Ich
wunderte mich, in Moldovița und Sucevița durften wir fotografieren,
ohne eine Klosterspende zu entrichten.
Auf dem Weg zurück ins Dorf wies ein Schild nach rechts zu einem Einsiedler.
Uli wollte ihn nicht besuchen. „Das ist ein Typ, der sich weder Haare noch
Fingernägel schneidet und dafür Geld haben will“, war die Begründung -
ich fand sie toll.
Petrus nicht, mit einem Gewitterguss durchnässte er uns bis auf die Knochen.
Tropfend bekamen wir ein Zimmer im Ort. Der Hofhund mochte uns auch nicht,
wütend bellte er und zerrte an seiner Kette. Sein Vorgänger aber, lag sauber
ausgebreitet und gegerbt als Bettvorleger in unserem Zimmer.