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Über den Kamm der Nebelberge

(Karpatentour Mai 2013 – Slowakei)

Inhalt

  1. Umwege
  2. Eisige Unterwelt
  3. Biwak
  4. Nach Ramža
  5. Zur Štefanik-Hütte
  6. Wieder im Nebel
  7. Endspurt
  8. Informationen

1. Umwege

Meine erste Karpatenreise in diesem Jahr beginnt – wie üblich – mit dem Dilemma der Anreise. Da mir der Wintereinbruch Ende Oktober letzten Jahres meine geplante Wanderung über den Kamm der Niederen Tatra vereitelte, wollte ich es jetzt Ende Mai noch einmal versuchen. Als Alternative bei schlechtem Wetter hatte ich Tagestouren im Slowakischen Karst geplant. Deswegen suchte ich mir als Startpunkt Rožnava aus. Die Stadt liegt nördlich des Slowakischen Karstes, doch auch bis zum Ostende der Niederen Tatra war es nicht weit. So behielt ich mir bereits beim Fahrscheinkauf beide Optionen offen.

Kurz bevor es am Freitagabend losging, schaute ich mir noch mal den Wetterbericht für den Chopok in der Niederen Tatra im Internet an. Sonntag sollte es regnen, Mittwoch auch, an den restlichen Tagen der Woche sah es nicht so schlecht aus. Die Kammwanderung sollte machbar sein, dachte ich mir. Wenn ich von Ost nach West über die Berge lief, könnte ich am verregneten Sonntag von Rožnava mit dem Bus bis zur Dobschauer Eishöhle fahren, die hatte ja letztes Jahr schon geschlossen. Von dort fährt ein Bähnle bis Telgárt und am Montag könnte ich mit dem Aufstieg beginnen. Das war mein Plan.
Mit dem Nachtzug geht es Freitagabend pünktlich von Freiburg nach Usti nad Labem. Dort habe ich eine Stunde Zeit, bis es weiter nach Bratislava geht. Warum ich die Zeit in Usti absitzen muss, verstehe ich nicht. Genauso gut hätte ich in Dresden warten können. Immerhin hätte ich dort einen Klogang in Euro zahlen können und nicht in Tschechischen Kronen. Egal, der Zug kommt pünktlich.
Ab Pardubice hat der Zug 15 Minuten Verspätung, in Břeclav schon 20. Und bis Bratislava sind es 22 Minuten, auch wenn mir der Schaffner weißmachen will, es wären nur 15. Mein Anschlusszug nach Rožnava ist jedenfalls weg!
Die Dame hinter dem Fahrkartenschalter kann zwar etwas Englisch, aber mir dennoch nicht recht weiterhelfen. „Sie können um 18:03 Uhr nach Zvolen. Aber von dort...? Oder mit dem Nachtzug um 23 Uhr bis Košice.“ Mir wird klar, dass ich heute nicht mehr nach Rožnava komme. Und morgen gilt mein Fahrschein nicht mehr. Egal, ob ich über Zvolen oder Košice fahren würde. Ich müsste mir also auf jeden Fall einen neuen Fahrschein kaufen. Um 17:33 Uhr fährt ein IC über Poprad-Tatry nach Košice. Ich entscheide mich für Poprad, dort kenne ich mich aus, kenne ein Hotel, wo ich recht günstig übernachten kann. Und morgen wird sich schon eine Lösung finden.
Zum Glück steht auf meinem Google-Map-Ausdruck die Telefonnummer des Hotels in Rožnava, in dem ich übernachten wollte. Ich storniere meine Buchung. Je näher ich den Bergen komme, desto schlechter wird das Wetter. In Ružomberok regnet es in Strömen.
Es ist 21:30 Uhr, als der Zug in Poprad hält, und bereits stockdunkel. Im Vergleich zu Freiburg wird es hier etwa eine Stunde früher dunkel. Das Hotel Gerlach ist keine 5 Minuten vom Bahnhof gelegen. Ich bekomme ein Zimmer und ein Budweiser. Was ich am Gerlach noch toll finde: Die Zimmer haben statt Duschen Badewannen, da steht einem gemütlichen Tagesausklang nichts mehr im Wege.

2. Eisige Unterwelt

Der Blick aus dem Hotelfenster am nächsten Morgen: Die Straßen sind nass, es nieselt. Ich lasse mir Zeit, räume erst spät das Zimmer. Es hat aufgehört zu regnen, als ich zum Busbahnhof schlendere. Es gibt zwar auch eine Zugverbindung bis zur Dobschauer Eishöhle, die Fahrt würde jedoch über 4 Stunden dauern.
Die Fahrkartenschalter im Busbahnhof sind geschlossen, heute ist Sonntag. Laut Fahrplan fährt um 11:10 Uhr ein Bus in meine Richtung. Nur fährt der auch sonntags? Ich muss jemanden fragen. Eine Gruppe Touristen aus Tschechien versichern mir, dass der Bus auch heute fährt. Ich kann sogar um 10:20 Uhr direkt nach Telgárt fahren, wenn ich will. Mir ist der Besuch der Eishöhle aber wichtiger. So warte ich die 2 Stunden in Poprad.
Etwa 50 Minuten dauert die Fahrt, es ist 12 Uhr, als ich Dobšinská ľadová jaskyňa erreiche. Bis zur Höhle sind es etwa 20 Minuten zu Fuß den Hang hinauf. Die nächste Führung soll um 12:30 Uhr starten. Es passt also genau. Der Eintritt kostet 7 EUR, die Fotoerlaubnis 10, das ist heftig. Meinen Rucksack kann ich bei der Dame im Souvenirladen abstellen. Dann geht es hinab in die eisige Unterwelt.
Eine Senke ist am Boden mit Schnee bedeckt, der in einem Spalt verschwindet. Es ist der Eingang zur Höhle. Innen ist der Schnee bereits zu Eis verdichtet, wie ein Gletscher. Meterdick bedeckt das Eis den Höhlenboden, an den Wänden und an der Decke funkeln Eiskristalle wie Diamanten im Licht der Strahler. Tunnel aus grünem Eis verbinden die einzelnen Hohlräume im Bergesinnern. Meterhohe Eissäulen wachsen von der Höhlendecke und bilden skurrile Formen. Etwa 45 Minuten dauert die Führung.
Im Restaurant, Dobschauer Eishöhle genannt, genehmige ich mir eine Knoblauchsuppe und Hühnchen. Draußen regnet es wieder. Durch die feuchten Niederungen des Hnilec-Tals gehe ich zum Bahnhof. Wieder habe ich Glück: Gerade als ich den Bahnsteig betrete, rollt das Bähnle an, eine Art Triebwagen, mit dem ich bis Telgárt fahren will. Den Fahrschein kaufe ich noch ganz klassisch beim Schaffner im Zug. 82 Cent kosten mich die 20 Minuten Bahnfahrt. Im Nachhinein hatte sich meine Anreise über Poprad sogar besser bewährt, was die Zeit betrifft, als mein ursprünglicher Plan.

3. Biwak

Um 14:30 Uhr klettere ich in Telgárt aus dem Zug. Es hat aufgehört zu regnen, stellenweise schaut sogar etwas blauer Himmel durch die Wolkendecke. Ich überlege nicht lang, mein Plan steht fest: Ich werde noch heute aufsteigen.
Am Ortsende entdecke ich das rote Band, meinen Begleiter für die nächsten Tage über den Kamm der Niederen Tatra bis Donovaly. Telgárt, Donovaly – der Klang der Namen hört sich für mich an wie Guinness und Whisky und nicht wie Topvar und Slivovica.
Ein Wegweiser am Waldrand sagt mir, dass ich nun auf dem E8 laufen werde. Der Aufstieg zur Kráľova hoľa ist lang und steil. Anfangs geht es durch Bergwald. Nach zwei Stunden lasse ich den Wald hinter mir. An den Berghängen blühen Kuhschellen, vereinzelt leuchten Schneeflecken am Hang. Nebel zieht auf. Ich brauche 3 Stunden bis zum Gipfel auf 1946 m. Von einem faszinierenden Ausblick fehlt jede Spur, dichter Nebel umgibt mich. Nicht mal den Turm kann ich erkennen. Es weht ein kalter Wind und zu allem Überfluss fängt es an zu schneien. Ich mache ein Bild vom Wegweiser auf dem Gipfel, ziehe meine Regenjacke über und folge dem Kamm nach Westen. Das Wetter wird zusehends ungemütlicher, Windböen peitschen über den Kamm und mir Schneekristalle ins Gesicht. Ich muss mir so langsam Gedanken um einen Schlafplatz machen. Da ich mich hier im Nationalpark befinde und Zelten verboten ist, habe ich auch keins eingepackt. Es ist kurz nach 18 Uhr und bis zur nächsten Schutzhütte Andrejcová sind es noch rund 3 ½ Stunden. Ich würde sie nicht mehr im Hellen erreichen. Zur Not müsste ich querfeldein bis an den Waldrand absteigen. Dort wäre ich sicher vor dem Wind geschützt und könnte mir ein Biwak basteln.
Doch ich habe Glück: Hinter dem Gipfel der Stredná hoľa entdecke ich am Wegesrand eine kleine Felshöhle. Der Platz reicht gerade, um meine Isomatte hineinzuschieben. Zwar tropft es etwas von der Decke, aber vom Wind merke ich nichts mehr. Irgendwann hört auch das Tropfen auf, es hat sich eine dünne Eisschicht gebildet. In der Nacht hört es auf zu schneien, und auch der Nebel zieht sich zurück. Es ist Vollmond.

4. Nach Ramža

Leider ziehen am Morgen wieder Wolken auf, diesmal von Süden. Bereits um 3:45 Uhr, beginnt es zu dämmern. Um 5 Uhr bin ich schon wieder auf den Beinen. Der ganze Kamm liegt unter einer dünnen Schneedecke. Die Sonne kämpft mit den Wolken. Mal schaut sie kurz hervor, im nächsten Augenblick ist sie wieder verschwunden. Hinter dem Orlová-Gipfel scheint es so, als ob sie die Wolken besiegt hätte. Der Nebel weicht, und im Westen erscheinen die Massive der Hohen Tatra und der Westtatra in ihrer ganzen Pracht. Doch lang hält die Freude nicht. Bereits nach meiner Frühstückspause im Ždiarske sedlo zieht wieder Nebel auf. Im Sattel entdecke ich eine alte, halb zerfallene Hirtenhütte. Nach meiner Biwakhöhle der erste Platz, der für eine Übernachtung geeignet gewesen wäre. Zwei Stunden und 45 Minuten hätte ich da gestern noch laufen müssen. Die Schutzhütte Andrejcová finde ich dagegen nicht. Laut einem Schild sind es noch 100 Meter in meiner Richtung. Doch weit und breit keine Hütte in Sicht. Vielleicht hat sie der Nebel verschluckt. Ich suche aber auch nicht, sondern setze meinen Weg fort.
Der nächste hohe Buckel auf dem Kamm heißt Veľká Vápenica (1691 m). Der Weg dorthin ist nass. Von oben nach unten weichen mich Latschenkiefern, Wachholderbüsche und Heidelbeersträucher ein. Auf dem Gipfel tropfe ich wie nach einer Woche Dauerregen. Besonders meine Handschuhe haben sich vollgesogen wie zwei Badeschwämme. Schlau, wie ich bin, hatte ich daheim noch ein Paar Membran-Handschuhe eingepackt. Voller Vorfreude streife ich die Dinger über meine klammen Finger in der Hoffnung, nun trockene Hände zu behalten. Doch nach nicht mal einer Stunde kann ich das Wasser aus den Teilen rausschütten. Etwas missgelaunt laufe ich ohne Handschuhe, dafür mit kalten Händen weiter.
Nach 5 ½ Stunden erreiche ich den Sattel Priehyba. Mit nur 1190 m ist es nicht nur der tiefste Punkt auf dem heutigen Abschnitt, sondern auch des gesamten Hauptkammes der Niederen Tatra. Mittlerweile regnet es – aber ich bin ja eh schon nass!
Vom Priehyba-Sattel geht es einen Rückeweg steil nach oben. Oft muss ich umgestürzten Bäumen ausweichen oder über sie hinwegklettern. Es sind Andenken an den Orkan, der am 19. November 2004 die Tatra-Region heimsuchte und großen Schaden im Wald anrichtete. Dafür gedeihen im lichten Bergwald üppige Heidelbeeren. Schade, dass ich nicht im Juli hier unterwegs bin. Im Oravcová-Sattel höre ich die Glocken läuten. Besser gesagt Glöckchen. Mir kommen zwei Wanderer entgegen, eingehüllt im Regenponcho, und an den Rucksäcken hängen Bärenglöckchen. Bald schluckt das Bimmeln wieder der Nebel. Auch das rote Band, die Wanderweg-Markierung, scheint er ab und an zu schlucken. Doch lange Holzstangen und ein gut ausgetretener Weg weisen mir immer die Richtung.
Die nächste Schutzhütte auf meinem Weg heißt Ramža. Nur taucht sie nirgends auf den Wegweisern auf, was mich etwas verwundert. Der nächste markante Punkt auf den Schildern ist immer der Čertovica-Sattel. Von dort bin ich mit Helga 2007 abgestiegen. Dort gibt es Restaurants und wohl auch Möglichkeiten, um zu übernachten. Doch der Weg bis Čertovica ist noch weit, und der letzte Abschnitt vom Homôľka-Sattel ist aufgrund der umgestürzten Bäume besonders anstrengend. Nach fast 12 Stunden stehe ich vor einem Wegweiser mitten im Wald mit der Aufschrift Ramža. Bis zur Schutzhütte sind es nur noch ein paar Meter. Ich bin genug gelaufen. Das Hüttchen ist leer. Innen stehen ein paar Holzpritschen und ein Ofen. Vor der Hütte gibt es einen Grillplatz und ein Klohäuschen. Um die Hütte herum wurden junge Bäumchen angepflanzt. Zeltmöglichkeiten sehe ich kaum. Im Hochsommer kann es hier recht voll werden, vermute ich.
Es war ein langer Tag, ich knabbere noch ein paar Haselnüsse, gönne mir eine Schokolade und verkrieche mich in meinen Schlafsack. Draußen trommeln Regentropfen aufs Dach.

5. Zur Štefanik-Hütte

Der nächste Tag beginnt, wie der alte aufgehört hatte – es regnet. Und auch der Wind bläst stärker als gestern. Bis in den Čertovica-Sattel laufe ich noch zwei Stunden und 45 Minuten. Es ist 9:15 Uhr. Über den Pass führt die Straße von Valaská im südlichen Tal des Hron nach Liptovský Hrádok im nördlichen Waag-Tal. Die Pension Stiv öffnet erst um 10. Doch ein älteres Paar ist auch gerade angekommen, so schließt uns der Pensionswirt die Tür früher auf.
Ich kann meine Klamotten trocknen, esse eine Krautsuppe und genehmige mir ein Bierchen und eine Kofola. Das Zeugs sieht aus, wie 'ne Coke und schmeckt wie Almdudler, ich mag es.
Frisch gestärkt geht es hinauf in den zentralen und höchsten Teil der Niederen Tatra. Die Bergkiefern haben weiße Bärte. Von Süden her pfeift ein stürmischer Wind über den Kamm. Wie besessen zerrt er an meinem Rucksackregenschutz. Das Geraschel nervt. Ich packe das Teil sicherheitshalber ein. Viel zu sehen gibt es nicht. Die Restschneefelder an der Nordseite des Gebirges nehmen zu. Anstelle der Kuhschellen auf den Bergwiesen treten nun gelbe Primeln.
Ob die Kombination Bier und Kofola als Aufputschmittel wirkt? Jedenfalls erreiche ich mein Tagesziel, die Štefaniká-Berghütte, eine halbe Stunde früher als angegeben. Ich bin der einzige Gast. Der Hüttenwirt schmeißt gleich den Kamin an. Schade, der Hüttenwirt spricht kein Englisch, ich kann mich mit ihm nicht groß unterhalten. Ich bestelle wieder Bier und Krautsuppe. Letztere ist wirklich lecker. Doch auch das Bierchen tut gut.
Während ich meine Krautsuppe löffle, kommt eine ältere Dame mit Rucksack, Everst-Trek-T-Shirt und Bärenglöckchen herein. Schon wieder ein Bärenglöckchen. Ob ich mir Gedanken machen muss?
Sie scheint den Hüttenwirt gut zu kennen. Aus dem Rucksack holt sie Gemüse, Wein und Maiglöckchen. Wein und Gemüse sind für die Küche, die Blumen stellt sie als kleine Sträußchen auf die Tische im Aufenthaltsraum. So wird der Eindruck erweckt, es ist Frühling – wenn man nicht gerade aus dem Fenster schaut.
Oben im Gang zum Schlafraum begegnet mir eine schwarze Katze, ich kenne sie, sie streifte schon vor Jahren durch die Hütte.

6. Wieder im Nebel

Ich verzichte am nächsten Morgen auf ein Hüttenfrühstück, da ich schon um 6:00 Uhr aufbreche. Frühstücken könnte ich später auf der Berghütte Kamenná chata unterhalb des Chopok-Gipfels. Es geht vorbei am Ďumbier, mit 2043 m der höchste Berg in der Niederen Tatra. Zu sehen ist er nicht. Am Hang blühen Krokusse, sie tun zumindest so. Sehen ziemlich zerzaust aus. Am Sattel unterhalb von Krúpova hoľa schlägt der Wind wieder mit voller Wucht zu. Es ist wie auf unserer Wanderung 2007, nur dass der Wind diesmal von Süden kommt. Wechselt der Wanderweg auf die Nordseite des Gebirges, ist es abrupt windstill. Tauche ich plötzlich in den Windschatten ein, komme ich richtig ins Torkeln. Es wirkt auf mich wie kurz vor einem Kehrwassersturz beim Paddeln.
Zwei Stunden brauche ich bis zum Chopok. Schemenhaft tauchen die Umrisse der Kamenná chata aus dem Nebel auf. Leider wird aus meinem geplanten Frühstück nichts. An der Eingangstür hängt ein Zettel. Die Hütte ist vom 9.5. bis 31.5. geschlossen. Aus der Traum von Krautsuppe und Kofola.
Vor der Hütte zeigt ein Wegweiser in alle Himmelsrichtungen. Ich folge dem E8 weiter nach Westen, glaube es zumindest, und wundere mich nach ein paar Minuten, denn ich stehe vor der Seilbahn, die nach Jasna führt.
Da eine dünne Neuschneedecke liegt, folge ich meinen Spuren zurück zum Wegweiser und starte einen neuen Versuch. Doch den Wanderweg kann ich nicht finden. Fast eine dreiviertel Stunde bin ich am Suchen, ohne Erfolg. Da bin ich im touristisch am besten erschlossenen Teil der Niederen Tatra und finde den Weg nicht, es ist kaum zu fassen.
Ich lasse das Herumsuchen und gehe stur nach Westen. Schließlich führt der Weg definitiv in dieselbe Richtung. Irgendwann werde ich ihn schon wiederfinden. So ist es dann auch: Nach einigen Minuten leuchtet mir das rote Band an einem der Geröllbrocken entgegen.
Gegen 9:45 Uhr erreiche ich den Poľana-Sattel, nun bin ich diesen Abschnitt schon zum zweiten Mal im Sturm und Nebel gelaufen.
Bei diesem Mistwetter, wo man am liebsten in die nächste Schneewehe ein Loch buddeln würde, um zu biwakieren, wo einen der Wind ins Demänovská-Tal wehen würde, wenn man nur die Arme ausbreitet, begegnet mir tatsächlich auf dem Weg zum Chabenec-Gipfel eine Gruppe tschechischer Wanderer. Ein kurzes „Ahoi“ und der Nebel hat sie wieder geschluckt.
Ich habe den Eindruck, der Wind bläst am Hang heftiger als oben auf dem Gipfel. Die Regentropfen fühlen sich auf den Wangen wie kleine Geschosse an. Ich mache kein Foto, ein Tonband würde jetzt mehr Sinn machen, um das Heulen des Windes aufzunehmen.
Doch welch Wunder, als ich vom Chabenec hinuntersteige, lichtet sich der Nebel. Wolkenfetzen jagen über die Berge und dazwischen tief unter mir sehe ich ein rotes Dach – die Hütte Útulna pod Chabencom. Es ist 12:15 Uhr, ich war nur 6 Stunden und 15 Minuten unterwegs.
Eine junge Frau ist mit Näharbeiten beschäftigt. Ich bekomme eine Linsensuppe und ein Bier. Im Dachgeschoss sind die Schlafplätze, ein Matratzenlager.
Inzwischen hat es aufgeklart und die Sonne blinzelt durchs Hüttenfenster. Zeit, einen Spaziergang zu machen. Das Wetter hat sich gebessert, da wiederfährt mir neues Übel. Meine Kamera zeigt kein Foto mehr an. Hat es meine Speicherkarte erwischt? Ich kann's kaum glauben. Nehme das Teil raus und stecke eine neue Karte rein. Hoffentlich kann ich daheim noch was retten!
Das ganze Gelände erinnert mich an eine Hochweide. An den Nebenkämmen hängen noch kleine weiße Wölkchen, aber dahinter braut sich erneut eine dunkelblaue Wetterfront zusammen.
Zurück an der Hütte, ist auch der Hüttenwirt eingetroffen. „Wir haben jetzt Bier“, sagt er. Das klingt doch gut! Er war unten im Tal auf Versorgungstour. Jetzt stapeln sich jede Menge Pakete mit Bierdosen auf dem Fußboden. Ich bekomme eine Dose. Es war seine zweite Versorgungsfahrt in diesem Jahr, versichert mir der Hüttenwirt. Die ganze Zeit über ließen Schnee und schlechtes Wetter keine Fahrt zu.
Mit meiner Vermutung, dass hier einst eine Hochweide existierte, liege ich nicht schlecht. Tatsächlich wurde die Vorgängerhütte von Schäfern genutzt. 1993 dann begann der Bau der Útulna pod Chabencom.
Ich zahle 5 Euro für die Übernachtung. 50 Personen können hier schlafen, und im Sommer kann es richtig voll werden. „Sogar auf den Tischen schlafen die Leute dann“, erzählt mir der Wirt. Zum Abendessen gibt es mit Heidelbeerjoghurt gefüllte Momos, dann verziehe ich mich auf den Dachboden.

7. Endspurt

Früh um 5 bin ich wieder auf den Beinen. Im Ďurková-Sattel angelangt blitzt und donnert es. Ich hocke mich unterhalb des Hauptkamms an der Nordseite in eine Mulde. Es blitzt und donnert noch einmal, ich gehe zurück zur Hütte und warte das Gewitter ab.
Halb acht starte ich zu meinem zweiten Versuch. Es ist neblig und bald regnet es auch wieder.
Es hört nicht mehr auf zu regnen. 12:30 Uhr erreiche ich den Sattel Hiadeľské sedlo, 1099 m hoch. Hier endet die Niedere Tatra. Jetzt sollte ich mich freuen, stolz sein, weil ich die Kammwanderung geschafft habe. Bin ich aber nicht. Gleichgültig laufe ich einfach weiter, mache nicht mal eine Pause. Der Weg ist schlecht, Matsch klebt an den Schuhsohlen. Es geht hinauf zum Kozí chrbát (1330 m). Der Berg liegt im Gebirge Starohorské vrchy. Kleine Wasserbäche sprudeln den lehmbraunen Pfad entlang. Außer dieser Matschlinie sehe ich weder links noch rechts etwas. Ich folge dem Wasser. Es führt mich in strömendem Regen bis Donovaly. Punkt 15:45 Uhr erreiche ich die Bushaltestelle und im selben Moment kommt ein Bus der über Ružomberok nach Dolný Kubín fährt. Tropfnass entledige ich mich im Bus meiner Regensachen. Die Bergbäche führen bereits Hochwasser.
Auf dem Bahnhof in Ružomberok finde ich keine Gepäckaufbewahrung, außerdem versteht mich die Dame hinter dem Fahrkartenschalter nicht. Mit dem nächsten Zug fahre ich zurück bis Poprad. Hier wollte ich nun meinen Rucksack aufgeben und gemütlich essen gehen. Aber auch daraus wird nichts. In einer halben Stunde schon fährt der Nachtzug nach Prag. Ich schaffe es gerade noch im Billa 4 Goldfasane zu kaufen, dann geht es heimwärts.

Das Tiefdruckgebiet hat nicht nur mich auf dem Kamm der Niederen Tatra geärgert, im Süden und Osten Deutschlands hatte es eine Flutkatastrophe riesigen Ausmaßes verursacht. Warum eine Woche im Voraus da noch keine verlässliche Wetterprognose möglich war, bleibt mir ein Rätsel.
Meine Bilder konnte ich dank des Programms RescuePro Deluxe bis auf zwei Dateien alle wieder herstellen. Vielleicht klappt es ja irgendwann einmal, den Kamm der Niederen Tatra bei Fernsicht zu laufen.

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