(Karpatentour Juli 1993 – Rumänien)
In Rumänien gibt es nicht nur eine Vielzahl von Ortschaften mit unaussprechbaren Namen, sondern auch einen mystischen Landstrich namens Transsilvanien. Dort soll sich bekanntlich ein adliger Herr mit unnatürlich langen Eckzähnen herumtreiben. Falk Kienas hat ihn auf seiner Tour durch Westtranssilvanien nicht getroffen, aber auch ohne Dracula genug zu erzählen.
„Rumänien?! - Du bist ja verrückt. Pass auf, da klaun'se dir doch die Hosen vom Hintern.“ Mit solchen und ähnlichen Ratschlägen meiner Freunde und Bekannten bestens versorgt, sitze ich Ende Juli im Balt-Orient-Express von Berlin nach Bukarest. Mein Ziel ist das Motzenland im westlichen Teil Transsilvaniens. Ich habe keine bestimmte Route geplant, weiß lediglich, wo ich loslaufen und in ca. zwei Wochen ankommen will. Was dazwischen liegt, überlasse ich mehr oder weniger dem Zufall.
Das Motzenland muss ein interessantes Fleckchen Erde sein. "Funde deuten darauf
hin, dass es hier bereits im paläolithischen Zeitalter menschliche Siedlungen gab" -
lese ich auf meiner Karte. Jedem anderen wäre jetzt bestimmt ein anerkennendes
Aah... über die Lippen gekrochen. Ich dagegen zerbreche mir den Kopf über den
Begriff „paläolithisches Zeitalter“, nur um festzustellen, dass ich nicht viel mit ihm
anfangen kann. Ein plötzlicher Stoß, der mich fast über meinen Rucksack purzeln
lässt, bringt mich auf andere Gedanken. Es ist 5:30 Uhr, als der Zug in Teiuș hält,
einer kleinen Ortschaft am Rande des Trascău-Gebirges. Dichte Nebelschwaden
hängen zwischen Häusern, die ich mehr erahne als sehe. Die Straße ist
menschenleer. Ehrlich, ich fühle mich nicht ganz wohl in meiner Haut. Ich komme mir
vor wie in einer „Ghosttown“ irgendwo im Yukon. Ab und zu durchbricht
Hundegekläffe die Stille. Was soll's, den Rucksack auf und los geht's.
18 km Landstraße sind es bis zum Râmeț-Kloster, dem Ausgangspunkt meiner Tour.
Nach einer Stunde hat sich der Nebel verzogen; die Straße belebt sich zusehends.
Radfahrer kommen mir entgegen und grüßen „Bună ziua“ (Guten Tag), genau wie
die Fuhrmänner, die auf ihren Pferdekutschen an mir vorbeiklappern. Zwei Stunden
bin ich etwa auf den Beinen, als ein knurrendes Geräusch in der Magengegend mich
drängt, Pause zu machen. Kaum habe ich meine Brote ausgepackt, höre ich
Bremsen hinter mir quietschen. Sie gehören zu einem kleinen Traktor mit Hänger.
„Mănăstire?“, fragt der Fahrer, ein kleiner kräftiger Typ mit sonnengebräuntem
Gesicht. „Da, da“ antworte ich und nicke. Er bedeutet mir mit einer Kopfbewegung,
auf dem Hänger Platz zu nehmen, und so mache ich es mir zwischen abgesägten
Obstbäumen und Bauschutt bequem. Nachdem er noch einige Dörfler aufgeladen
hat, zockeln wir in Richtung Kloster.
Als wir ankommen, verschlägt es mir den Atem. Beim Anblick des Bauwerkes mit
den zerklüfteten Kalksteinfelsen im Hintergrund habe ich das Gefühl, mitten in eine
der Abenteuergeschichten Karl Mays hineingeplatzt zu sein. Auf der staubigen
Schotterstraße, die sich durch das enge Tal windet, müssten eigentlich jeden
Augenblick Kara Ben Nemsi und sein Begleiter Hadschi Halef usw. erscheinen. Doch
es kommt nur ein halb verrosteter Dacia. Er zieht eine lange Staubwolke hinter sich
her, die mich schnell ins 20. Jahrhundert zurückholt.
Ich hatte gehört, dass man im Kloster übernachten könne. Das Problem besteht nun
lediglich darin, den „Gottestöchtern“ mein Anliegen mitzuteilen. „Germane?“ - fragt
mich eine der älteren Nonnen. Ich nicke. Sie verschwindet hinter einer Tür und
erscheint kurz darauf in Begleitung einer zweiten, etwas Jüngeren, die zu meinem
Erstaunen Deutsch spricht. Ich hatte mich nicht getäuscht: Es werden tatsächlich
Zimmer an Reisende vermietet - neben dem Teppichknüpfen und -verkauf eine
weitere Einkommensquelle, die den Lebensunterhalt finanziert und die
Instandhaltung des Klosters gewährleistet. Dass der Gewinn nicht schlecht sein
kann, sehe ich am äußeren Zustand des Gebäudes. Im 14. Jahrhundert erbaut, sieht
es aus, als ob gestern der letzte Stein gesetzt wurde.
Mein Zimmer ist klein, ein lustiger Ort: An der Wand hängt ein Bild der Jungfrau
Maria, die Bettdecke stiftete der Bundesgrenzschutz.
Solchermaßen bestens behütet, bereite ich mich auf ein Outdoor-Unternehmen par
Excellenze vor - das Durchqueren der Râmeț-Klamm.
Die Sonne braucht eine ganze Weile, ehe sie ihre Strahlen in die engen Schluchten
des Trascău-Gebirges senden kann. Der Weg ist mit einem blauen Kreuz markiert.
Er endet hinter einem Zeltplatz mit dem klangvollen Namen „El Dorado“ am Ufer des
Baches Geoagiu. Ich krame meine Turnschuhe aus dem Rucksack, denn ab jetzt
geht es nur noch durchs Wasser. Mit dem Rucksack auf dem Rücken, den
Trekkingschuhen um den Hals baumelnd und der Kamera in Brusthöhe schlurfe ich
vorsichtig über glitschige Kalksteinplatten. Noch reicht mir das Wasser nur bis an die
Knöchel, doch das soll sich bald ändern. Das Tal wird zusehends enger. Zu beiden
Seiten des Baches ragen senkrechte, teils überhängende Felswände mehrere
Hundert Meter in den Himmel. Durch den schmalen Spalt fallen jetzt kaum noch
Sonnenstrahlen. Ich habe den Eindruck, in einer Höhle zu waten. Das Wasser steigt
mir jetzt bis zu den Hüften und langsam mache ich mir Sorgen um meinen Rucksack.
Ich muss an das Schild am Eingang denken, das vor dem Betreten der Klamm bei
Hochwasser warnt. Ab und zu hängen alte, vor sich hinrostende Drahtseile von den
Felswänden herunter. Hier, wo ich welche bräuchte, natürlich nicht. Nur glatter, vom
Wasser ausgewaschener Fels. Vorsichtig taste ich mich vorwärts, Meter um Meter,
mein ganzes Geschick aufbringend, nicht aus dem Gleichgewicht zu kommen. Ein
Sturz hätte fatale Folgen, vor allem für meine Ausrüstung. An der engsten Stelle der
Klamm versperrt mir ein gewaltiger Felsbrocken den Weg. Ein mehrere Meter tief
ausgespülter Gumpen zeigt mir ziemlich deutlich die Unsinnigkeit eines Versuches,
den Block rechts zu passieren. Links schlängelt sich ein enger Kamin zwischen
Wand und Felsbrocken - die einzige Chance. Aber mit Rucksack? Ich komme
mächtig ins Schwitzen. Stimmen von der gegenüberliegenden Seite lassen mich
aufatmen: Eine Gruppe Rumänen kommt mir entgegen. Einer zieht von oben meinen
Rucksack auf die andere Seite und befreit mich so aus meiner misslichen Lage. Ich
hab's geschafft. Jetzt beginnt die Schlucht sich langsam zu öffnen. Ein schmaler
Pfad führt aus ihr hinaus auf ein Stück Wiese. Zeit für die Mittagspause.
Weiter geht es stupide bergauf, und mit jedem Meter scheint mein Rucksack
proportional an Gewicht zuzunehmen. Die Sonne schleudert mir ihre Hitzewellen mit
ganzer Kraft entgegen. Nur ab und zu verschwindet der Weg in dichtem Laubwald.
Ich fange an, mich nach den Schatten spendenden Felsen der Râmeț-Klamm zu
sehnen. An den Berghängen stehen vereinzelt kleine, grasbedeckte Häuser. Bunt
bestickte Seidentücher zieren ihre Fenster und Türen, in den Gärten rennen Kälber,
Schweine und Enten durcheinander. Geflochtene, mit Lehm zugeschmierte Körbe für
die Bienenzucht vervollständigen das Idyll aus Großvaters Zeiten. Früher zogen die
Motzen als Handwerker und Händler durch ganz Rumänien. Heute sind sie meistens
Bergbauern, sie leben in einfachen Verhältnissen. In Brădești erreiche ich den
höchsten Punkt meiner Wanderung. Jetzt geht es bergab und somit wesentlich
leichter als vorhin.
Wie der Eingang zur Unterwelt wirkt die gewaltige, über 30 m hohe Öffnung der
Höhle Huda lui Papară am Fuße der Trascău-Berge. Durch ihr Portal tritt der Morilor-Bach ins Freie. Es ist später Nachmittag und ich beschließe, dass ich für heute
genug gelaufen bin. Plötzlich fragt mich jemand: „Hast du eine Lampe dabei?“ - Ich
drehe mich um und entdecke den Fragesteller, der wohl etwa in meinem Alter ist.
Wie sich herausstellt, heißt er Mihai und ist mit seinen Freunden, 6 Studenten aus
Timișoara, in Richtung Râmeț-Klamm unterwegs. Ich hole meine Stirnlampe aus der
untersten Ecke des Rucksackes hervor. „Nicht jetzt“ meint Mihai. „Aber heute Nacht wollen wir in die Höhle, haben aber zu wenig Lampen dabei. Wenn du Lust hast, kannst du ja mitkommen.“ Diese Einladung nehme ich natürlich gerne an. Doch bis
dahin ist noch etwas Zeit. Wir machen ein Feuerchen und ich lerne Mămăligă
kennen, ein rumänisches Nationalgericht.
Dem Brei kann ich nichts abgewinnen. Doch die frisch gemolkene Milch, die uns
vorhin eine Bäuerin verkauft hat, ist etwas Edles. Langsam beginnt es zu dämmern.
Wir sitzen um unser Feuerchen, Mihai und Alexandru holen ihre Klampfen hervor und
schmettern rumänische Studentenlieder in die Stille der Karpatennacht. Ich sitze
daneben, höre zu und muss mir kleinlaut eingestehen, dass ich kein Lied beitragen
kann.
Es ist kurz nach 23:00 Uhr, als sich acht Gestalten und drei Taschenlampen in
Richtung Höhle bewegen. Über eine halsbrecherische Konstruktion aus Brettern und
Stangen stolpern wir ins Höhleninnere. Unter uns donnert der Morilor-Bach zwischen
den Felsen hervor. In Tausenden von Jahren hat er sich durch den weichen Kalkstein
gewühlt und diesen gigantischen Hohlraum hinterlassen. Ich vermisse die sonst für
Kalkhöhlen typischen Stalagmiten und Stalaktiten. Erst am äußersten Ende der
Höhle stoßen wir auf ein paar mickrige Exemplare. Nach etwa vier Stunden erreichen
wir mit schwächlich vor sich hin glimmenden Funzeln den Ausgang und fallen wie tot
in unsere Schlafsäcke.
Heute verlasse ich das Trascău-Gebirge. Ich verabschiede mich von Mihai und
seinen Freunden. Eine Bäuerin gibt mir noch Milch, Brot und Schafkäse als
Wegzehrung mit. Sicherlich ist ihr völlig unverständlich, wie man sich nur von Nüssen
und Müsliriegeln ernähren kann.
Mit der „Mocanița“-Schmalspurbahn dampfe ich das Arieș-Tal hinauf, dem Bihor-Gebirge entgegen. Was für die Stampeder der Klondike, ist für die Motzen der Arieș
(Goldener Fluss). Bereits die alten Römer konnten ihrem Kaiser nach der Eroberung
Dakiens 165 t Gold vor die Füße schmeißen. Zwar führt der Arieș heute nichts mehr
von dem gelben Edelmetall, aber in den Bergen des Siebenbürgischen Erzgebirges
links und rechts des Flusses wird auch heute noch Gold gewonnen.
In Câmpeni, der Hauptstadt des Motzenlandes verlässt der Zug das Arieș-Tal. Für
mich heißt das umsteigen. Ich bin nicht der einzige Trekker, dessen Ziel das Bihor-Gebirge ist. Vier unter der Last ihrer Kraxen wankende Gestalten kommen mir auf
dem Bahnhof entgegen. Tudor, Dana, Ștef und Monica aus Iași im Nordosten des
Landes haben den gleichen Weg. Der Besuch der Bärenhöhle in Chișcău sollte
unsere einzige Aktion im Bihor-Gebirge werden. Sie wurde 1975 durch Zufall bei
Arbeiten in einem Marmorsteinbruch entdeckt. 141 Schädel und ein vollständig
erhaltenes Skelett eines Höhlenbären fand man. „Gibt nur 6 Höhlen auf der Welt, die Ähnliches aufzuweisen haben.“ - sagt Tudor.
Auf der Ladefläche eines Holztransporters geht es in strömendem Regen rauf nach
Padiș. Der Nebel dort oben ist so dicht, dass man die Hand vor Augen nicht erkennt.
Drei Tage sitzen wir in einer Waldarbeiterbude und alles Bitten und Betteln hilft nichts
- Zamolxes, die alte Gottheit der Daker, bleibt hart und wir ohne Sonne. Was wollte
ich hier nicht alles unternehmen: „Cetățile Ponorului, Peștera Focul Viu, Scărișoara-Eishöhle“ geistert es mir im Kopf herum. Am vierten Tag habe ich schönes Wetter,
aber keine Zeit mehr. Also packe ich meinen Rucksack und breche auf nach Norden
ins Vlădeasa-Massiv.
Der Weg schlängelt sich durch eine Wildnis, die in Europa ihres Gleichen sucht.
Dichter Nadelwald hindert die Sonnenstrahlen daran, bis zu mir vorzudringen.
Transsilvanien - Land jenseits der Wälder nannten die Bewohner der pannonischen
Ebene dieses Gebiet. Steile und rutschige Pfade machen das Laufen zur Strapaze.
Wie gierige Hände greifen Äste nach meinem Rucksack, um ihn, nachdem ich
artistische Verrenkungen vollführt habe, ruckartig wieder loszulassen und mich dem
nächsten Baum in die Arme zu schleudern. Vorsichtshalber schlage ich von Zeit zu
Zeit mit einem Stock auf den Boden. Nicht dass ich plötzlich vor einem
Karpatenbären stehe. Im Sommer sind die Burschen normalerweise im dichten
Busch, aber wenn sie im Winter der Hunger packt, haben sie schon bei so manchem
Bergbauern Magengeschwüre verursacht. Ähnliches trifft auf die Wölfe zu. Ich
erinnere mich daran, in einem Reisemagazin gelesen zu haben, dass Grizzlies
neben den riesigen karpatischen Bären wie schwächliche Junge wirken würden. Was
einem in den Wäldern nicht so alles durch den Kopf geht.
Nichts lässt einem Trekker grauere Haare wachsen als der Umstand, dass er sich an
einem Ort befindet, wo er normalerweise nicht sein dürfte. Genau diese Situation ist
nun eingetreten. Ich habe mich in dem Gewirr von Ästen und Sträuchern verlaufen.
Doch zwei glückliche Umstände helfen mir aus der Patsche: Erstens kommt mir eine
Gruppe Wanderer entgegen und zweitens kann ich mich auf Englisch verständigen.
„Du läufst immer nach Nordost, bis du auf eine große Wiese kommst. Am Horizont sieht man dann zwei markante Felsen. Auf die hältst du zu und kommst wieder auf den richtigen Weg. Übrigens in der Vlădeasa-Hütte haben sie gerade Bier.“ Das
spornt an. Trotzdem brachte mir dieser kleine Umweg drei Stunden Zeitverlust ein.
Bei den Felsen, sie heißen übrigens Piatra Tâlharului, was soviel wie Räuberfelsen
bedeutet, baue ich mein Zelt auf. Einer Legende nach hausten hier früher sieben
Jahre lang Räuber und vergruben ihre Schätze in der Nähe der Felsen. Manch ein
Narr soll tatsächlich den Boden danach durchwühlt haben. Es ärgert mich, dass ich
keinen Spaten dabei habe.
Nach insgesamt zehn Tagen erreiche ich das Ende meiner Karpatentour, die
Vlădeasa-Hütte. Sie hat Ruhetag. Ich bin durstig, bekomme kein Bier und obendrein
fängt es wieder an zu regnen. Aber ich bin trotzdem glücklich, nicht nur weil meine
Hosen noch dort sind, wo sie hingehören.
(Der Reisebericht erschien im Outdoor-Magazin Nr. 4 Juli/August 1994)