(Karpatentour Januar 2004 – Rumänien)
Der Bus, ein Setra S431 DT - ohne Sonderausstattung, extra wegen mir gekauft, rollte gerade durch Österreich. Draußen gab es nichts zu sehen, es war bereits dunkel. Auf dem Bildschirm über mir überzeugte mich Tom Hanks in Forrest Gump, dass man es auch als „Kleiner Depp“ durchaus zu etwas bringen konnte, in Amerika zumindest.
Rumänien empfing mich Anfang Januar nicht gerade winterlich. Der stahlgraue
Himmel verbreitete Trübsinn. Auf den Feldern bleiche Maisstoppeln. Wir
fuhren vorbei an leeren Plastikflaschen, Radkappen und toten Hunden, kein Schnee,
der all das versteckte.
Erst kurz vor Deva kam des Siebenbürgische Westgebirge in Sicht und die
Landschaft wurde interessanter. Mein Ziel war das Retezat Gebirge. Răzvan, ein
Freund aus Deva wollte mich bis zur Cârnic-Hütte bringen, und wenn sein
Boss ihm noch 2 Tage Urlaub zugestand, mit mir noch etwas in den Bergen wandern.
Überpünktlich erreichte ich Deva. Răzvan schraubte gerade an seinem
Dacia rum. Zum Glück war nichts defekt. „Will nur sehen, ob noch alles okay
ist.“ sagte er. Es war jetzt 13 Uhr. Wir fuhren ins Zentrum, um noch etwas
Proviant zu kaufen und ich erleichterte einen Bankautomaten um 4 Millionen Lei.
Dann ging es endlich los.
Hinter Ohaba de Sub Piatră war es dann soweit - der Winter hatte auch in
Rumänien Einzug gehalten. Die Felder und die Strasse überzog eine
geschlossene Schneedecke. Den Weg hoch bis zur Cârnic-Hütte schaffte
Răzvans Dacia nur noch mit Schneeketten. Ich lud meinen Rucksack aus dem
Kofferraum, wünschte Răzvan eine gute Heimfahrt und stapfte die verschneite
Forststrasse bergauf, der Pietrele-Hütte entgegen. Es war jetzt kurz nach
15.00 Uhr. Laut Wegweiser sollte es 2 Stunden bis zur Hütte dauern. Da es
um diese Zeit früh dunkel wurde, legte ich einen Zahn zu und erreichte nach
1 Stunde und 45 Minuten den Hüttenkomplex Pietrele.
Wie es schien, war ich nicht willkommen. Linda betrachtete mich als
einen Eindringling, der hier nichts zu suchen hatte. Das gab sie mir lautstark
zu verstehen. Durch ihr Bellen machte sie aber auch den Hüttenwirt auf mich
aufmerksam. Ich kramte meine wenigen Rumänischkenntnisse aus dem
Gedächtnis und fragte nach einer Übernachtung. „Aveți casare?“
Mihai winkte mit dem Kopf, ich sollte ihm folgen. Wir liefen den langen Gang bis
zum Ende der Hütte. Dort verschwand Mihai in einem Zimmer und erschien kurz
darauf mit einer Flasche in den Händen.
„Schnaps?“ fragte er mich. Eine Begrüßungsțuică durfte
ich selbstverständlich nicht ablehnen.
Von den vielen kleinen Hüttchen, die sich um die Pietrele-Hütte
scharten, bekam ich Nummer 10. Es war ein Raum mit einem Bett, einem Tisch,
einem Stuhl und einem Kachelofen, an der Wand hing ein großer Spiegel.
Alles auf eine Fläche von etwa 6 m².
Dann gingen wir in den Holzschuppen. Mihai hackte die Holzstücke in kleine
Scheite. Ich stapelte sie und schaffte sie rüber in mein Zimmer. Das Feuer
entfachte Mihai, indem er einen mit Petroleum getränkten Lappen unter das
Holz schob. Das klappte ausgezeichnet und bald knisterte es im Ofen und
ließ den Raum zumindest in Gedanken warm werden.
Ich hockte mich solange zu Mihai in die Pietrele-Hütte und trank einen
Kräutertee. Olga, eine Verwandte, half Mihai die Hütte in Schuß
zu halten. Im Moment lag sie aber auf dem Bett und konnte nicht laufen. Auf dem
Weg zur Gențiana Hütte war sie ausgerutscht und hatte sich den
Fuß verstaucht.
Jede halbe Stunde schaute ich nach dem Feuer im Ofen meines Zimmers und legte
noch ein paar Holzscheite nach. Doch so richtig warm war es lediglich in
Kopfhöhe unter der Zimmerdecke. Sobald ich mich auf das Bett setzte, konnte
ich beim Ausatmen Rauchzeichen geben. Ich wickelte mich in meinen Schlafsack
ein, zog die Sturmhaube über den Kopf und versuchte trotz Minusgrade etwas
zu schlafen.
Am nächsten Morgen wollte ich meine Schneeschuhe testen. Da ich mich zum
Skifahren zu blöd anstellte, waren die Dinger eine gute Alternative, um im
Winter in den Bergen zu wandern. Laut Mihai bestand keine Gefahr durch Lawinen.
Ich stapfte los. Da die Gipfel in Wolken steckten und nur ab und zu etwas
Himmelsblau durchschimmerte, wählte ich heute eine Route, die einem nicht
gleich den Appetit verdarb. Mein Ziel war der Touristenkomplex
Râușor, laut Wegweiser 2 ½ Stunden. Der Wanderweg ist mit einem
blauen Kreuz markiert und führt erst einmal durch Fichten und Tannenwald am
Stânișoara-Bach entlang.
Ständig blieb ich mit den Schneeschuhen an Wurzeln oder Steinen
hängen, die sich unter der dünnen Schneeschicht versteckten. Erst als
es nach etwa 45 Minuten hinauf zum Ciurila Sattel ging, lag mehr Schnee und es
lief sich besser. Bis zur Râușor-Hütte sollte es noch 2 Stunden
dauern. Nach etwa 55 Minuten stand ich in besagtem Sattel. Bis zur
Râușor-Hütte waren es laut Wegweiser immer noch 2 Stunden.
Der Abstieg nach Râușor zieht und zieht sich. Anfangs steil bergab
durch Latschengestrüpp, danach auf einer verschneiten Forststrasse. Nach
insgesamt 3 ½ Stunden erreichte ich endlich Râușor.
Ich wollte einen Tee trinken, bekam aber keinen. Ich wollte mich beim SALVAMONT
nach einem alternativen Weg zurück zur Pietrele-Hütte erkundigen, auch
vergebens.
„Die sind Ski fahren.“ sagte ein Typ, der auf einem Doppelstockbett
lümmelte.
Auf der Pietrele-Hütte gibt es ebenfalls eine SALVAMONT-Station, die
ganzjährig besetzt sein sollte. Doch auch dort war alles verlassen und
verrammelt gewesen, als ich gestern ankam.
So schnürte ich wieder meine Schneeschuhe und trabte denselben Weg wieder
zurück.
Es fing bereits an zu dämmern, als ich die Pietrele-Hütte erreichte.
Mihai wartete schon, winkte mich nach hinten in seine Vorratskammer und holte
die Țuicăflasche aus dem Schrank.
Es hatte was Gutes an sich, so kurz nach Silvester ein paar Tage auf der
Hütte zu verbringen.
Von den Feierlichkeiten waren noch jede Menge Leckereien übrig.
Olga servierte mir Bohnensuppe und als Hauptgericht Sarmale (Krautrouladen),
ein rumänisches Nationalgericht.
Es schneite leicht, als ich mich am nächsten Morgen aus dem Schlafsack
pellte. Ein Blick auf die Uhr - halb zehn. Ich hatte zu lange gepennt. Somit war
es für eine Retezat-Besteigung zu spät.
Ich packte ein paar Müsliriegel und die Wasserflasche in den Rucksack und
lief erst einmal das Stânișoara-Tal hinauf. Den Weg markierte ein
blaues Dreieck. Meine Spuren von gestern hatte der neue Schnee zugedeckt.
Am Abzweig zum Ciurila-Sattel holte ich meinen ersten Riegel raus und wollte
etwas trinken. Doch der Flaschenhals ähnelte einer verkalkten Arterie. Am
inneren Rand hatte sich eine dicke Eisschicht gebildet und die im Wasser herumschwimmenden Eisstückchen verstopften noch den Rest der Öffnung, als
ich trinken wollte. Mir blieb nichts weiter übrig als meine Trinkflasche ab
jetzt vor der Brust zu tragen, damit sich das Eis wieder in Wasser verwandelte.
Ich brauchte fast 2 ½ Stunden bis ans Ende vom Tal. Dort, auf 1990 m,
konnte man im Sommer den Stânișoara-See sehen. Jetzt war alles
Weiß. Auf einem Wegweiser stand, dass es bis in den Retezat-Sattel noch 45
min sind. Ich glaubte ihm nicht. Denn der Anstieg hoch in den Sattel sah
abweisend steil aus. Der Sattel auf der östlichen Seite des Tals sah da
schon wesentlich einladender aus. Von dort konnte ich in das Pietrele-Tal
absteigen und zurück zur Pietrele-Hütte laufen.
Über diesen Gebirgskamm, Culmea Stânișoara genannt,
führt kein offizieller Wanderweg. Zumindest konnte ich auf meiner Karte
keinen entdecken. Nach einer knappen Stunde stand ich im Pietrele-Tal. Ab jetzt
folgte ich einem ausgetretenen Pfad nach Norden und erreichte nach einer weiteren
Stunde die Gențiana-Hütte.
Zum Essen bekommt man hier zwar nichts, aber der Tee schmeckte ausgezeichnet.
Auch wenn er nur lauwarm war. „Keine Touristen“, sagte der Wirt. Deswegen hatte
er sich auch noch nicht um das Feuer gekümmert. Immerhin ist es
möglich die ganze Hütte für Feierlichkeiten zu mieten, wie er mir
versicherte.
Mit mir konnte er jedoch keine Geschäfte machen. Bis zur
Pietrele-Hütte war es nun nicht mehr weit. Ich erreichte sie kurz nach halb
vier.
Mihai zeigte auf das Thermometer am Fenster, - 13 °C zeigte es an. Nachdem
ich wieder innerlich aufgewärmt wurde, kam mein Zimmer dran. Mein
Trinkwasservorrat vor dem Bett war ebenfalls erstarrt.
Ich stopfte mich gerade wieder mit Sarmale voll, als Wachhündin Linda zu
bellen anfing. Zwei Lichter näherten sich der Hütte. Die zwei Wanderer
kamen geradewegs von der Peleaga, mit 2509 m, der höchste Berg des Massivs.
Gestern waren sie auf dem Retezat-Gipfel. Ich wollte natürlich wissen, wie
lang sie gebraucht hatten. „Fünf Stunden bis hoch“, sagte der eine.
„Zurück etwas weniger.“ Ich rechnete mit 9 Stunden.
Mit dem Vorsatz nicht wieder so lang zu schlafen, verkroch ich mich in meinen
Schlafsack.
Es war fünf Minuten nach acht und saukalt, als ich am nächsten Morgen
durch den Schnee in Richtung Retezat-Gipfel stapfte. Rot schimmerte der
Lolaia-Kamm durch die Tannen im Stânișoara-Tal.
Ich folgte meinen
Spuren von gestern und kam gut voran. Auf Höhe des Lolaia-Sattels zwang
mich mein Darm erst einmal zu einer Pause.
Der Sattel über mir sah recht einladend aus. Es müsste doch machbar
sein bis in den Sattel zu steigen und den Gipfel von der Nordseite her zu
erklimmen, dachte ich mir. Den Gedanken lies ich Taten folgen. Das war falsch.
Ich verließ meinen gespurten Wanderweg und schlug mich zwischen
Latschenkiefern und Felsbrocken durch den Schnee. Bei jedem zweiten Schritt
brach ich durch die Schneedecke und steckte bis zu den Oberschenkeln zwischen
den Geröllblöcken.
Nach einer dreiviertel Stunde hatte ich die Schnauze voll und trat den
Rückzug an. Es gab einfach kein Durchkommen. Zurück auf dem Wanderweg
schaute ich auf die Uhr und stellte verbittert fest, dass mich dieser Ausflug
mehr als eine Stunde gekostet hatte.
Jetzt blieb mir nur noch der klassische Weg über den Retezat-Sattel zum
Gipfel. Da ich keine Lust hatte im Dunkeln zurückzulaufen, schaltete ich
in den nächsten Gang. Der Aufstieg in den Retezat Sattel war zwar steil
aber einfach. Schritt um Schritt arbeitete ich mich nach oben. Es war wie
Treppensteigen, als Geländer dienten mir meine Teleskopstöcke. Oben
angelangt blies mir ein eisiger Wind entgegen, scharfe Eiskristalle stachen im
Gesicht. Der Gipfel des Retezat ist eine einzige Geröllhalde. Wie bei
meinem Versuch in den Lolaia-Sattel aufzusteigen, ärgerten mich auch hier
die versteckten Hohlräume unter der Schneedecke. Teils auf allen Vieren
kriechend, näherte ich mich nur langsam dem Gipfel. Immerhin spürte
ich kaum noch die Kälte.
Endlich, nach fast 1 ½ Stunden, vom Sattel gerechnet, stand ich auf dem
Namensgeber des Nationalparks - 2485 m hoch.
Ich kann nicht sagen, dass ich
glücklich war. Mit Sicherheit war ich ziemlich müde und wollte nur
noch runter und zurück zur Hütte. Nicht mal zu einem Gipfelfoto konnte
ich mich überwinden. Mit dem Wind im Rücken stolperte ich abwärts
und erreichte die Pietrele-Hütte kurz nach 16:00 Uhr.
Mihai fragte kurz, „Retezat?“. Ich grinste und nickte. Es gab wieder einen
„Aufwärmer“ und Olga rührte in einem Kessel Maismehl für
Mămăligă an. Der heutige Tag war Johannes dem Täufer
gewidmet und da musste etwas typisch Rumänisches auf den Tisch.
Eine Feier ohne Gäste wäre ziemlich langweilig. Doch die ließen
nicht lange auf sich warten. Lindas bellen kündigte Besucher an. Răzvan
hatte tatsächlich zwei Tage frei bekommen. Im Licht einer
Petroleumlampe, der Mihai den treffenden Namen „lampa lui Iljitsch“
(Lenins Lampe) gab, füllten wir uns eine Tasse nach der anderen mit einem
Riesling aus Jidvei.
Am nächsten Morgen lachte wieder die Sonne vom Himmel, aber keiner hatte
Lust auf große Unternehmungen. Außerdem ärgerte mich meine Nase,
die wie ein kleiner Gebirgsbach davon fließen wollte.
So spazierten wir etwas in der Gegend herum. Mihai zeigte uns einen Platz, von
dem man einen Panoramablick auf die Gipfel Vârful Mare, Valea Rea und
Pietrele hatte. Nach dem Mittagessen war es dann soweit. Es hieß Abschied
zu nehmen von Olga, Mihai, Linda, die uns mittlerweile recht wohl gesonnen war,
und den Bergen des Retezat Gebirges.
„Wenn ihr durch Bacia kommt und hungrig seid, geht ins Casablanca. Ich habe dort
mal gearbeitet.“ sagte Mihai zum Abschied.
Das passte ganz gut, eine Ciorbă de burtă zu essen ist auf meinen
Rumänienreisen fast schon Tradition geworden.
Der letzte Tag in Rumänien bescherte mir Fieber, Schnupfen und Durchfall.
Doch ich hatte Glück im Unglück. Răzvans Frau Andreea ist Ärztin,
somit befand ich mich in guten Händen.
Damit ich die Busfahrt am nächsten Tag überlebte, wurde ich mit
Präparaten gedopt, die PARACETAMOL SINUS, SMECTA und DÉBRIDAT
hießen.
Ein Gedanke ließ mir während der Heimfahrt keine Ruhe. Es müsste
doch möglich sein die Karpaten auch mal im Winter zu durchwandern,
zumindest die Südkarpaten.