(Karpatentour Juli 1994 – Rumänien)
Text: Ulrich Heimann, Fotos: Falk Kienas
Zu DDR-Zeiten waren die Karpaten ein beliebtes Reiseziel, stellten sie doch
irgendwie einen Alpenersatz dar. Ganze Kolonnen von Bergwanderern zogen über den Kamm des
Fogarascher Gebirges. Dann kam die Wende und mit ihr wurde es ruhig in Rumäniens
Bergwelt. Jetzt waren die echten Alpen „in“.
Ulrich Heimann und Falk Kienas stellten sich jedoch gegen den Strom und fuhren
in ihr altes Wander-Revier. Zusammen mit ihren rumänischen Freunden wollten
sie das Fogarasch-Massiv in den Südkarpaten durchqueren. Wie es 6 Jahre nach der
Grenzöffnung im Fogarasch aussieht, lesen Sie selbst.
„Hier Brașov, eingefahrener Schnellzug fährt um 4:35 Uhr weiter nach
Bukarest“, tönt es über den Bahnsteig, als ich schwer bepackt aus dem Zug
klettere. Jetzt heißt es erst einmal warten, bis es hell wird. Irgendwie muss
ich ein paar Lei für den Anschlusszug nach Zărnești auftreiben.
Aber wo? Ich stehe ziemlich unschlüssig in der Gegend rum, als mich jemand
anspricht: „Sind Sie aus Deutschland? Wollen Sie ein Taxi?“, fragt mich ein
Mann. Schnell handeln wir den Preis aus - 35 DM bis zur Berghütte Plaiul Foii,
dem Ausgangspunkt unserer Fogarasch-Tour. Ich spare mir den Zug nach
Zărnești, und das Wechselgeld reicht sogar noch für ein Bier.
Auf einem Grashügel oberhalb der Hütte baue ich noch im Dunkeln mein Zelt auf
und hole einige Stunden Schlaf nach. Als ich wach werde und nach draußen schaue,
ist die mächtige Silhouette des Königstein-Massivs wolkenumkränzt. Ich erinnere
mich an die Worte eines Siebenbürgener Bergführers: „Der Königstein ist nur
sieben Tage im Jahr so zu sehen, wie man es gerne hätte.“ Heute ist so ein Tag.
Der Königstein oder Piatra Craiului erstreckt sich wie eine hohe und schmale
Kalksteinklinge auf einer Länge von etwa 22 km zwischen den Tälern der Flüsse
Dâmbovița und Bârsa einerseits sowie der Senke des Țara Bârsei
(Burzenland) andererseits. Die höchste Erhebung ist die Hirtenspitze mit 2238 m,
die auf rumänisch La Om heißt. Mehr als 16 Gipfel über 2000 m bilden den Kamm.
Der Wanderer wird begeistert sein, wenn er am frühen Morgen von Norden aufsteigt,
sich in der Kühle des Schattens an Seilen und Ketten hinaufarbeitet, aus einer
Scharte tritt und unter sich im Wolkenmeer die blauen Erhebungen des Schuler
(Postăvarul), des Hohenstein (Piatra Mare), des Krähenstein (Ciucaș) und
des alles dominierenden Bucegi-Massivs erblickt. Beim Abstieg an der Dianawand
befindet er sich in einem der Bergsteigerparadiese dieses Massivs.
Inzwischen ist Mittag und es regnet, zum Glück nicht lange. Ich klettere auf
eine Anhöhe, um Ausschau nach meinem Wanderkollegen Falk zu haben. Ein Jeep hält:
es ist Falk mit seinen rumänischen Freunden Dana und Tudor. Nach der Begrüßung
macht erst einmal die Țuika-Flasche die Runde. Dieser hochprozentige
Pflaumenschnaps wird in Rumänien meist selbst gebrannt und schmeckt ausgezeichnet.
Na dann Prost - auf ein gutes Gelingen unserer Tour.
Am nächsten Morgen rappeln wir uns um 6:00 Uhr auf. Das ist zwar lästig, aber es
klappt. Früher fuhr unten an der Brücke, wo der Bach Bârsa
Tămașului in den Bârsa Groșetului mündet, ein Forst-Lkw ab
und nahm die Wanderer mit nach Rudărița. Von einem LKW ist nichts
zu sehen, doch ein kleines Pferdefuhrwerk ist kurz vor uns. Schnell ein paar
Worte mit dem Kutscher gewechselt und wir können aufsteigen. Besser schlecht
gefahren als gut gelaufen, denn laufen müssen wir noch genug. So zuckelt unser
Fahrzeug im Schatten hoher Fichten dem Aufstieg entgegen: der Forststation
Rudărița.
Nach 75 Minuten steigen wir mit schmerzendem Hintern ab, zahlen zusammen 1500
Lei (DM 1,50) und stehen am Eingang zum Fogarascher Gebirge. Wir folgen dem mit
rotem Punkt markierten Pfad, über den Văcarea-Mare-Rücken. Unser
Gepäck diktiert das Tempo. Auf der Stirn bilden sich die ersten Schweißperlen:
Zeit für eine Pause. Rucksack ab, Trinkflasche vorkramen und denkste. In der
Flasche schwappert nur noch ein Rest vor sich hin. Bei den anderen sieht es
ähnlich aus. Wir haben vergessen, an der Berghütte unsere Flaschen aufzufüllen.
Das Wasser aus den Bächen war braun vom Lehm, ein Zeichen, dass es gestern im
Gebirge sehr stark geregnet hat. Es wird schon reichen, denke ich. Pünktlich zur
Mittagszeit ziehen dunkle Wolken auf, doch es regnet noch nicht. Schnell ein
paar Bissen, um den Magen zu beruhigen, dann gehen wir weiter.
Der Rücken schmerzt noch gar nicht richtig, als es anfängt. Dicke Tropfen
trommeln auf unsere Regenumhänge. Die Schuhe von Dana und Tudor sind bald
klatschnass. Eine leere Sennhütte rettet uns. Der Boden vor der Hütte ist von
Rindern, Pferden und Schafen so zertrampelt, dass wir mit den Schuhen
knöcheltief in der Pampe versinken. In einem der beiden Räume liegt frisch
gehacktes Holz, im anderen stehen zwei Pritschen, auf denen man zur Not die
Nacht verbringen könnte. Bald flackert ein Feuer, im Topf brodelt das letzte
Wasser und an der Wand hängen unsere Socken zum Trocknen. Tudor schnitzt kleine
Spieße und steckt Speckstücke darauf. Ich schaue aus dem Fenster und sehe
bereits unser Tagesziel: den Comisu-Sattel. Das Wetter bessert sich, wir können
weiter. Kaum stehen die Zelte, bricht auch schon wieder das Unwetter los. In
unser Zelt dringt Wasser ein. Eifrig am Wischen denke ich mir: Das kann ja
heiter werden. Wird es auch wenig später. Im Osten leuchtet der Königstein
herüber. An ihn schließt sich nach Süden die Kette des
lezer-Păpușa-Massivs an - auch ein interessantes Wandergebiet. Die
Sicht nach Westen versperrt uns der große „Grashaufen“ des Comisu-Gipfels.
Als wir uns am Morgen aus den Schlafsäcken wühlen, bleiben die Pudelmützen erst
einmal auf - es ist saukalt hier oben. Die Schäfer der nahen Stâna (Sennhütte)
haben ihre Herden schon lange auf die Weiden getrieben, nur zwei zurückgelassene
Pferde schauen unserem morgendlichen Tun zu. Beim Frühstück bringt uns Tudor
eine wenig erfreuliche Nachricht: „Wir werden absteigen. Unsere Ausrüstung ist
für die Tour einfach nicht geeignet. Ich hoffe Ihr seid uns nicht böse.“ Sind
wir nicht. Wir wünschen den beiden viel Glück, vielleicht klappt es ein anderes
mal. Falk gibt mir einen seiner Teleskopstöcke, und zu zweit gehen wir die erste
große Steigung an. Ab jetzt ist der Weg mit einem roten Band
markiert.
Es dauert nicht lange, und der Comisu mit seinen 1887 m liegt hinter uns. Voller
Begeisterung schauen wir zurück zum Königstein. An den Hängen gegenüber grasen
die Schafherden und aus den Tälern hören wir das Wasser der Gebirgsbäche rauschen.
Noch ein paar Meter, und wir stehen auf dem ersten 2000er - dem Vârful (Gipfel)
Buzduganu (2176 m). Unter uns breitet sich ein großes Plateau aus, die
Curmătura Luțelor. An der nächsten Quelle, die uns entgegensprudelt,
befreien wir uns von den langen Klamotten. Der Wind weht noch immer kalt die
Berge herunter, trotzdem ist das Laufen jetzt viel angenehmer. Allzu lang währt
der Genuss jedoch nicht: Wolken ziehen heran, dunkel und schwer.
Erst hüllen sie die umliegenden Berge ein, bald auch uns. Schnell in Regenhose
und Anorak geschlüpft und weiter, auf und ab. Immer in der Hoffnung, dass der
Zârnei-Sattel, unser Etappenziel nicht mehr weit ist. Ein Übel kommt selten
allein. Zu dem schlechten Wetter machen sich auch die ersten Blasen an den Füßen
bemerkbar. In großem Bogen führt der Weg um einen Gipfel herum und neigt sich
in einen Sattel. Aus dem Nebel taucht wie ein Gebilde aus einer anderen Welt
die Biwakschachtel im Zârnei-Sattel auf - es ist geschafft.
Neben einer Reihe kleinerer Seen finden wir einen guten Platz für unser Zelt.
Unter der Apsis röhrt der Juwel-Kocher, und beim Duft von Falks Früchtetee
vergesse ich, dass es draußen regnet.
Vor 15 Jahren - auf meiner ersten Tour im Fogarasch - hatten wir kurz vor einem
starken Regenguss den Zârnei-Sattel erreicht, schnell die Zelte aufgebaut und
danach ein Gewitter erlebt, wie ich es mir schlimmer nicht hätte vorstellen
können. Rings um die umliegenden Berge gingen die Blitze wie Feuerwände nieder
und die hier weidenden Pferde jagten angstvoll schreiend von einer Seite der
Bergkuppe zur anderen. Heute ist es nur leichter Regen, doch die Erinnerung
kehrt immer wieder. Gegen 17:00 Uhr hört es auf zu regnen, und die Sonne kommt
hervor. Mit den Sonnenstrahlen erwachen auch Insekten - Käfer, Fliegen und
Spinnen. Es surrt und krabbelt überall.
Im Westen verschwindet die Sonne hinter dem Urlea-Gipfel und bald zeigt sich
über den Bergen ein zaghaftes Abendrot. Ob das ein Zeichen für schönes Wetter ist?
Der dritte Tag beginnt tatsächlich mit blauem Himmel und Sonnenschein, was Falk
schnell aus dem Schlafsack bringt. Denn wenn sich die Sonne über die Gipfel
schiebt, gibt es bestimmt einen stimmungsvollen Augenblick, den es lohnt,
festzuhalten. Ich bereite das Frühstück und koche Kaffee. Das Wasser in dem
Tümpel neben unserem Zelt ist eiskalt, es treibt einem auch das letzte Stück
Schlaf aus den Augen. Trinken wollen wir es aber nicht. Wir schultern unsere
Rucksäcke und folgen dem Weg durch eine Felsengasse.
Überall blüht es üppig. Vor allem der Thymian mit seinen kräftigen violetten
Blüten fällt ins Auge. Wir lassen die Felsen hinter uns und steigen über saftigen
Rasen zum Zârna-Gipfel (2316 m). In einem Sattel links unterhalb des Gipfels
legen wir eine Pause ein, nicht nur wegen des Ausblicks. Blau leuchten die vor
uns liegenden Berge bis zum Moldoveanu, unserem Tagesziel.
Ich bin besonders glücklich, das zu sehen, da wir diesen Abschnitt vor 15 Jahren
in sehr starkem Nebel gehen mussten. Bis hinüber zum Vârful Fundul Bindei queren
wir eine Wiese, steigen etwas ab und gelangen nach kurzer Zeit zu der Bergkette,
die das Urlea-Tal nach Westen abschließt. Der Weg schwenkt nach Norden und nimmt
erst beim Erreichen des Urlea (2473 m) seine Ost-West-Linie wieder ein. Der
2429 Meter hohe Vârful Iezerului ist über und über mit Schafen bedeckt.
Vorsichtig gehen wir heran, doch die Hirtenhunde sind nicht mehr so aggressiv
wie früher. Sie sehen auch besser ernährt und sauber aus.
„Bună ziua“ - „Guten Tag“ rufen wir den Hirten zu. Sie hocken auf einem
Felsen und heben lässig die Hand. Da unser „Motor“ seinen Treibstoff fordert,
hocken wir uns auch auf den nächsten Felsen. Müsli-Riegel und etwas
Studentenfutter geben uns Kraft für die nächsten Aufstiege, von denen noch
genug vor uns liegen. Wenn es auch nicht immer über die Spitzen geht, haben sie
es doch in sich.
Nach zwei Stunden stehen wir am Großen Fenster (Fereastra Mare a Sâmbetei) -
einer Felsformation mit typischem Aussehen - und schauen in das tief
eingeschnittene Tal Valea Sâmbetei. Zwischen hohen Fichten sehen wir das Dach
der Sâmbetei-Hütte und weit draußen im Vorland leuchten die Hütten eines
Touristenkomplexes, unmittelbar daneben das Sâmbăta-Kloster, eine
Stiftung des Fürsten Brâncoveanu. Immer, wenn wir von einem Sattel aus weit
in die Täler schauen können, geht es gleich wieder steil hinauf. So wie jetzt
auf den Buduru mit seinen 2268 Metern.
Hinter ihm weidet eine kleine Herde Maultiere in unmittelbarer Nähe eines
Kreuzes. 1970 war drei Meter davon entfernt ein Student abgestürzt. Noch einmal
gehen wir auf 2470 Meter hoch, steigen ab und umrunden den Vârful Galbenele.
Vor uns erhebt sich majestätisch der Moldoveanu, mit 2544 m der höchste Berg
Rumäniens. Nach links schauen wir in das Valea Rea Tal und stellen fest: die
SALVAMONT (rum. Bergwacht) - Schutzhütte ist zerstört. Schafe weiden dort.
Sollte es das Ergebnis der neuen Besitzverhältnisse sein?
Direkt im Sattel steht eine neue kleine Hütte. Wir lassen sie rechts liegen und
steigen kurz vor dem Aufstieg zum Vistea Mare, dem Nachbargipfel des Moldoveanu,
nach Süden ab. Mehrere Terrassen bieten gute Zeltmöglichkeiten mit ausreichend
Wasser gleich um die Ecke. Etwas weiter unten funkelt der Moldoveanu-See. Wind
kräuselt seine Oberfläche und verzerrt das Bild des Gipfels, der sich in ihm
spiegelt. Nach achteinhalb Stunden bergauf, bergab haben wir uns eine Tasse Tee
redlich verdient. Während das Wasser im Topf blubbert, können wir uns unseren
Blasen widmen.
In der Nacht werde ich mehrmals wach. Die Blasen schmerzen und die Erlebnisse
meiner ersten Tour gehen mir durch den Kopf.
Damals wurden wir aufgrund der Kälte geweckt, dadurch erlebten wir ein grandioses
Schauspiel. Die Sonne hatte den oberen Teil des Moldoveanu und des Vistea Mare
mit ihren ersten Strahlen erreicht und in rote Berge verwandelt. Im Tal war es
noch stockdunkel, unzählige Wasserläufe schimmerten herauf. Oben am Grat hatten
sich Gämsen eingefunden und schauten hinab ins Tal, direkt zu uns. Das Fell der
Tiere leuchtete rot in der Morgensonne. Es war ein wundervoller Anblick. Ob es
morgen auch wieder so sein wird?
Nichts ist mit Gämsen und Morgensonne! Die Berge sind zwar frei, doch es ist
trübe. Da der geplante Abschnitt für den vierten Tag nicht so lang sein wird,
lassen wir uns Zeit. Gegen 9:00 Uhr brechen wir auf, steigen zunächst zum Kammweg
und von dort steil zum Gipfel des Vistea Mare hinauf.
Oben legt Falk seinen Rucksack ab und kraxelt zum Moldoveanu. Ich bleibe beim
Gepäck, auf dem dritthöchsten Berg des Landes (2527 m). Vistea Mare heißt
eigentlich „Große Aussicht “, doch auf diese Morgenstunde trifft das leider nicht
zu. Hängt doch gerade jetzt eine große Wolke darüber. Immer wenn sie aufreißt,
sieht man über den Getreidefeldern der Ebene die Sonne scheinen. Dann ist die
Sicht auch frei auf die vielen Berge, die wir schon geschafft haben, aber auch
auf die, die vor uns liegen. Die nächsten fünf Stunden geht es auf und ab, bis
zum Podragu-Sattel.
Zelten ist hier unmöglich. Tief unter uns sehen wir die Podragu-Hütte am
gleichnamigen See - dem Tiefsten des Fogarasch-Gebirges. Bis zur Hütte würde es
eine halbe Stunde dauern und wir müssten morgen mindestens eine Stunde aufsteigen.
Es ist noch zu zeitig, um die Tour zu beenden. Wir kommen zu der gleichen
Entscheidung wie damals: Wir laufen weiter in Richtung Capra-See.
Nach kurzem Anstieg gelangen wir zu einem kleinen Gletschersee in 2226 m Höhe.
Auf dem Wasser treiben Eisschollen, dazwischen spiegelt sich der Arpașul
Mare, dessen steilen Hang wir nach kurzer Rast angehen. Dicht unterhalb des
Gipfels macht der Weg einen großen Bogen nach Süden, um uns gleich darauf wieder
tief hinabzuschicken, in einen Sattel mit dem Nerlingerdenkmal. 1934 kamen
hier die Bergsteiger Richard Nerlinger und Herta Ruzicka ums Leben. Das kleine Denkmal
sieht schon ziemlich ramponiert aus. Eigentlich müssten wir jetzt vor dem
massigen Felsstock des Arpașul Mic stehen, doch zu sehen ist er nicht.
Soll uns auch nicht weiter stören, denn der Weg weicht ihm aus und wechselt auf
die Nordseite des Massivs. Über die Felsenbarriere mit dem unheilvollen Namen
„la trei pași de moarte “ - „drei Schritte bis zum Tod“ wechseln wir
wieder ins Capra-Tal auf der Südseite. Namen sind oft Schall und Rauch, so
auch hier. Alles ist halb so wild, an den etwas schwierigeren Stellen sind
Ketten gespannt, eine wirkliche Gefahr stellt der Abschnitt jedoch nicht dar.
Der Weg danach ärgert uns viel mehr. Tiefe, vom Regen ausgewaschene Rinnen
lassen den folgenden Abstieg zur Qual werden - es ist der hässlichste Teil auf
der ganzen Tour. Gott sei Dank wird es wieder besser. Noch fünf Minuten, und der
Capra-See liegt vor uns. An der Südseite steht ein Obelisk, der an den Lawinentod
von vier Bergsteigern erinnert. Wir sind nicht die einzigen Wanderer. Am Ufer
wimmelt es von Zelten. Genug gelaufen? Wir sind zwar k.o., aber unten im Tal
lockt die Bâlea-Hütte oder besser das Bier drinnen. Falk steigt ab und kommt
nach eineinhalb Stunden wieder, im Rucksack unsere Trinkflaschen voll edlem
Gerstensaft. Dass die Nudeln für das Abendessen nur noch lauwarm sind, stört
nicht weiter.
Der Mond steht noch über der Spitze des Iezerul Caprei, als wir abbauen. Zwischen
dem Iezerul Caprei und dem Vânătoarea lui Buteanu liegt der Capra-Sattel,
über den man zum Bâlea Lac (Buleasee) und zur Hütte gelangt. Von Norden kommt die
Transfogarasch-Autostraße rauf, durchquert den Gebirgskamm in einem Tunnel und
windet sich nach Süden hinab ins Capratal, vorbei am Vidraru-Stausee. Die Anlage
dieser imposanten Straße muss für die alte Regierung von großer Bedeutung
gewesen sein, hat sie doch zum Bau Soldaten und Gefangene eingesetzt.
Man wollte früher das Bâleakar zu einem internationalen Sport- und Skigebiet
gestalten, hörte aber nicht auf die Warnungen der Umweltschützer, die
befürchteten, dass sich durch den Bau des Tunnels die klimatischen Verhältnisse
im Tal verändern würden.
Der Tunnel wurde gebaut, das Klima veränderte sich,
da die warme Luft aus dem Süden hindurch konnte. Lawinen gefährdeten die
Bewohner der Dörfer, sodass sie umgesiedelt werden mussten, und von einem
internationalen Skigebiet ist kaum noch die Rede gewesen.
Wir steigen nicht hinunter ins Bâlea-Tal sondern folgen der Markierung blaues
Kreuz links der Capra-Spitze, verlassen den markierten Weg, queren über eine
Wiese nach rechts und gelangen wieder auf den Kammweg mit dem roten Band. Im
Lăița-Sattel, wo von Norden der Wanderweg aus dem Bâleakar auf
den Hauptweg stößt, lagern Familien, die bis zum Bâleasee mit dem Auto gefahren
sind und hier oben den Sonnenschein genießen. Wir genießen einen Müsliriegel
und einen Schluck Wasser und setzen unseren Weg fort. An der Felswand der
Lăița-Spitze geht es abwärts durch Geröll.
Nach drei Stunden stehen unsere Rucksäcke am Calțun-See. Über große
Felsplatten steigen wir zur Portița Calțunului empor und haben
den Blick frei auf den größten Berg des westlichen Fogarasch-Massivs: den Negoi
mit seinen 2535 m. Wir klettern weiter nach links über Geröll und Schneefelder
bis vor den Einstieg zur Strunga Dracului - der Drachenschlucht. Kurz zuvor gibt
es eine Möglichkeit, durch die Strunga Doamnei die Drachenschlucht zu umgehen
(bei Schlechtwetter ratsam). Wir lassen eine Gruppe Jugendlicher vorbei und
steigen ein. Die Drachenschlucht hat den Charakter eines Klettersteiges, doch
an vielen Stellen können wir auf die z.T. maroden Sicherungen verzichten. Die
Kletterei macht Spaß, und es dauert nicht lange, bis wir auf dem zweithöchsten
Berg Rumäniens stehen.
Unser Tagesziel ist greifbar nahe, doch auch noch sehr weit entfernt. Zwischen
Negoi und Șerbota liegt der berüchtigte Felsengrat des Kirchendaches -
der schwerste Abschnitt der Tour. Wir steigen in einen Sattel, der als Popasul
lui Mihai bezeichnet wird. Hier besteht die Möglichkeit über blaues Dreieck
nach Norden zur Negoi-Hütte (Robert-Gutt-Hütte) abzusteigen. Vor uns erhebt
sich der Sărății-Felsen. Wir können ihn umgehen, doch
anschließend geht es zum Grat Custura Sărății, der alpinen
Charakter aufweist und uns alles abverlangt. Der Weg wechselt von der einen
zur anderen Seite des Grates. Mal geht es steil hinab, bald wieder steil hinauf
und das alles mit unseren Rucksäcken. Für Falk ist es noch schwerer als für
mich, laufend ärgert ihn die Fotoausrüstung vor dem Bauch, was er durch lautes
Fluchen kundtut.
Unterhalb des Șerbota-Gipfels zweigt links ein nicht markierter
Trampelpfad ab. Wir aber folgen gutgläubig den Markierungen.
Es war falsch. Wir werden mit einer guten vierer Stelle belohnt. Mit viel Mühe
schinden wir uns die letzten 200 Meter zum Gipfel. Wir sind völlig fertig aber
glücklich, denn die größten Schwierigkeiten liegen hinter uns.
Später lasen wir auf einem steinalten Wegweiser, dass dieser Wegabschnitt, den
wir gerade hinter uns hatten, unpassierbar sei. Mit wackligen Beinen steigen wir
in den Șerbota-Sattel ab und bauen das Zelt auf. Falk steigt nach Norden
ab, um Wasser zu suchen. Er ist lange unterwegs, später stellen wir fest, dass
auf der Südseite nur wenige Meter unterhalb des Passes eine Quelle munter ihr
Wasser freigibt - cest la vie.
1987 mussten wir nach heftigen Gewittern und Hagelschauern über den Șerbota
zur Negoi Hütte absteigen - zwei Tage später herrschten auf dem Kamm -14 ° C.
Tief unter uns fließt der Olt. Wolken tauchen über dem Șerbota auf und im
Sattel zieht von Süden her Nebel heran, wird zurückgedrängt, zerfließt. Noch
einmal schimmert die Sonne rot durch eine dünne graue Wolkendecke, der fünfte
Tag neigt sich dem Ende entgegen.
Das morgendliche Einlaufen ist immer wieder eine Qual. Unsere Füße sind
mittlerweile beidseitig „luftbereift“. Um den Piscul Gârbova müssen wir wieder
klettern. Der Weg sieht in diesem Jahr ganz anders aus, als ich ihn in Erinnerung
hatte. Schnee und Regen haben ihre Spuren hinterlassen. Wir drücken uns
vorsichtig an Felswänden vorbei. Ehemals vorhandene Sicherungen hatte jemand
abgesägt. Am Avrig-See kommt uns ein Wanderer nach dem anderen entgegen -
Rumänen, Tschechen, Deutsche - die Kette reißt auch nicht ab, als unser Zelt
steht.
Vor einigen Jahren hatte der Karpatenverein Tausende Blechbüchsen aus dem See
geborgen. Heute sieht es wieder aus, wie auf einer internationalen Müllhalde.
Müll scheint auf manch einen irgendwie anziehend zu wirken. Auch unsere
Abfalltüten, die wir nachts unter der hinteren Apsis verstauen, waren am
nächsten Morgen nicht mehr an ihrem Platz. Zwischen Grasbüscheln leuchteten
Müsli-Verpackungen, alte Pflaster und Plastiktüten. Hunde waren es gewiss nicht,
sie würden keine Trinkflasche zurücklassen.
Vom Budislavu, mit 2371 m der letzte 2000er auf unserem Weg, blicken wir noch
einmal zurück auf den zerklüfteten Kamm des Fogarasch. Wie Perlen einer Kette
reihen sich die Gipfel aneinander: Scara, Șerbota, Negoi, Călțun
und weit hinten im Dunst glauben wir den Moldoveanu zu erkennen. In ein paar
Stunden werden wir in Turnu Roșu sein, uns ins erstbeste (oder einzige)
Wirtshaus hocken und den Trip zünftig ausklingen lassen. Wir schaffen unsere
Tour in sieben Tagen. Wer hätte das gedacht.
Ulrich Heimann, 52, lebt in Görlitz. Er ist gelernter Turbinenschlosser, fuhr jedoch fünf Jahre zur See. Zum Bergwandern kam er relativ spät, als ihn Freunde auf eine Tour mitnahmen. Seitdem war er in zahlreichen Gebirgen Osteuropas unterwegs. Allein achtmal durchstreifte er die Karpaten.
Dieser Bericht erschien im Rumänien-Rundbrief, Heft 7/Sommer 1998.