(Karpatentour Juli 1994 – Rumänien)
Es ist ein heißer Sommertag. Dana, Tudor und ich sind gerade mit dem Zug in Zărnești angekommen. Unser Ziel ist die Berghütte Plaiul Foii am Fuße des Königstein. Etwa 13 km auf einer staubigen Forststraße sind es bis dorthin. Ob Uli, mein Wanderfreund aus Deutschland, schon auf uns wartet? Einen lang gehegten Wunsch möchte ich mir erfüllen – eine Bergwanderung über den Kamm des Fogarascher Gebirges. Im Moment läuft es sich überhaupt nicht gut, die neuen Bergschuhe drücken. Da will ich über den Kamm des höchsten Massivs der rumänischen Karpaten laufen und schon kurz hinter Zărnești ärgert mich die erste Blase.
Schon von Weitem sehen wir Uli auf einer Anhöhe vor seinem Zelt stehen. Es hat also alles geklappt. Er hält schon mal ein paar Begrüßungsbiere bereit, Tudor holt eine Flasche Țuica aus dem Rucksack und so stoßen wir erstmal auf unsere bevorstehenden Bergabenteuer an.
Uli hatte gestern schon einen Ausflug zum Königstein gemacht. „Immer nachmittags so gegen zwei fängt es an zu regnen“, meint er. So ist es auch heute. Ein Schauer treibt uns in die Zelte.
Heute beginnt unsere Bergtour. Zuerst einmal müssen wir der Forststraße weiter folgen bis zur Forststation Rudărița, das sind etwa 9 km. Als Uli vor 15 Jahren die Tour das erste Mal lief, fuhren Holztransporter in Richtung Rudărița. Vielleicht haben wir Glück und ein Auto nimmt uns ein Stück mit. Ein Auto kommt nicht, dafür ein Bauer mit einem Pferdekarren. Er stoppt. Einer neben dem anderen drängeln wir uns auf den Wagen. Dana erwischt noch den besten Platz, vorn neben dem Kutscher. Uns tut dagegen schon nach ein paar Metern der Hintern weh und jeder sehnt sich danach, zu laufen. Kurz vor Rudărița halten wir, stecken dem Kutscher 1500 Lei zu. Dann geht es zu Fuß weiter.
Tudor erklärt mir die Herkunft des Wortes Rudărița. Es stammt aus der Zigeunersprache. Rudă ist die Bezeichnung eines Zigeunerstamms und Rița eine Frau aus dem Stamm der Rudă. Die Gliederung dieses Volkes ist also etwas komplexer als hierzulande der Einfachheit halber (oder Ignoranz?) zwischen Sinti und Roma.
Es gibt zwei Möglichkeiten von Rudărița aus ins Gebirge aufzusteigen. Der eine Weg ist mit rotem Kreuz, der andere mit rotem Punkt gekennzeichnet. Uli hat die Tour 1979 schon einmal gemacht. Er muss jetzt Guide spielen.
Eine Frau sagte ihm damals, dass die Deutschen immer den Roten-Kreuz-Weg nehmen, die Ungarn dagegen den Weg mit dem roten Punkt. Wir entscheiden uns für den Roten-Punkt-Weg, da er laut Wegbeschreibung einfacher sein soll.
Steil geht es erst mal nach oben, später zieht sich der Pfad sanft ansteigend über den Bergrücken. Gegen halb eins ziehen Regenwolken auf und bald darauf fallen die ersten Tropfen. Dana und Tudor stopfen sich Plastiktüten in die Schuhe und eine größere über den Kopf, um sich so vor dem Regen zu schützen. Uli hat seine ABC-Schutzplane aus NVA-Beständen dabei. Ich vertraue meiner Regenbekleidung.
Wir erreichen eine Sennhütte und wollen erstmal abwarten, bis sich der Regen verzieht. Vier Stunden sind wir schon unterwegs seit Rudărița. In der Hütte liegt Feuerholz. Tudor ist glücklich, kann er doch endlich seine Axt zum Einsatz bringen. Dana ist Spezialistin im Feuermachen und schon bald prasselt ein Feuerchen. Tudor schnitzt noch ein paar Spieße und holt aus dem Rucksack eine Portion Schweinespeck hervor. Jeder bekommt einen Spieß und ein Stück Speck. So können wir Speck über dem Feuer grillen und unsere Fettreserven auffrischen. Bei dem zischenden Geräusch des Fettes, wenn es ins Feuer tropft, läuft mir das Wasser im Mund zusammen.
Gegen 16:30 Uhr hört es auf zu regnen. Uli kann unser Ziel, das Comisu-Joch, schon sehen. Sollen wir bleiben oder weiterlaufen? Nach unserem Festmahl entscheiden wir uns doch noch, weiter zu laufen. Es ist schon spät und bis zu unserem Tagesziel brauchen wir noch eine knappe Stunde. Nachdem wir den Cholesterinspiegel mit Fett gefüttert haben, sind wir durstig. Leider geben unsere Trinkflaschen nichts mehr her.
Uli und ich sammeln alle Flaschen zusammen und gehen auf Wassersuche. „Damals gab es im Comisu eine Quelle. Wir hatten sie zufällig entdeckt“, sagt Uli. Auch diesmal finden wir die Quelle erst nach längerem Herumirren durch Zufall. Sie ist völlig zugewachsen, ein kleines Rinnsal plätschert den Hang hinunter. Die Sonne scheint. Vor uns breitet sich die gesamte Westflanke des Königsteins aus.
Mit zwei Wanderern, die gerade aufgestiegen sind, und zwei herrenlosen Hirtenhunden, die, weiß der Teufel, woher plötzlich aufgetaucht sind, gehen wir die letzten Meter bis in den Sattel. Es ist 20 Uhr. Vom Königstein ist nichts mehr zu sehen. Kaum ist der letzte Hering im Boden versenkt, öffnet der Himmel alle Schleusen. Wir verschwinden schleunigst im Zelt. Über eine Stunde dauert das Unwetter, kurz nach neun klart es auf.
Die Nachricht von Dana und Tudor überrascht uns am nächsten Morgen. Die Nacht war kalt und sie haben nicht die Ausrüstung, die für so eine Bergtour nötig wäre. Sie wollen absteigen. Wir geben ihnen zur Sicherheit Ulis Zelt mit. Auf mich wirkt es nicht sonderlich bergtauglich. Zwei Zelte müssen wir nicht über den Kamm schleppen. Als Treffpunkt einigen wir uns auf Sibiu (Hermannstadt).
Dann geht es los. Je höher wir steigen, desto kälter wird es. Bald liegt die Baumgrenze hinter uns. „Sie könnte im Fogarasch viel höher sein, wenn das Gebirge nicht so überweidet wäre“, erklärt mir Uli. Aus den Tälern kriecht Nebel hoch. Mal hüllen uns Wolken ein, mal erhaschen wir einen Blick auf die umliegenden Berge. Gegen 14 Uhr fängt es an zu regnen. Man kann schon die Uhr danach stellen, denke ich mir. Zwei Stunden regnet es ununterbrochen. An meinem Fuß macht sich die nächste Blase bemerkbar. Da laufe ich meine persönliche Traumtour - und dann so was, ärgere ich mich. Laut Wanderführer sollen es 5 Stunden sein bis zu unserem Ziel, dem Zârnei-Joch. Wir brauchen 7 Stunden inklusive der Pausen.
Kaum steht unser Zelt, prasselt es wieder richtig vom Himmel. Ich kümmere mich um meine Blase, dann schmeißen wir den Kocher an, für einen Tee. Abends hört der Regen endlich auf. Wir sind gespannt auf den morgigen Tag.
Der Himmel ist klar, als ich am Morgen aus dem Zelt schaue. Schnell anziehen, die Kamera rausgeholt und auf die Sonne warten. Es dauert noch eine Weile, dann färbt sich der Urlea-Gipfel rot. Als ich vom Fotografieren zurück bin, kocht Uli schon Kaffeewasser. Wir trinken einen Kaffee, öffnen die Fischbüchsen und essen Fisch- und Salamibrote. Bevor wir aufbrechen, gehe ich auf Trinkwassersuche. Unter uns auf einer Bergterrasse stehen die Reste einer Sennhütte. Da gibt es vielleicht eine Quelle. Ich steige ab. Doch ich muss eine Weile suchen, bis ich die Quelle finde.
Gegen 8:30 Uhr brechen wir auf. Es geht gleich steil bergauf. Nach einer reichlichen Stunde erreichen wir den Sattel neben dem Zârnei-Gipfel (2216 m). Wir haben eine tolle Sicht. Weiter geht es in Richtung Urlea-Gipfel, den wir südlich umgehen. Das Wasser aus dem Urlea-Sattel schmeckt nicht. Von Weitem sehen wir schon Moldoveanu und sogar den Negoi, die beiden höchsten Gipfel der rumänischen Karpaten. Nun geht es stetig bergauf und bergab, wir folgen dem Hauptkamm. Solange es bergauf oder mehr oder weniger eben verläuft, habe ich keine Probleme mit meinen Füßen, aber die Abstiege sind eine Qual. An den Berghängen weiden die Schafherden, die Hirten hocken mit ihren Hunden auf dem Kamm und lassen es sich gut gehen.
Zum Mittag auf der Curmătura Mogoșului (2344 m) essen wir heute Müsliriegel sowie Backpflaumen mit Nüssen und Rosinen. Über dem Moldoveanu ziehen zwar Wolken auf, aber das Wetter hält sich trotzdem.
Uli läuft schneller, muss dafür öfter Pause machen, ich gehe langsam, mache kaum Pausen – so sind wir immer gleichzeitig auf dem Gipfel. Jeder muss halt seinen Rhythmus finden.
Nicht allzu viele rumänische Wanderer kommen uns entgegen. Bei einer Gruppe ist einer dabei der Barfuss geht. Ich verstehe die Welt nicht mehr. Da rennt man mit Hightechschuhen durch die Berge und bekommt eine Blase nach der anderen und der hat überhaupt keine Schuhe an. Ein anderer hat sich das Zeltgestänge einfach unter den Arm geklemmt. Es scheint auch so zu gehen. Kaum vorstellbar das bei uns einer so in die Berge geht.
Nach 8 ½ Stunden erreichen wir unser Tagesziel, das Valea Rea. Die früheren Schutzunterkünfte sind nur noch Ruinen im Valea-Rea-Tal. Im Sattel ist eine Notunterkunft, sie ähnelt mehr einem Klohäuschen. Wir steigen noch etwas ab und bauen unser Zelt so in 2200 m Höhe unterhalb des Moldoveanu auf.
Abends gibt es Instant-Nudeln, da die am schnellsten gehen. Vorher kochen wir aber noch mal Tee. Uli mag den Früchtetee. Insgesamt sahen wir wenig Quellen auf dem Abschnitt. Wolken ziehen wieder auf, als wir ins Zelt kriechen.
Wolken hüllen früh wieder die Berge ein. Doch zum Glück regnet es nicht. Der Aufstieg zum Vistea-Mare-Gipfel ist steil, verlangt alle Kräfte, ist aber nicht schwer. Ich brauche ungefähr 50 min von der Stelle, wo wir gezeltet hatten. Uli kommt kurz hinter mir und bleibt beim Gepäck. Ich steige schnell rüber zum Moldoveanu-Gipfel, um mal sagen zu können: Ich stand auf dem höchsten Berg der rumänischen Karpaten. Der Weg ist mit einem roten Punkt markiert. Ich brauche etwa 20 Minuten. Auf dem Gipfel steht ein Kreuz, das den höchsten Punkt des Landes symbolisiert.
Weiter geht es in Richtung Podragu-Sattel. Hier könnten wir absteigen zur Podragu-Hütte. Wir sehen sie durch Wolkenfetzen heraufleuchten. Da es aber noch recht früh ist, entschließen wir uns weiterzulaufen in Richtung Capra-See.
Gleich hinter dem Podragu erwartet uns ein abartiger Anstieg zum Arpașul. Unterhalb, auf dem kleinen Podu-Giurgiului-See, schwimmen Eisschollen. Hier füllen wir wieder unsere Trinkflaschen auf. Oben angekommen hüllt uns dichter Nebel ein. Tief unter uns der See. Heute kann ich erstaunlich gut laufen, selbst die Abstiege bereiten mir nicht so Probleme wie gestern. Das Hoch und Runter geht noch 'ne Weile so weiter.
Am Arpașu Mic wechselt der Wanderweg auf die schroffe Nordseite des Gebirges. Kurz darauf geht es über die Felsplatten der „La trei pași de moarte“ („Drei Schritte bis zum Tod“). Damit man dem Tod ein Schnippchen schlagen kann, hängen hier Ketten am Fels. Doch der Weg ist nicht so wild, wie der Name klingt.
Als letzter Gipfel stellt sich der Capra-Gipfel in den Weg. Dann sind es noch etwa 500 m bis zum Capra-See.
Da es laut Uli nur 45 min hin und zurück sind bis zur Bâlea-Hütte, schnappe ich mir 2 Wasserflaschen und ziehe los, Bier und Brot zu holen. Die Hütte am gleichnamigen See liegt aber weit unten im Tal an der Transfogarasch-Straße.
Die Versorgung in der Hütte ist erstaunlich gut, ich kaufe 5 Bier und lasse es in unsere Plastikflaschen umfüllen. Brot bekomme ich nur ein Halbes. Nach 1 ½ Stunden bin ich wieder bei Uli. Er hat inzwischen Nudeln für eine ganze Expedition gekocht. Ich esse ein paar Löffel voll, ziehe es dann aber vor, das Bier zu trinken. Uli schafft auch nicht mehr. Es ist inzwischen empfindlich kalt. Wir kriechen ins Zelt.
Heute wollen wir zum Calțun-See und durch die Drachenschlucht (Strunga Dracului) auf den Negoi, den zweithöchsten Berg der rumänischen Karpaten. Bis zum Calțun-See ist es verhältnismäßig einfach, von ein paar An- und Abstiegen mal abgesehen. Der Spaß beginnt danach. Vom Negoi bläst ein eisigkalter Wind in den Calțun-Kessel.
Am Eingang der Drachenschlucht geht es an Ketten nach oben. Wir kommen unterhalb des Gipfels raus. Es war ein hartes Stück Arbeit. Nicht schwer aber anstrengend. So richtig lustig wird es erst nach dem Negoi-Gipfel beim Übergang zum Șerbota-Gipfel. Der Hauptkamm bildet hier das so genannte „Kirchendach“ (Custura Sărății).
Mehrere Stellen lassen sich nur durch Klettern überwinden. Die schwierigste Stelle liegt unterhalb des Șerbota-Gipfels. Eine etwa 5 m hohe Verschneidung versperrt mir den Weg. Bis zur Hälfte komme ich, dann geht es nicht mehr weiter. Fototasche und Rucksack sind mir im Weg. Uli ist schon lange weg. Ich rufe, doch er kann mich nicht hören. Endlich finde ich einen schmalen Spalt für einen Finger. Ich klemme ihn ein und kann mich hochziehen. Links unterhalb vom Gipfel führt ein Weg in eine Scharte, der wesentlich einfacher ist. Jetzt wissen wir es.
Auf dem Gipfel empfängt mich lautes Hundegekläff. Ein Hirtenhund hockt hier oben mutterseelenallein. Es folgt noch ein kurzer Abstieg, dann stehen wir im Șerbota-Sattel. Wir bauen unser Zelt auf. Ich hole Wasser. Ich muss sehr weit absteigen, bis ich eine Quelle finde. Als die Sonne untergeht und Nebel aufzieht, beginnen die Hirtenhunde in der Umgebung ihr Geheul. Es hört sich an, als ob Wölfe heulen. Wenn nicht zwischendurch einer bellen täte, könnte man das auch glauben.
Von der gestrigen Strapaze müssen wir uns erholen, deshalb ist heute eine kurze Tour angesagt. 3 Stunden bis zum Avrig-See. Auf der Tour begegnen uns die ersten Deutschen.
Die Füße machen mir wieder zu schaffen und die Schultern haben blaue Flecken. So kommt mir die kurze Tour gelegen. Im Avrig-See kann ich mich waschen. Wir sind nicht allein. Wanderer, die den Kamm von West nach Ost laufen wollen, machen am See ihre erste Station. Auch hier streunt wieder ein Hund herum.
Irgendjemand hatte sich in der Nacht an unserer Mülltüte vergriffen. Der ganze Müll liegt um unser Zelt verteilt. War es ein Hund?
Heute beginnt die letzte Bergetappe im Fogarascher-Gebirge – der Abstieg nach Turnu Roșu.
Im Suru-Sattel ist der alpine Teil des Fogarascher-Gebirges vorbei. Wir haben es geschafft! Der Abstieg nach Turnu Roșu zieht sich hin. Im Ort stürmen wir die Dorfkneipe und lassen unsere Wanderung mit Bier und Wein zünftig ausklingen.
Am Dorfausgang bauen wir das Zelt auf. Morgen geht es mit dem Zug nach Sibiu. Wir sind gespannt, ob Dana und Tudor auf uns warten. Es gibt bestimmt viel zu erzählen.