(Karpatentour April/Mai 2000 – Rumänien)
2000 – eine schöne runde Zahl. Dieses Jahr wollte ich mir nicht durch Arbeit versauen, sondern stattdessen ganz ungezwungen kreuz und quer durch die rumänische Bergwelt wandern. Ich kündigte meinen Job, packte meinen Rucksack und startete am 1. April mit Uli zu meiner Millenniums-Karpatentour. Zunächst erwarten uns die Sachsendörfer mit ihren Kirchenburgen Siebenbürgens. Mit Birthälm (Biertan) hatten wir bereits 1997 eine der größten Wehrkirchen kennengelernt. Jetzt würden wir Rumänien von einer ganz neuen Seite erleben.
Mit dem Bus fahren wir von Freiburg nach Deva. Răzvan erwartet uns schon am Busbahnhof. Zuerst geht es in die Stadt auf eine Ciorba de burtă, anschließend auf den Burgberg. Die Ruine erinnert an die österreichische Zeit, als eines Tages das Pulverdepot in Brand geriet und die Burg zerstörte. Wir wollen noch ein Bier trinken, doch die Kneipen sind an diesem Sonntag voll. Răzvan ärgert sich und meint, dass es unverständlich ist, denn morgen wissen die Männer nicht mehr, wie sie ihre Familie versorgen sollen.
Am nächsten Morgen heißt es früh aufstehen. Auf dem Bahnhof erstehen wir für 10 DM eine Fahrkarte mit Schnellzug-Zuschlag bis Mediaș (Mediasch). Kurz vor 7 Uhr fährt ein Zug in Richtung Mediasch. Es ist neblig. Erst hinter Simeria (Fischdorf) wird die Sicht gut – aber nicht sehr erfreulich. Viele Felder stehen unter Wasser, nur auf wenigen kann gearbeitet werden. Viel Unrat liegt herum und es sieht so aus, als ob die Flüsse als Müllkippe herhalten müssen. Hinter Blaj (Blasendorf) tauchen die Kirchenburgen von Mănărade (Donnersmarkt) und Valea Lungă (Langenthal) auf.
Etwa 3 ½ Stunden dauert die Fahrt. Die Sonne scheint und es verspricht ein schöner Tag zu werden. Bevor der Zug in den Bahnhof von Mediasch einfährt, erblicken wir auf der linken Seite mehrere Häuser, die einen merkwürdigen Anblick bieten. Die Fenster fehlen und an einigen Öffnungen hängen Decken oder Plastikfolien. Schwarze Rußfahnen ziehen sich von vielen Fenstern nach oben und lassen vermuten, dass die Zigeuner, die hier untergebracht worden sind, in den Zimmern offene Feuer gemacht haben. Zigeunerkinder toben rund um die Wohnblöcke herum.
Der Anblick vor dem Bahnhof ist noch erträglich. Am Busbahnhof sehen wir uns nach den Abfahrtzeiten der Busse nach Târnaveni (Sankt Martin) um. Der Bus fährt erst um 12:47 Uhr, wir haben also noch genügend Zeit für den Besuch der Kirchenburg, die die Stadt überragt.
Es ist noch recht ruhig in Mediasch, schon von Weitem ist der schiefe Trompeterturm zu sehen, der die Innenstadt überragt. Unser Ziel ist die evangelische Pfarrkirche St. Margarethen im Stadtzentrum. Sie ist umgeben von Mauern und Türmen und gibt ein wunderbares Bild einer mittelalterlichen Stadtbefestigung ab. Wir erreichen einen gepflegten Platz, der von sehr schönen alten Häusern aus der K. und K. Monarchie umgeben ist. Die Häuser vermitteln ein anheimelndes Bild, nur könnten sie etwas Farbe vertragen. Links von der Burg finden wir den Eingang und betreten neben der deutschen Schule das Innere der Festung. Vor der Schule steht das Denkmal des Pfarrers und Aufklärers Stefan Ludwig Roth. Das Innere der Burganlage ist völlig restauriert worden. Die Schulkinder haben gerade Pause. Am Eingang zur Kirche kommt uns eine Frau aus dem evangelischen Konsistorium entgegen und bietet uns an, mit ihr die Kirche zu besichtigen. Was für ein Glück.
Zunächst geht es in einen kleinen Raum, in dem für die wenigen Deutschen, die in der Umgebung in Siebenbürgen geblieben waren, Gottesdienste abgehalten werden. Ein herrlicher Altar nimmt uns im großen Kirchenschiff gefangen. Das Kirchenschiff war 1972 das erste Mal restauriert worden. Viele Details und Malereien aus der katholischen Zeit dieser Kirche wurden damals freigelegt. Leider wurden die Malereien während der Arbeiten teilweise beschädigt. Warum nur?
Der Altar aus dem 15. Jahrhundert wurde von den Einwohnern anlässlich des Sieges über die Türken in der Schlacht auf dem Brodfeld (1479) errichtet. Doch hier steht nicht nur ein Altar. Da es in den Dörfern, in denen es keine deutsche Gemeinde mehr gibt, immer wieder zu Diebstählen kam, wurden einige Altäre zum Schutz in der Margarethenkirche aufbewahrt. Sie sind zu wertvoll und erfreuen die Betrachter auf den Emporen auf beiden Seiten des Hauptschiffes.
Das Taufbecken aus dem 14. Jahrhundert ist das älteste Taufbecken der evangelischen Kirche Rumäniens. Hier gibt es zudem eine wunderbare Orgel und von den Balustraden hängen viele anatolische Teppiche, die der Kirche von den Kaufleuten zum Geschenk gemacht worden waren. Sie verkörpern heute einen enormen Wert.
Die Frau zeigt uns, wie wir über eine Holzstiege wieder auf den Platz hinabsteigen können. Die Rumänen hatten rechts in einem Hof ihrem Dichter Eminescu ein Denkmal aufgestellt. Dieser Dichter war recht umstritten, denn er neigte stark zu rechtsradikalen Ansichten und war gegen die Juden.
Ein Polizist zeigt uns, wo wir unser Geld in Lei eintauschen können. Nun können wir auch ein Brot und etwas Käse und Gemüse kaufen. Neben einem Teil der alten Stadtmauer und im Schatten eines restaurierten Turmes machen wir Vesperpause. Am Busbahnhof zeigt uns der Vorsteher die Personaltoilette. Das Ticket nach Târnaveni kostet 1100 Lei (11 Pfennig) für die 22 Kilometer. Beim Warten auf unseren Bus entdecken wir gegenüber ein Bauwerk, das einst eine Synagoge gewesen sein könnte.
Mit dem Bus verlassen wir Mediasch und beginnen unsere erste Kirchenburgentour durch Siebenbürgen. Zunächst geht es in Serpentinen eine Bergkette hinauf und auch bald wieder hinab. Ein weites Hügelland breitet sich aus. Durch mehrere langgestreckte, ehemals sächsische Dörfer streben wir Târnaveni zu. In dem Ort Blajel (Kleinblasendorf) fällt auf der rechten Seite eine Beschriftung auf: „Benelux Camping“. Die dort befindlichen Hütten und das dazugehörige Haus scheinen recht neu zu sein. Unsere Übernachtungsfrage für heute Abend ist schon mal beantwortet.
In Târnaveni angekommen, umgibt uns viel Staub. Unser nächstes Ziel heißt Băgaciu (Bogeschdorf). Am Busbahnhof verkaufen Zigeunerkinder Ikonenbildchen. Wir müssen mit dem Bus von Târnaveni die 16 Kilometer (800 Lei/8 Pfennig) nach Bogeschdorf fahren. Für die Jugend von Bogeschdorf scheinen wir eine Attraktion zu sein. Ob die sich gerade fragen, was uns hierher verschlagen hat? Auf jeden Fall machen sie deutlich, dass sie nicht begreifen können, was einen in so ein Nest verschlagen kann. Neugierig begleiten uns die Kinder zur Kirchenburg.
Ein Mann spricht uns in Deutsch an und meint, dass die Kirche offen sei. Doch sie ist verschlossen. In einem Haus neben der Kirche bitten wir eine Frau, uns die Kirche aufzuschließen. Wir betreten das vernachlässigte Kirchenschiff und steigen auf den Turm. Von hier aus sind die schönen Sachsenhöfe mit ihren zur Straße stehenden Giebeln zu sehen. Viele sehen noch gepflegt aus. Dahinter dehnen sich weite Felder aus, die gut bestellt sind. Auf den Wiesen befindet sich ein guter Viehbestand. Eigentlich dürfte in diesem Land niemand Mangel leiden.
Wir schauen uns die Kirche aus dem 15. Jahrhundert an. Es gibt Anzeichen, dass man mit Restaurierungsarbeiten begonnen hatte. Auch ein Teil der Mauer ist neu verputzt worden. Wir geben der Frau 10 000 Lei, können aber nicht sehen, ob sie damit zufrieden ist. Danach geht's erst mal in die Dorfkneipe auf ein Bier. Eine Einladung in ein Weingut, das der Kirche gegenüberliegt, schlagen wir sicherheitshalber aus. Als wir in der Kneipe sitzen, nimmt die Zahl der Jugendlichen zu. Bei einem Bier erfahren wir, dass hier einst 547 Deutsche gelebt hatten. Jetzt waren es nur noch drei Familien. Dafür beharrten die hier lebenden Ungarn auf ihre Heimat und blieben hier wohnen.
Ein paar Gestalten hocken vor ihren halbvollen Bier- und Schnapsgläsern. Ein Typ quatscht uns an. Sein Bruder sei gerade in Deutschland – in Saarbrücken. Ob wir ihm ein Bier ausgeben könnten? Hier gibt es Bier in 2-L-Flaschen – Marke Hațegana. Wir kaufen eine für die Runde. Bekommen auch ein Bierglas und ein Schnapsglas. Die Typen bestellen sich selbst noch was zum Schlucken, sodass wir im Endeffekt von den 2 Litern das Meiste selber trinken. Das Billigbier schmeckt nicht mal schlecht. Der Schnaps ist knallrot und schmeckt nach Himbeerbonbon.
Wir überlegen uns den Weiterweg. Wir hatten die Absicht, über Deleni (Kleinfarken) nach Blajel zu laufen. Da kommt eine Frau und macht uns darauf aufmerksam, dass der letzte Bus in Richtung Tirnaveni um 16:15 Uhr abfährt. Sie zeigt uns die Haltestelle. Halb besoffen gehen wir mit ihr zurück zur Bushaltestelle. Sie schenkt jedem von uns auch noch stolz einen der neuen 2000-Lei-Scheine, die aus Anlass der Sonnenfinsternis im August 1999 herausgegeben worden waren.
Der Bus kommt, wir steigen ein, der Fahrer will kein Geld. Der Bus ist halb verrostet, ob wir die Fahrt zurück deshalb nicht bezahlen müssen? Oder hat sich heute der Matthäus-Effekt bewahrheitet – wer hat, dem wird gegeben?
In Târnaveni müssen wir wieder umsteigen und in Blăjel steigen wir aus, um auf dem Campingplatz „Benelux Camping“ Quartier zu beziehen. Ich habe zwar ein Zelt dabei, doch Frau Steijn fragt, warum wir nicht ein Zimmer nehmen wollen, das 18 DM mit Frühstück kosten würde. Also wird es das Campinghüttchen – warum nicht eine Reise mal komfortabel beginnen?
Herr Steijn ist Holländer, seine Frau Siebenbürgin aus Kleinschelken, beide betreiben den Campingplatz. Jahrelang war Herr Steijn als Chef der holländischen Osteuropa-Hilfe für Hilfslieferungen nach Rumänien verantwortlich und wusste einiges über rumänische Eigenarten zu berichten.
Ein Kinderheim bekam einen Farbfernseher. Doch bei erneuten Besuchen der Mitarbeiter des Hilfswerkes konnten sie nirgends den Fernseher entdecken. Im Zimmer des Direktors wurde man fündig. Die Begründung des Herrn: „Die Kinder würden nur mit der Fernbedienung spielen.“
Oder in einem Altenheim: Zu Weihnachten sollten die alten Leute Päckchen mit Hilfsgütern bekommen. Frau Direktor gab den Mitarbeitern des Altenheims, die die Päckchen packen sollten, die Anweisung, nur die Hälfte von dem einzupacken, was vorgesehen war. Nachforschungen ergaben, dass die Direktorenfrau selbst Kühltruhen gehortet hatte.
Ärzte sollen sich ganze Einrichtungen unter den Nagel gerissen haben, um damit ihre Privatpraxen auszustatten. Und der Priester der Gemeinde ließ sich das Segnen der Häuser mehr als gut bezahlen. In der Hoffnung, noch mehr Geld einzunehmen, erzählte er bei Hausbesuchen, wie viel der Nachbar gezahlt hat.
Die korruptesten Zeitgenossen waren für Herr Steijn Ärzte, Manager, Polizisten, Priester, Schaffner und Zöllner – seiner Meinung nach alles Gründe, warum es in Rumänien nicht aufwärtsgeht. Ob er Politiker vergessen hatte, fragte ich mich? Er sagt, dass er keinen Gulden mehr nach Rumänien bringen würde und mit den gesammelten Geldern lieber Notleidende in Litauen unterstützen würde.
Nach einem reichhaltigen Frühstück brechen wir gegen 9:30 Uhr auf. Es ist angenehm kühl, als wir uns verabschieden und uns zu Fuß auf den Weg machen. Nicht weit vom Campingplatz hatten wir gesehen, dass ein Wegweiser nach Bazna (Baaßen) zeigte. Nach einiger Zeit folgt der Hinweis, das Velț (Wölz) in einer Entfernung von 1 Kilometer zu erreichen ist. So wird unser erstes Ziel an diesem Tag Wölz, ein Dorf mit einer völlig verwahrlosten Kirchenburg. Sie war bei einem Erdbeben arg beschädigt worden, doch wer soll sich hier für eine Restaurierung einsetzen? Auch hier leben meist nur Zigeuner. Wir laufen weiter nach Baaßen. Den Ort erreichen wir nach 2 Stunden Laufzeit und finden hier eine Kirchenburg vor, die sich in einem hervorragenden Zustand befindet. Ein Frauenverein ließ die Kirchenburg rekonstruieren. Leider ist sie geschlossen, und wir können keinen Schlüsselwart ausfindig machen. Der Pfarrer sei aus Mediasch, meint ein Junge auf der langen Treppe. Also geht es weiter.
Ein Plakat auf dem Bahnhof in Mediasch zeigte ein schmuckes Kurbad, das wir allerdings nicht finden. Auch früher soll Baaßen ein berühmter Kurort gewesen sein.
Ein Bus nimmt uns mit bis in den Nachbarort Boian (Bonnesdorf). Der Fahrer will wieder kein Geld, ich bin überrascht.
Hier soll laut dem Burgwart noch ein Sachse leben. Der Auerochsenkopf, das Wappen Stefan des Großen, ziert den Eingang zur Kirchenburg. Das ist ungewöhnlich in Siebenbürgen, aber Bonnesdorf war keine freie Gemeinde und gehörte für kurze Zeit dem Moldaufürsten, der auch den Bau der Wehrkirche unterstützte. Zwei Leute eilen, um den einen jungen Mann zu holen, der uns die Kirche aufschließt. Bald kommt auch Herr Wagner, der Kurator. Er erzählt uns, dass schon mehrmals eingebrochen worden sei und Gemälde und andere wertvolle Gegenstände gestohlen worden seien – wie in anderen Kirchen auch. Von den einst 600 Deutschen gibt es heute nur noch vier, sagt Herr Wagner.
Wir verlassen Bonnesdorf. Die Dorfstraßen sind, soweit man schauen kann, voller Mist und Dreck. Es geht weiter in Richtung Cetatea de Baltă (Kokelburg), das 7 Kilometer entfernt liegt. Ein Bauer will auf seinem von zwei Wasserbüffeln gezogenen Wagen Mist auf seinen Acker bringen und bietet uns an, unsere Rucksäcke auf seinem Wagen mitzunehmen, zumindest ein Stück. So laufen wir über Hügel und Felder und neben uns erzählt der Bauer ununterbrochen, nur wir verstehen nichts.
Von Kokelburg fährt ein Zug bis Jidvei (Seiden). Der Zug ist schon da. Ein Fahrkartenhäuschen ist nirgends zu entdecken. Ob wir beim Schaffner bezahlen können? Ich bin mir nicht sicher, wir hatten ja vor drei Jahren recht negative Erfahrungen diesbezüglich gemacht. Doch ein Wunder, auch der Schaffner will kein Geld. Mit dem Hinweis auf die kurze Strecke (2 Stationen) winkt der Mann ab. Irgendwie versteh ich die Welt nicht mehr.
Wir hocken uns in Seiden vor die Kneipe und trinken ein Bier. Uli schaut sich die Kirche an, mir leisten ein paar Zigeuner Gesellschaft. Einer jammert: „Viel Arbeit, wenig Geld, Geld schwimmt weg wie Wasser.“
Das Dorf macht einen gepflegten Eindruck, vor allem fällt auf, dass hier kaum Müll herumliegt. Uli kommt zurück und wir trinken noch ein Bier. Der Kneiper kommt heraus und fragt uns, ob wir aus Deutschland kämen, und zeigt stolz auf seinen Mercedes – ein älteres Modell, doch gepflegt. Plötzlich sagt er, dass wir einsteigen sollten. Er will mal schnell ins Nachbardorf nach Băcaciu (Bulkesch) – und wenn wir wollen, können wir mitfahren. Das passt prima. Wir steigen ein und los geht es. Bulkesch liegt 10 Kilometer entfernt, da kann man sich schon freuen, wenn man dorthin gefahren wird. Vor der Kirchenburg setzt der Mann uns ab. Wir schleichen um die Kirche herum, da es schon nach 18 Uhr ist, suchen wir uns einen Platz zum Zelten.
Am Friedhof hinter der Kirchenburg ist ein Fleckchen Wiese, hier können wir unser Zelt aufbauen. Die Wehrkirche kann bis morgen warten. Auf dem Friedhof setzen einige Männer einige neue Bäume und Sträucher. Einer meint, dass der Kurator den Schlüssel zur Kirchenanlage habe. So setzen wir uns und essen Wurst aus der Konserve mit Brot.
Es ist schon dunkel, als der Strahl einer Taschenlampe unser Zelt trifft. Wir schauen auf die Uhr. Es ist 22 Uhr. „Was macht ihr“, fragt jemand. „Ich bin der Kurator, Fritz und habe erst jetzt erfahren, dass Deutsche am Friedhof ein Zelt aufgeschlagen haben. Wenn ihr wollt, könnt ihr bei mir schlafen, ist besser. Hier sind viele Zigeuner, die haben mir letztens sogar das alte Friedhofstor geklaut.“ Also nehmen wir die Einladung von Kurator Fritz an. Später erfahren wir von ihm, dass die Zigeuner auch den neuen Maschendrahtzaun vom Friedhof geklaut hatten. Frau Zikele ist etwas zurückhaltend und macht uns mit einem wohl etwas unguten Gefühl ein Zimmer zurecht. Bei einem Begrüßungsschnaps und etwas erzählen ist es bald Mitternacht.
Von den einst 600 Sachsen leben noch vier in Bulkesch, erzählt er uns. Die verlassenen Sachsenhöfe wurden an Rumänen und Zigeuner vergeben. Bei ihm und seiner Frau leben noch Hühner, Gänse, Enten, Puten, Kaninchen, Schweine, Hund und Katze. Fritz hat auch den Schlüssel für die Kirchenburg. Jeden Mittag muss er das Uhrwerk des Kirchturms aufziehen. Wir begeben uns also mit ihm hinauf zur Kirchenburg, die noch völlig intakt ist, nur wurde im 19. Jahrhundert der Wehrumgang des Turmes abgebaut und durch eine barocke Haube ersetzt. Alles ist gepflegt und mit frischen Blumen bepflanzt. Fritz erzählt, dass er alles für ein Sachsentreffen zu Ostern vorbereitet. Es gibt sogar im Torhüterhaus noch Möglichkeiten zum Übernachten.
Wir steigen auf den Turm und schauen über das schöne Siebenbürger Land. Im Turm hängen drei Glocken. Von der Hauptglocke war 1998 ein Stück abgeplatzt. Eine Glocke hatte 1923 eine reiche Frau der Gemeinde geschenkt. Wenn aus Deutschland die Nachricht kommt, dass von der ehemaligen Gemeinde jemand gestorben ist, wird diese Glocke geläutet. Auf dem Friedhof liegen viele Sachsen. Bei Beerdigungen hält der Pfarrer von einem Pavillon aus eine Predigt, die Trauergäste sitzen auf Bänken davor.
Als Fritz die Zeremonie erklärt, stellt er fest, dass eine der fünfhundert Jahre alten Bänke abgebaut worden war. „Nichts ist vor den Zigeunern sicher“, meint er die Schuldigen sofort zu kennen.
Früher hat Fritz als Traktorist gearbeitet, unten im Weinbaubetrieb. Er hat den Wein gefahren. „Es war oft ein recht heiterer Job“, sagt er. Seine Frau sagt, dass er da oft nicht ganz nüchtern gewesen war.
Er lädt uns zu einem Besuch der zum Weinbaubetrieb Seiden (Jidvei) gehörenden Weinkellerei ein. Der Chef der Weinkellerei in Bulkesch ist Kellermeister Radu, der gerne sein Reich zeigt. In Bulkesch wird Weißwein abgefüllt und gelagert. Die Befüllung der Weinflaschen geschieht automatisch, die Etiketten kleben Arbeiterinnen aber noch von Hand auf die Flaschen.
In mannshohen Holzfässern lagert der Schatz von Bulkesch – edelster Kokelwein. Radu holt einen Riesling aus einem verstaubten Regal, wir sollen probieren. Da können wir natürlich nicht Nein sagen. So eine Flasche reicht nicht lang für vier Leute. Für Radu kein Problem, im Nachbarraum stehen mächtige Metalltanks. Hier lagert die aktuelle Lese. Ein Griff zum Hahn und schon sprudelt der Wein in die Gläser. Das hat Folgen: Viel von der Kellerei und dem Kokelländer Weinbau bekomme ich nicht mehr mit.
Auf dem Heimweg fährt Radus Auto an uns vorbei, am Steuer sitzt seine Frau. Wir werden eingeladen und müssen bei Radu noch einen Kaffee trinken – und danach noch Radus Eigenproduktion begutachten. Er holt ein Buch, das er bei einem Besuch in Deutschland für 120 DM gekauft hatte. Es handelt über Bulkesch und wohl auch andere Sachsendörfer. Sarah Klein hatte es herausgegeben. Das recht dicke Buch behandelt die Geschichte des Ortes. Radu zeigt uns darin seinen Vater und viele aus dem Dorf. Das Buch kann er nicht lesen, doch bedeutet es ihm sehr viel. Wir schaffen es noch bis zum Dorfladen. Uli kauft zwei Flaschen Kokelwein für später. Die Flaschen fallen unterwegs durch den Plastikbeutel. Der gute Tropfen segnet den Boden vor dem Laden. Also noch mal retour, um neuen Wein zu holen. Wir wollen eigentlich nur etwas ruhen, doch als wir wach werden, ist es schon heller Tag.
Wir kommen recht spät weg am nächsten Tag. Beim Frühstück erzählen wir Fritz, dass wir von hier aus nach Langenthal wollen. Er rät uns ab, denn der Regen der letzten Tage hatte den Weg fast unpassierbar gemacht. Schade, denn es ist ein Weg von nur reichlich 4 Kilometern. Fritz meint, dass sein Schwiegersohn nach Blaj (Blasendorf) fahren will. Und dieser nimmt uns mit. Er setzt uns am Bahnhof ab, doch ein Zug fährt in absehbarer Zeit nicht. Das heißt laufen oder trampen. Zunächst verlassen wir Blaj und schauen so nebenbei zu, wie die Bauern auf den Feldern hinter dem Ort Saatkartoffeln stecken. Ist der Bauer weg, kommen die Zigeuner und buddeln die Kartoffeln wieder aus, und schleppen sie in großen Taschen durch den Ort zu ihren Unterkünften.
Ein Lkw-Fahrer nimmt uns mit. Er zeigt auf die Zigeuner und meint: „Das ist heute Rumänien, ein Land ohne jede Ordnung und ohne jede Zukunft.“ Wir fahren an Langenthal und Donnersmarkt vorbei. Auch an der kleinen Kirche von Țapu (Abtsdorf), die eigentlich recht interessant ist. Aber bei dem Wetter wollen wir das Risiko nicht eingehen, uns eine neue Mitfahrgelegenheit suchen zu müssen. Plötzlich entdecken wir ein Schild mit der Aufschrift: „Șeica Mică 3 km“. Hier steigen wir aus und hoffen, dass das zutrifft, was uns Herr Steijn erzählte, dass in Șeica Mică (Kleinschelken) die schönste Kirchenburg stehen würde.
In einer kleinen Kneipe trinken wir ein Bier und essen unser Brot. Das Mädchen drängelt, sie will schließen. Das Dorf ist recht lang. Die Kirchenburg steht mitten drin und sieht sehr trutzig aus. Es regnet. Die für die Kirche zuständige Familie wohne im letzten Gehöft, meinen Einheimische. Das war einmal: Denn dem jungen Ehepaar, das hier wohnt, war schon vor zwei Jahren der Schlüssel abgenommen worden, weil sie sich kaum um die Kirche gekümmert hatten.
Der neue Kurator heißt Martin Draas, der gleich neben der Kirche in einem grünen Gehöft wohnt. Als wir dort klopfen und unseren Wunsch vorbringen, erfahren wir, dass seine Frau krank ist. Nachdem wir über die Krankheit seiner Frau (Gürtelrose), über die schlechte Finanzlage und die Geschichte der Deutschen aufgeklärt sind, geht Martin Draas mit uns zur Kirchenburg. Sie ist sehr sehenswert und muss auch sehr wehrhaft gewesen sein.
Leider konnte sie den Gelüsten einiger Neureichen nicht so recht widerstehen, denn erst vor Kurzem hatte man eingebrochen und das kostbare Altarbild gestohlen. Die Holzeinfassung liegt noch da, nur war die Polizei aus Mediasch noch nicht vorbeigekommen, um den Diebstahl aufzunehmen. Das gestohlene Bild stammte noch aus der Dürerzeit.
Was hier in Rumänien alles geschieht, kann man als Uneingeweihter kaum glauben.
Mittendrin erzählt Martin Draas, dass während des Krieges sein Vater und 283 Männer des Ortes in die Waffen-SS gedrückt wurden. Nach dem Krieg seien von den Kommunisten 283 Frauen aus dieser sächsischen Gemeinde zum Wiederaufbau nach Russland geschafft worden. Die Kinder hätten die Kommunisten ohne Eltern auf dem Dorfplatz stehen gelassen. Sie seien dann von anderen Sachsenfamilien betreut worden. Viele Frauen seien nicht mehr wiedergekommen. Der Vater von Martin Draas wurde aus der Gefangenschaft in die DDR entlassen und durfte Rumänien nicht mehr besuchen. Er ging dann nach Westdeutschland, und von dort kommt gerade Besuch, sodass wir uns verabschieden konnten. Plötzlich gibt es keine schlimme Krankheit mehr und von der schlechten Finanzlage ist auch keine Rede mehr.
Heute leben von einst 1600 Sachsen nur noch 16 in dieser Gemeinde. Früher war Kleinschelken ein reiches Dorf und hatte eine große und moderne deutsche Schule, die heute als rumänische Hauptschule genutzt wird. Später erfahren wir, dass das gestohlene Altarbild in Ungarn aufgegriffen wurde und man in Verhandlungen wegen der Rückführung steht.
Unser nächstes Ziel heißt Axente Sever (Frauendorf). Nach einigen Kilometern nimmt uns ein kleiner Lieferwagen bis Copșa Mică (Kleinkopisch) mit. Der Typ hat was im Metallwerk zu erledigen. Uli darf im Auto hocken bleiben und fährt mit ins Werk, ich muss beim Werkschutz bleiben, als Geisel :-).
Danach geht es bis Frauendorf. Es regnet und ringsherum sieht alles trostlos aus. In einem Kirchenburgenführer war zu lesen, dass man in der Kirchenburg übernachten könne. Die Kirchenburg erhebt sich mächtig in der Mitte des Dorfes. Die Mauern sind intakt und auch so macht die Anlage noch einen guten und wehrhaften Eindruck. Als wir ankommen finden wir die Räume von Zigeunern belegt, also nichts mit übernachten, doch findet sich eine Frau bereit, uns die Besichtigung zu ermöglichen.
Wir steigen bis hinauf zum Turm und finden auch noch den Raum intakt, in dem sich die Bevölkerung bei den Türkenangriffen zurückziehen konnte. Beeindruckend! Vom Turm aus können wir den nächsten Ort mit einer Wehrkirche sehen. Er heißt Agârbiciu (Arbegen). Bei dem Wetter haben wir keine Lust mehr bis dorthin zu laufen. Auch in dem Gehöft, das neben der Kirchenburg steht, gibt es keine Übernachtungsmöglichkeit. Es ist ein Hotel mit Restaurant und heißt „Würzburger Hof“. Das Restaurant liegt im Keller und ist gut eingerichtet. Es gibt auch einige Speisen zur Auswahl. Wir wollen nicht unnötig die Zeit vergeuden und so bleibt uns nichts weiter übrig als nach Kleinkopisch zurückzulaufen und mit dem nächsten Zug weiter nach Schäßburg (Sighișoara) zu fahren.
Im Dunklen erreichen wir das uns schon bekannte Hotel Steaua. Hier hat sich in den letzten drei Jahren nicht viel verändert. Ob wir ein Zimmer bekommen können, fragen wir den Typ an der Rezeption. „Schon“, sagt er, es würde 30 DM pro Person kosten. Aber es gebe auch ein Privatzimmer in der Stadt, das nur 20 DM kostet und ein besseres Niveau habe. Auch nicht schlecht! Wir sollen ein paar Minuten warten, es würde uns jemand abholen.
Es ist Maria, die Oma des Hotelangestellten. Wir bekommen ein Zimmer in Schäßburgs Altstadt und einen Begrüßungsschnaps. An diesem Abend sind wir froh, dass wir ein warmes Zimmer gefunden haben.
Der Frühling hat in Schäßburg noch nicht Einzug gehalten, es schneit am nächsten Morgen. Zeit für eine Stadtbesichtigung. Hinter dem Stundenturm befindet sich eine Gaststätte, die „Vlad-Țepeș-Bierstube“. Die Bierstube hat leider geschlossen. Eine Tafel informiert, dass hier Vlad II. Dracul zwei Jahre gewohnt hat und sein Sohn, Vlad III., der die Beinamen „Țepeș“ (Pfähler) und „Dracula“ (Teufelchen) erhielt, hier geboren ist. Das ist jedoch sehr fragwürdig, ließen die Sachsen doch nur Sachsen in der Oberstadt wohnen. Rumänen und Asylanten wohnten vor der Mauer – und Vlad II. war Asylant.
Mich zieht es zu dem Holzschnitzer, den ich 1997 fotografiert hatte, er ist aber nicht daheim. Ich stecke die Fotos in den Briefkasten. In einer Pizzeria bekommen wir eine sehr gute Pizza und entschließen uns dann, mit dem Zug zu einer der Kirchenburgen zu fahren.
In der Nähe von Schäßburg stehen einige Kirchenburgen. Das Wetter ist wieder schön geworden. Wir fahren mit dem Zug nach Brateiu (Pretai), die Burg ist leider verschlossen. Eigentlich wollen wir per Anhalter zurück nach Schäßburg fahren, doch da kommt ein Bus, der uns zunächst nach Șaroș (Scharosch) bringt. Hier steigen wir aus – zum Fotografieren. Von allen Seiten strömen Zigeunerkinder heran, die alle etwas haben wollen. Ich komme deshalb zu keinem Bild. Wir nehmen Reißaus und erreichen nach 2 Kilometer Fußmarsch den Bahnhof von Dumbrăveni (Elizabethstadt) und fahren mit dem nächsten Zug zurück nach Schäßburg. Es ist schon dunkel. Wir trinken noch ein Bier. In unserer Pension wartet schon unsere Oma mit Abendbrot und einer Flasche selbstgemachten Wein.
Auch am nächsten Morgen schneit es. Unser Zug nach Brașov (Kronstadt) fährt um 9:45 Uhr. Für beide Tage mit Frühstück möchte unsere Oma nur 40 DM haben. Wir wollen weiter nach Osten. Der Zug nach Kronstadt wartet bereits auf Gleis 2. Der Olt führt immer noch Hochwasser. Überall stehen Wiesen und Felder unter Wasser. Kurz vor Kronstadt zeigen sich einige herrliche Kirchenburgen: zunächst vor Rupea (Reps) in Cața (Katzendorf) auf der linken und in Homorod (Hamruden) auf der rechten Seite. Es folgt noch eine in Racoș (Unter-Krebsdorf).
In Kronstadt haben wir noch nicht mal den ersten Fuß auf den Bahnsteig gesetzt, als Grig schon vorstürzt und ein Zimmer vermitteln möchte. Er und seine Frau Maria fangen jeden Touristen ab, in der Hoffnung, ihm ein Zimmer in der Stadt zu vermitteln. Der rührige Zimmervermittler hatte mich von meinem letzten Besuch in Kronstadt wiedererkannt. Wir wollen aber weiter bis Prejmer (Tartlau). Grigs Freund bietet seinen Fahrdienst für 8 US$ an, doch der Zug um 12:14 Uhr ist wesentlich günstiger.
Die Kirchenburg von Tartlau ist Siebenbürgens Vorzeigeburg und auch die östlichste. Auf dem Fundament einer Burg des deutschen Ritterordens, das die Form eines Kreuzes hatte, ließen Zisterzienser Mönche die Heilig-Kreuz-Kirche errichten. Ihr Flügelalter aus dem 15. Jahrhundert ist der älteste seiner Art in Siebenbürgen.
In den Kammern entlang der Burgmauer suchten die Dorfbewohner in Kriegszeiten und bei Überfällen Schutz. Die Burg in Tartlau ist die besterhaltene und auch die größte in Siebenbürgen.
Wir suchen erst mal einen Schlafplatz. In Tartlau gäbe es zwar ein Gästehaus mit Übernachtungsmöglichkeiten für Gruppen, doch die Frau, die es verwaltet, sei gerade in Hermannstadt, meinte die Burghüterin. Wir hätten uns anmelden sollen. Ohne Anmeldung keine Übernachtung, auch wenn alles frei ist. „Das ist die deutsche Mentalität“, sagt sie. „Da steht was geschrieben, und dann muss das so sein.“ So trampen wir in die Nachbargemeinde nach Hărman (Honigberg).
Die Burganlage aus dem 13. Jahrhundert zählt ebenfalls zu den größten in Siebenbürgen. An der inneren Burgmauer befinden sich wie in Tartlau Wohn- und Lagerräume. Selbst an die Kirche wurden Wohn- und Vorratskammern gebaut, eine sogar für den Bischof. Der Speckturm war abgebrannt, doch gleich daneben wurde der Rest einer alten Kapelle mit alten Malereien entdeckt.
„Der Kirchturm soll nächstes Jahr restauriert werden“ erzählt der Burghüter. Und der Kindergarten wird zum Gästehaus umgebaut. „Touristen kommen viele, aber es übernachten wenige.“ Deshalb rentiert sich kein eigenes Gästehaus.
In Honigberg leben noch etwa 100 Sachsen. Im Winter findet der Gottesdienst in einem Raum des Burghüterhauses statt. Nur am Palmsonntag kommen die Leute noch in Tracht.
Der Burghüter und seine Frau haben in ihrem Häuschen auch Gästezimmer, wo wir übernachten können. Er spendiert einen Begrüßungsschnaps (Grappa). Bei einem Kaffee lässt er sich nachher über die rumänische Politik aus. „Sobald ein Rumäne Geld sieht, kriegt er feuchte Finger. Und ist er einmal bestechlich, kannst du ihn vergessen. Eine rumänische Regierung wird nie etwas zuwege bringen“, so seine pessimistische Meinung. Im Fernsehen läuft Fußball Brașov gegen Bukarest (2:0).
Da er die Übernachtung versprochen hat, warten wir – und müssen deshalb auch noch das anschließende Tennismatch ansehen. Die Beiden rauchen eine Zigarette nach der anderen, sodass uns die Augen tränen. Dazwischen erzählt der Burghüter von den Zigeunern, die einst zum Wohle der Gemeinde viele Arbeiten erledigten und sehr beliebt waren. Heute sei mit ihnen nichts mehr los. Manche von ihnen hätten viel Geld, fügt er an. Das habe er gesehen, als er mit einem Filmteam des ZDF zu Filmaufnahmen in einer Sandgrube war. Dort hätten sie gehaust, der Chef aber, den sie nach Târgu Mureș begleiteten, besitze dort mehrere Häuser.
Bei Gottesdiensten kommt der Pfarrer aus dem Nachbarort Petersberg. Die Gemeinden Petersberg, Honigberg und noch eine Gemeinde gibt es mit den gleichen Namen an der Mosel und in Luxemburg, von wo man in Siebenbürgen eingewandert war. Hier erfahren wir auch, dass man den Altar von Kleinschelken in Ungarn entdeckt hatte, von wo aus er ins westliche Ausland verkauft werden sollte. Unser Burghüter schlussfolgert, dass man in Kirchen auf ungarische Touristengruppen besonders aufpassen müsse und genau kontrollieren muss, ob auch alle wieder herauskommen und sich keiner hat einschließen lassen.
Als der Burghüter uns nach einigen Bierchen und Schnäpschen endlich zu seinem Haus bringt, erzählt er, dass er das Haus von seiner Schwester bekommen habe, als diese 1992 nach Deutschland ausgereist ist. In dem großen Haus würde seine 18-jährige Tochter wohnen, die jedoch nicht da ist. Oft erwähnt er, er brauche Geld, weil er seiner Tochter ein Auto zu deren Geburtstag schenken will – ein VW muss es sein. Ob er mit unseren 20 DM für die Übernachtung glücklich ist? Er hat sich ganz sicher mehr erhofft, vermuten wir, denn ohne Hintergedanken dürfte er nicht so häufig von finanziellen Sorgen erzählt haben.
Bevor der Zug nach Kronstadt kommt, hält ein Fahrzeug und bringt uns bis zum Bahnhof in Kronstadt. Dort treffe ich mich mit Ioan, einem Bergfreund, auf ein Bier, um die weitere Tour ab nächster Woche zu besprechen.
Für Uli ist Halbzeit. Unser nächstes Ziel ist das Kloster Sâmbăta am Fuß der Fogarascher Berge. Wir erreichen die Stadt Făgăraș (totes Nest), denn von hier aus sollen Busse bis zu den von uns angepeilten Orten fahren. Die Tafeln zeigen es noch an, doch Busse fuhren schon lange nicht mehr. Es sieht alles sehr säuisch aus. Bis zum nächsten Zug, der uns bis Voila bringen kann, ist noch etwas Zeit. In einem Lokal spricht der Kellner sogar deutsch. Hier bekommen wir etwas zum Essen – Ciorba de Burtă und Mititei mit Kartoffelchips. Wir eilen danach zum Bahnhof und fahren mit dem Zug bis zur Haltestation Voila.
Von Voila müssen wir es erneut per Anhalter versuchen. Ein Typ will uns unbedingt mitnehmen und bis zum Touristenkomplex Sâmbăta fahren. Unterwegs setzt er vor seinem Haus seinen Jungen ab und muss sich gegen seine Frau durchsetzen, die nicht will, dass er uns fährt. Ich gebe ihm für die 18 km 20 000 Lei. Das ist dem Typen offensichtlich nicht genug. Er faselt was von Spritkosten, will das Doppelte, greift dreist in meine Geldbörse und fängt an, drin rumzuwühlen. So bekommt er dann doch 40 000 Lei.
Da diese Region im Süden Siebenbürgens nicht von Sachsen besiedelt war, stand sie unter dem Einfluss der orthodoxen Kirche. Somit erklärt sich auch die Lage des Sâmbăta-Klosters. Berühmt ist der heilige Ort für seine Ikonenmalerei. Leider können wir die Werkstatt der Mönche nicht besuchen, der einzige Mönch, der englisch spricht, hält gerade Gottesdienst.
Ob wir im benachbarten Touristenkomplex eine Unterkunft bekommen? In einer der Hütten wird zwar gekocht, Zimmer gibt es aber keine. Der ganze Komplex scheint wie ausgestorben. Wir suchen uns einen geeigneten Platz für unser Zelt, direkt neben einem Bach mit frischem Wasser.
Die Nacht war kalt, doch am Morgen begrüßt uns ein herrlich klarer Tag. Blendend weiß erheben sich die Gipfel der Fogarascher Berge in den blauen Himmel. Wir trampen zurück nach Sâmbăta de Sus. Von dort geht es mit einem Traktor weiter nach Sâmbăta de Jos. Wir hocken auf dem Hänger wie die Hühner auf der Leiter. Aber besser schlecht gefahren als gut gelaufen. Mittags um 12 fährt ein Zug nach Hermannstadt, wir fahren mit. Eigentlich wollten wir mit der Kleinbahn bis Agnita fahren, doch die war schon weg. Bis zur Abfahrt eines Busses haben wir noch etwas Zeit und können uns ein Brot kaufen und in der Bahnhofswirtschaft ein Bier trinken.
Eine der am malerischsten gelegenen Kirchenburgen ist die von Hosman (Holzmengen) im Harbachtal. Das trifft auf die Kirchenburg in Nocrich (Leschkirch) wahrlich nicht zu. Die Kirche sieht recht heruntergekommen aus. Einen Speckturm gibt es nicht mehr und die Leute, die den Schlüssel hatten, waren, so heißt es, zurzeit in Deutschland. So versuchen wir unser Glück nun in Holzmengen. Am Bahnhof kommt gerade das Bähnle aus Agnita an. Sachsen leben hier keine mehr. Die neuen Dorfbewohner, meist Zigeuner, sind keineswegs kamerascheu. Ich soll ein Mädchen samt Bruder und Freundin fotografieren. Nach dem Foto wollen sie Geld (10 000 Lei) und Kaugummis. Ich gebe ihnen etwas Kleingeld und verspreche, die Bilder zu schicken.
Cristian, ein Rumäne, schließt uns die Burg auf. Vom Kirchturm kann der Blick auf das Dorf bis hin zu den Gipfeln der Südkarpaten schweifen.
Der Name eines Gebirgszuges der Ostkarpaten prangt an der hiesigen Dorfkneipe – Ciuc. Beworben wird eine Biersorte. Auch ein Grund, dem Laden einen Besuch abzustatten. Neben dem Gastraum befindet sich der Tanzsaal. Über dem Eingang flackert eine Neonlampe und hinten in der Ecke langweilt sich ein Blechofen wohl bis zum nächsten Winter.
Am Dorfrand bauen wir oberhalb der Straße zwischen Hügeln unser Zelt auf – mit einem traumhaften Blick zu den Bergen des Fogarascher-Gebirges, alles Gipfel, die wir gut kennen und schon mehrfach unter die Füße genommen haben. Am nächsten Morgen sind die Berge kaum zu erkennen. Schade.
Heute soll es mit dem Zügle nach Agnita (Agnetheln) gehen. Pünktlich um 9:45 Uhr rollt die Schmalspurbahn der Linie Sibiu – Agnita an. Für eine Handvoll Leute gibt es drei Waggons und zwei Schaffner, die am Kartenspielen sind. 8000 Lei (80 Pfennig) will der Mann. Dann hockt er sich wieder zu seinem Kollegen und spielt weiter.
Vom Bahnhof Agnita bis in den Ort sind es noch etwa 3 km. Durstig geworden hocken wir uns erst mal auf ein Bier in die Kneipe. Dort sitzt einer, der aussieht wie Jesus jr. Später stellt sich heraus, dass es der Pfarrer ist. In der ehemals viertgrößten Sachsengemeinde leben heute noch etwa 100 Sachsen, erzählt er.
Besonders bangt er um seine Kircheneinrichtung. Denn es seien schon Fotos im Internet entdeckt worden, die Gegenstände seiner Kirche zum Verkauf anboten, obwohl sie sich noch in der Kirche befinden. Immerhin gehen so die Diebe sicher, nicht umsonst arbeiten zu müssen. Der Pfarrer bedauert, keine Zeit für weitere Erklärungen zu haben, da er noch Unterricht in der Schule hat. Auf unsere Frage, ob in seiner Kirche schon etwas gestohlen worden ist, erzählt er, dass man hier zwei der wertvollsten Kelche von 1500 gestohlen hatte. Die Hintermänner seien meist Ungarn. Angeblich würden sie hier Zigeuner zu den Diebstählen überreden und sich dabei verpflichten, dass, sollten die Diebe erwischt werden, für deren Familien zu sorgen. In letzter Zeit habe man festgestellt, dass zwei siebenbürgische Altäre im Internet angeboten werden. Seine Sorge sei also nicht unberechtigt.
Der Pfarrer meint, dass die Haltestelle des Busses an der Schuhfabrik die bessere sei, da dort ein Fahrplan aushänge. Nach einem recht sättigenden Maisbrei-Mittagessen wollen wir weiter bis Moșna. Das Dorf liegt in Richtung Mediasch. Leider ist der Kleinbus zum Bersten voll. Wir bekommen keinen Platz mehr. In Richtung Sibiu dagegen fahren zwei halbleere Busse. Wir entscheiden uns bis zum Abzweig nach Mediasch zu laufen, hält jemand, ist es gut, wenn nicht, können wir immer noch um 15:55 Uhr mit einem Bus nach Schäßburg fahren. Dummerweise liegt die Straße nach Mediasch etwa 6 km südlich von Agnita und nicht, wie ich zu meinem großen Ärger feststelle, gleich hinter dem Ort, wie dies auf meiner Karte verzeichnet ist.
Die Felder an der Straße sind umgepflügt. Meliorationsgräben existieren nicht, oder sind versandet. Das Wasser sammelt sich auf den Rainen und kann nicht ablaufen. Wir stehen eine Zeit am Straßenrand, aber halten will keiner. Leider auch nicht der Bus nach Schäßburg. Dafür hält kurz hinter ihm ein roter BMW. Wir steigen ein, der Typ überholt den Bus und lässt uns in Agnita an der Haltestelle wieder raus. Hier standen ganz andere Abfahrtszeiten. Der 17:20-Uhr-Bus kommt auch gerade an.
Auf dem Weg nach Schäßburg liegen ein paar hübsche Kirchenburgen, Apold (Trappold) zum Beispiel. Dort könnten wir ja im nächsten Jahr hinwandern. In Schäßburg wandern wir wieder geradewegs zu Marias Unterkunft und werden mit Freude aufgenommen.
Endlich können wir duschen, Kopf waschen und neue Sachen anziehen. Frisch gemacht besuchen wir die Pizzeria und trinken zu der köstlichen Pizza einen sehr guten Rotwein aus Seiden. Morgen wollen wir unsere vorläufig letzte Kirchenburg besuchen.
Der Mittagszug bringt uns von Schäßburg nach Reps, von dort geht es nach Deutsch-Weißkirch weiter. Viscrii (Deutsch-Weißkirch) hat eine noch recht gut erhaltene Kirchenburg, die seit 1999 als Weltkulturerbe auch unter dem Schutz der UNESCO steht. Der Ort Deutsch-Weißkirch liegt recht abgelegen zwischen Rupea (Reps) und Sighișoara (Schäßburg). Ein Zubringerbus bringt uns über Homorod (Hamruden) in das Städtchen. Von dort geht es um 13:30 Uhr mit dem Bus, der nach Făgăraș fährt, bis zur Gemeinde Dacia (Steinen). Vor dem Ort zweigt eine staubige Landstraße nach Viscrii ab.
Wo die Landstraße abbiegt, befindet sich so etwas wie ein Friedhof. Fast wie in Mexico, stellen wir uns vor. Acht Kilometer sind es bis ins Dorf, acht Kilometer, die wir laufen müssen, eingehüllt in die Staubwolken vorbeidonnernder Kiestransporter. Pappeln säumen noch die Straße, noch! Bei den meisten hat man in einem breiten Ring die Rinde abgeschält, sodass sie eingehen müssen. Später erfahren wir, dass die Besitzer der Felder der Meinung sind, dass sie zu viel Schatten auf die Felder werfen und deshalb weg müssen.
Komisch, denn der Schatten fällt meistens auf die Straßenseite. In Wirklichkeit sind die Pappeln auf einer Holzbörse in London schon versteigert worden, erzählt später Harald, ein Deutscher, der jetzt in Viscrii lebt. Die Art der Feldbestellung ist vielfältig und erinnert Uli an die Zeit, als er in Deutschland nach dem Krieg versuchte, aus dem NICHTS heraus wieder auf die Beine zu kommen. Nach 1 ½ Stunden erreichen wir Deutsch-Weißkirch. Die ersten Gebäude sind Stallungen einer ehemaligen Rinderfarm, die leer stehen. Solche Anblicke von riesigen verlassenen Ställen hatten wir schon oft gehabt.
Wir suchen den Burghüter und fragen ein Muttchen. Das Muttchen verschwindet in einem Gehöft. Dort schaut eine Frau aus dem Fenster und spricht uns auf Deutsch an. Sie heißt Maria (schon die dritte Maria) und bittet in ihr Haus. Im Hof sollen wir unsere Rucksäcke absetzen und warten, bis der Mann mit dem Schlüssel kommt. Er schafft noch auf dem Feld. Um die Wartezeit zu verkürzen, laden uns Harald und Maria auf einen Pfefferminztee ein. Selbst gesammelt, wie sie versichern.
So lernen wir sie und ihren Lebenspartner und ihre gemeinsame Tochter kennen. Es waren noch mehr Kinder hier, und bald erfahren wir, dass sich die kleine Familie zusätzlich um zehn Kinder aus dem Dorf kümmert, einschließlich Übernachtung und Verpflegung. Harald war in der Niedereifel mal Musiklehrer mit der speziellen Richtung Orgelspiel, doch wer will sich schon an einer Orgel ausbilden lassen? Er und seine Lebensgefährtin, die gelernte Kindergärtnerin ist, lernten sich bei der Begleitung von Hilfsgütern nach Rumänien kennen.
Als sie von einem Sachsen das Angebot bekamen, dessen Hof zu übernehmen, blieben sie in Deutsch-Weißkirch. Von dem wenigen Geld hätten sie in Deutschland nicht leben können, doch hier konnten sie zudem noch einige Kinder und ältere Menschen versorgen und vielen wieder neuen Lebensmut geben. Durch ihre Hilfe wurde Deutsch-Weißkirch das „Socken strickende Dorf“ und ist ganz sicher das einzige rumänische Dorf, in dem Papierkörbe hängen, wo man so etwas wie Ordnung erleben kann. Sie kümmern sich um die Kinder armer Familien aus dem Dorf und beeindrucken durch ihr soziales Engagement.
Das Muttchen ist die Frau vom Oberhirten des Dorfes. Dieser und ihr Sohn bringen am Abend die Tiere des Dorfes von der Weide wieder in den Ort. Jeder nimmt sich seine Tiere und treibt sie ins Gehöft. Ab dem 15. Mai bleiben sie dann auf der Alm.
Der Burghüter, einer der letzten Sachsen im Dorf, kommt und schließt den Eingang zur Burg auf. Hier gibt es sogar noch einen intakten Speckturm. Da das Klima im Turm ideale Bedingungen liefert, um Speck zu lagern, hängen die Bauern die Speckseiten nach dem Schlachten hier auf.
Nach dem Besuch der Kirchenburg zeigt der Burghüter seinen Hof. Hier erleben wir einen Sachsenhof, der sich noch in einem Zustand befindet, wie man vor mehr als hundert Jahren gelebt hat. Bemalte Bauernmöbel, herrliche Trachten und vieles Gerät aus alter Zeit – ein einzigartiges Museum. Wer sich einen Überblick verschaffen will, wie die Sachsen früher gelebt haben, sollte sich die Zimmer ansehen. Er hätte es gern gesehen, wenn wir bei ihm übernachtet hätten, doch wir waren schon bei Harald und Maria zum Abendessen eingeladen. In deren Garten können wir unser Zelt aufbauen.
Kaum haben wir Platz genommen, kommt Besuch aus Deutschland. Eine Abordnung aus Lüneburg hatte Hilfsgüter in ein nahes Kinderheim gebracht. Alle nehmen am langen Tisch Platz, jeder stellte sich vor und erzählt von seinen Beweggründen, warum sie nach Rumänien gekommen waren. Es ist für uns schon ein recht eigenartiges Gefühl, in solch einer großen Familie aufgenommen worden zu ein. Musikinstrumente werden geholt. Es wird gespielt und gesungen, und bald verabschieden sie sich mit einer Herzlichkeit, die wohl tut.
Harald erzählt, wie die Sachsen hier gelebt haben, ihre Kultur gepflegt haben und sich untereinander halfen. Es gab eine strenge Ordnung in den deutschbesiedelten Gegenden Siebenbürgens, zumindest, bis sie auf einmal den Weg nach Deutschland suchten und Haus, Hof und Felder, aber auch Freunde zurückließen.
Das Dorf ist ein schönes Dorf, was zu großen Teilen auf die Einsatzfreude von Harald und Maria zurückgeht. Sie werden von noch einem Ehepaar aus München, Roman und Anette, eine ehemalige Zahnärztin, unterstützt.
Unsere Reise neigt sich ihrem Ende entgegen. Harald und Marias Nachbarn, Anette und Roman, wollen nach Brasov fahren und nehmen uns bis zum Bahnhof in Reps mit. Zwar wollen wir zurück nach Schäßburg, aber ein Zug geht erst in 2 Stunden. Dafür kommt gerade einer, der nach Kronstadt fährt, so landen wir wieder bei Marias Zimmervermittlung in Brașov. Wir bekommen ein Zimmer in der Altstadt, für 15 DM/Person. Das ist mir zu teuer. Unsere Wirtin spricht französisch und russisch. „Parle vouz po russki“, fragt sie. Da klappt's mit der Verständigung nicht so recht.
„Wie bei Muttern zuhause“ steht auf einem Schild über einer Gaststätte. Das Essen ist gut, der Wein Scheiße.
Auf dem Bahnhof am nächsten Morgen treffen wir wieder Maria, unsere Zimmervermittlung. Wenn wir wollen, können wir zum halben Preis fahren, bietet sie uns an. Sie würde mit dem Schaffner reden. Bei diesem Zug ginge das.
Wir kaufen einen regulären Fahrschein, mit dem wir ohne Gewissensbisse zurück nach Deva fahren können. Im Zug erleben wir, wie das auch anders geht. Ein Typ in unserem Abteil berichtet mit stolz geschwellter Brust, dass er bis Schäßburg nur 30 000 Lei zahlen muss. Der Schaffner, ein recht korpulenter Zeitgenosse, öffnet die Abteiltür, kontrolliert die Fahrscheine und fragt den Typen: „Maria?“ Der steckt ihm das Geld zu, das sofort in der Uniformtasche des Kerls verschwindet. Aha, wie war das mit den korruptesten Gewerben in Rumänien? Nichts ist unmöglich. In Deva wartet Răzvan bereits auf dem Bahnhof.
Für Uli ist die Reise zu Ende. Der Bus in Deva am nächsten Morgen ist pünktlich, die Zeit reicht gerade noch, um einen Kaffee runter zu schlürfen. Nach den Kirchen aus Stein in Siebenbürgen warten auf mich jetzt jene aus Holz in der Maramuresch im Norden des Landes.
Bevor es in den Norden Rumäniens geht, habe ich mich mit Ioan in Brașov verabredet. Wir wollen zur Poiana Brașov (Schulerau) im Postăvarul-Massiv fahren, wo er mir das Skifahren beibringen will.
Wie sich herausstellt, ein recht sinnloses Unterfangen. Der Schnee ist schon zum Großteil Pampe und in genau dieser liege ich recht bald, wenn ich versuche, ein Stück den Hang hinunterzurutschen. Das Dämlichste jedoch ist der Schlepp-Lift. Er führt über eine kleine Holzbrücke, die bereits schneelos ist. Auf dem Boden liegen Kunststoffmatten. Ich purzele den ganzen Steg hinunter, schlage mir meinen Arsch auf und versaue mir Jacke und Hose. Das war's dann mit Skifahren, da bleib ich doch lieber meinen Schneeschuhen im Winter treu. Um 21:53 Uhr fährt mein Zug in die Maramuresch.
Die Fahrscheinverkäuferin in Brașov hatte mir zwar versichert, dass der Zug in Vișeu de Sus (Oberwischau) hält. Das tut er aber nicht. Er hält in Vișeu de Jos (Unterwischau). Vor dem Bahnhof wartet schon ein Bus in Richtung Borșa. Müllberge umrahmen das Flüsschen Wischau. Da dürfte der Deichbruch im Bergwerk bei Borșa nicht mehr viel neuen Schaden angerichtet haben. In Moisei steige ich aus, um die Familie Tomoiagă zu besuchen. Ich hatte sie 1997 kennengelernt.
Bis zu den Tomoiagăs hatte ich es 1997 kürzer in Erinnerung, doch bald schon entdecke ich den Laden. Ludovică, die Frau des Hauses, hat gerade Kundschaft. Sie begrüßt mich herzlich, als sie mich sieht. Es gibt gleich Mămăliga und Țuică – echten Horinca aus der Maramuresch. Ab und zu schauen Leute in den Laden. Wer den Schnaps liebt, bleibt auch etwas länger.
Ludovicăs älteste Tochter Simona fährt nach Bukarest, Kleidung kaufen. Die ist dort billiger und wird dann hier im Laden verkauft. Am Nachmittag schauen wir uns das Kloster an, hier treffe ich auch auf die erste Holzkirche, morgen sollen weitere folgen.
Abends gibt es Kultur – im Fernsehen läuft James Bond. Zwischendrin zeigt mir Simion, der Ehemann alle deutschen Sender, die er empfängt.
Schon am Morgen ist es sehr heiß, als ich mich auf den Weg nach Săcel mache. Es ist der erste Ort im Iza-tal, dessen Dörfer berühmt für ihre Holzkirchen sind. Simion hat mir aus seinem Laden einen Energiedrink mitgegeben, sieht gelb aus und schmeckt wie aufgelöste Bonbons, auf dem Etikett hüpft ein Basketballer.
Bis Săcel sind es 8 km übern Berg. Das Dorf zieht sich in die Länge. Eine Gruppe Kinder möchte fotografiert werden. Ein Zigeuner behauptet, er sei verrückt im Kopf. Er will wissen, wie teuer es von hier bis nach Österreich ist. Verrückt? Vermutlich stimmt's.
Der nächste Ort heißt Săliște. Hier will ich ein Bier trinken. Ein Typ stellt sich als arbeitsloser Bergbauingenieur vor, hockt sich zu mir und jammert schluckweise über sein Schicksal. „Der Job ist weg“ – „Die Frau auch“ – „Muss jetzt trinken.“ Er hat einen Freund in Holland, der auch Fotograf ist, erzählt er. „Kommt am 20. April nach Săliște.“ „Sehr guter Freund.“ – „Romania Disaster!“ – „Präsident – Bandit!“ So erfahre ich etwas über Land und Leute.
Ich laufe weiter nach Dragomirești. Der Ort hat eine hübsche neue Holzkirche, die gerade fertiggestellt wird. Zimmerleute schaffen an den Stufen zum Eingang. Im Dorfladen kaufe ich ein Bier. Ein Mann empfiehlt mir, unbedingt nach Ieud zu gehen. Dort gebe es eine schöne alte Holzkirche. Erst mal gehe ich einen Schlafplatz suchen. Kurz hinter dem Dorf finde ich ein Stück Wiese. Es ist Vollmond, die Schafe werden gerade ins Dorf getrieben.
Das Geblöke der Schafe weckt mich am nächsten Morgen. Ein wenig Müsli knabbernd hocke ich mich vors Zelt und warte, bis es halbwegs trocken ist. Der nächste Ort im Iza-Tal ist Bogdan Vodă. Am Ende des Dorfes zweigt die Straße ab in Richtung Ieud. Dort steht ein Dorfladen – Magazin – genannt. Davor hocken ein paar alte Männer. Einer ruft mich. Ich soll mich setzen. Er will mir ein Bier ausgeben. „Bier gibt's nicht“, sagt die Muttel. „Dann einen Schnaps!“ „Gibt's auch nicht! Ihr sollt nicht saufen!“ Schlussendlich bekomme ich eine Limo. Ob ich aus Ost- oder Westdeutschland komme, will der Opa wissen. Er war auch schon in Deutschland. Er will wohl einfach nur quatschen.
In Ieud gibt es zwei Holzkirchen, eine neue und eine alte. Die „Kirche auf dem Hügel – Biserica din Deal“ – ist die älteste in der Maramuresch, 1364 gebaut. Ich will gerade ein Foto machen, als ein Fuhrwerk um die Ecke biegt. Der Gaul erschrickt und geht dem Kutscher fast durch. Der Mann hat alle Mühe, ihn wieder unter Kontrolle zu bringen. An der neuen Kirche von 1717 – der „Kirche in der Ebene“, also „Biserica din Șes“ – will ein Künstler seine auf Steine gemalten Bilder an mich verkaufen – 20 DM pro Bild. Er hatte schon Ausstellungen in Mexiko, Peru und Westeuropa, erzählt er. Ich kaufe trotzdem keins. Mein Rucksack ist auch ohne Steine schwer genug.
Wieder in Bogdan Vodă nimmt mich ein Junge auf seinem Fuhrwerk mit. Er wohnt im Nachbardorf Șieu. Ob ich ein Glas Milch haben will, fragt er. Aus dem Glas Milch werden ein Kaffee und ein Mittagessen (Bohnensuppe mit Sahne und Paprika) bei der Familie Bucur. Ihre Tochter ist gerade in Deutschland zur Erdbeerernte. Ich soll unbedingt nächste Woche zu Ostern wieder kommen. Mal sehen, ob ich's einrichten kann.
In Șieu zweigt die Landstraße nach Botiza ab. In einem Kiosk kaufe ich noch ein Bier (hier gibt es Bier) und folge dann dem Asphaltband nach Süden. Noch etwa 6 km zieht sich Șieu an der Straße entlang. Am Ortsausgang hält wieder ein Pferdekarren und mit zwei PS zuckele ich nach Botiza. Der Typ will mir auch gleich ein Zimmer vermieten, doch vorher noch einen Kaffee trinken. In der Zwischenzeit kommt ein anderer und gibt mir ein Zimmer. Der Mann heißt Vasile und ist hier in Botiza der Agraringenieur, seine Frau ist die Grundschullehrerin im Dorf, aber jetzt auf dem Feld Kartoffeln stecken. Beide sprechen neben rumänisch leider nur französisch. Die meisten Touristen sind hier Franzosen, erfahre ich. Daher wurde ich in den Dörfern oft mit „Bon jour“ begrüßt und die Kinder fragten „Ale Bonbon?“ Also versuchen wir es besser in Rumänisch. Töchterchen Cristina ist sechs Jahre alt und wird im Herbst bei Mama in die Schule gehen. Auch sie fragt nach Schokolade, ich habe aber keine. Na ein Müsliriegel und Tic-Tac tun es zur Not auch.
Mit Frühstück zahle ich 20 DM für die Übernachtung. Ich entschließe mich, zwei Nächte zu bleiben. Gelegenheit, mal wieder Wäsche zu waschen. Warmes Wasser gibt es aus dem aufgeheizten Badeofen. „Hier ist das traditionell“, sagt Vasile. „Andere würden sagen rückständig“, fügt er noch hinzu. Mit dem Abendessen haben sich die beiden richtig Mühe gemacht. Es gibt ein Nationalgericht, Hackfleischröllchen, hier Zermale genannt.
Für den nächsten Tag habe ich mir einen Dorfspaziergang vorgenommen. Mit selbst gemachter Heidelbeermarmelade und Schafkäse frisch gestärkt starte ich vom Haus meiner Gastgeber. Die Dorfstraße ist recht belebt. Jeden zu grüßen ist auf Dauer recht anstrengend. Weit komme ich nicht. In einem Holzschuppen verschwinden riesige Holzbottiche mit Zwetschgenmaische. Es ist die Dorfbrennerei, gleich nach der Holzkirche Botizas zweites Heiligtum. Oder kommt's vielleicht doch noch vor der Kirche?
Die Zwetschgenpampe wartet nun darauf, in Schnaps verwandelt zu werden. Răzvan hatte mir gesagt, dass ich in der Maramuresch den besten Obstbrand bekommen würde. Dieses mehrmals destillierte Feuerwasser heißt hier Horinca. Über einem Ziegelofen sitzen 2 Kupferkessel, die mit Wasser aus dem Dorfbach gekühlt werden. Die Kessel werden von Zigeunern hergestellt, die im Metallhandwerk Spezialisten sind. Das Destillat tropft in ein großes Plastikfass. Ich bekomme 2 Gläschen 65%igen zum Kosten – gute Arbeit!
Abends gehe ich mit Frau Suciu ihre Großmutter besuchen. Im Zimmer hängen wunderschöne Wandteppiche.
Ich will weiter, verabschiede mich am Morgen von meinen Gastgebern und laufe los. Kurz hinter Botiza nehmen mich wieder zwei Männer und eine Frau auf einem Pferdekarren mit. Sie erzählen mir etwas von einem Fest mit vielen Popen im Nachbardorf Poienile Izei am Sonntag. Muss ich mir merken.
Wieder in Șieu zeigt mir ein Opa die 1760 erbaute Holzkirche. In der linken Hand hält er eine Weinflasche und in der rechten Hand noch eine.
Der Bus um 10:30 Uhr fährt mir aufgrund des Kirchenbesuchs vor der Nase weg. Geht's halt zu Fuß weiter. In Rozavlea, schaue ich mir auch die Holzkirche (1717) an und schlendere zur Bushaltestelle. Dort hockt einer am Straßenrand, der nichts weiter zu tun hat, als Leute zu erschrecken. Zündkopfbeschichtung von Streichhölzern kratzt er in ein Metallröhrchen, in das er dann eine Schraube steckt und drauf haut, sodass es knallt. Wenn sich die Vorbeifahrenden erschreckt umschauen, freut sich der Depp schelmisch.
Nach einer Weile gesellt sich wieder einer zu mir, dem sein Heimatland nicht gefällt. Will gut leben, aber so wenig wie möglich dafür tun. „Frankreich ist toll“, sinniert er vor sich hin. „Deutschland ist zu perfekt.“ Nach 2 ½ Stunden kommt endlich der Bus. Es ist halb drei. Ich fahre mit bis nach Bârsana. In Bârsana wurde in den letzten Jahren ein Kloster errichtet, die Kirche und alle Gebäude sind aus Holz. Am Wohnkomplex der Nonnen wird noch gearbeitet, aber die Hauptkirche und der Glockenturm im Eingangsbereich sind bereits fertig. Mit 57 m Höhe zählt die Holzkirche im Kloster Bârsana zu den höchsten des Landes.
Bârsana besitzt aber noch eine zweite wesentlich ältere Holzkirche (1720). Doch bevor ich mich dahin auf den Weg mache, lädt ein Ciuc-Bier im Dorfladen zum Verweilen ein. Nicht nur das Kloster und die Holzkirchen sind in Bârsana sehenswert. Auch viele hübsche Holztore, die so typisch für die Maramuresch sind, säumen die Dorfstraße. Eine Frau vor einem dieser Holztore schenkt mir einen Apfel, ich mache ein Foto.
Auf dem Rückweg lerne ich Dumitru Socaș kennen. „Komm gucke mal, musst essen, schlafen musst. Ist kalt draußen.“ Spricht er mich auf Deutsch an. „A bissel Orbeit noch, Is scheen jetzt.“ Wir verankern ein paar Weinranken, die wild in der Gegend herumbaumeln. Dumitru ist 74 Jahre alt. Mit 18 war er als Zwangsarbeiter in deutscher Kriegsgefangenschaft. Weil Rumänien die Fronten gewechselt hatte. „Bei Schkopau und Freudenstadt“, erzählt er. Danach in einem amerikanischen Auffanglager. Weil er als Rumäne mit den Deutschen gekämpft hatte. „Dort Bier und Brot – zu viel“, sagt er. Anschließend versorgte er in Borșa rumänische Partisanen, die gegen die Kommunisten kämpften. Dafür wanderte er für 13 Jahre und 3 Monate in den Knast. Schimpft auf Ceăușescu. Hat nun alles verloren. „Frau weg, Kinder kommen nicht mehr zu Besuch.“
Nur seine Schwester lebt noch in Bârsana und schaut ab und zu mal vorbei. Er heizt den Bollerofen an. „Muss warm haben, bin krank.“ „4 Monate keine Orbeit, hab kein Geld, einen Ochsen noch.“ Neben dem Ochsen hat er auch noch eine kleine Katze. Zum Abendessen kocht er Kartoffeln mit Speck und Zwiebeln. Dazu gibt es Birnenessig zu trinken.
„Gehst morgen, bleibst heute noch hier“ sagt der Opa. „Kommst schlofen zu mir“ Aber ich will weiter, gebe ihm 10 Mark für Medikamente. Mit einem „Vielleicht“ ziehe ich mich aus der Affäre.
Mein nächstes Ziel ist das Dorf Poienile Isei. Es geht ein Stück die Landstraße zurück, dann zweigt eine Schotterstraße nach Süden ab. Gegen Mittag erreiche ich das Dorf. Am Dorfrand pflügt ein Bauer seinen Acker mit zwei Pferden. Sein Sohn, Mihai (um die 10), ist neugierig, was das wohl für einer ist mit 'nem riesen Rucksack auf dem Buckel. Ich soll ihn unbedingt besuchen. Ich weiß nicht recht, wollte lieber irgendwo mein Zelt aufbauen. Doch der Bauer lädt mich zum Mittagessen ein. Die Bauersfrau bringt indessen schon das Essen: Eier, Brot und Țuică. In dem Haus leben 4 Generationen (Großeltern, Eltern, Kinder und Enkel).
Die Holzkirche von Poienile Isei ist 400 Jahre alt, erzählt der Kirchendiener. Er selbst zählt 80 Jahre. War auch schon in Deutschland, als Zwangsarbeiter, wie er sagt.
Ich bin nicht der einzige Gast im Dorf. Ein Reisebus ist angekommen mit einer Gruppe Franzosen (30 Leute) aus Maxéville (bei Nancy), dem Partnerort von Poienile Isei.
Dann zeigt mir Mihai das zweite Dorfheiligtum, die Schnapsbrennerei. Der Laden läuft rund um die Uhr. Neben dem Brennkessel hockt ein Typ und dreht permanent an einer Kurbel. Und selbstverständlich gibt es auch hier eine Kostprobe von der Arbeit. Selbst Mihai langt schon mächtig zu.
Abendessen gibt es bei den Großeltern – typisch rumänisch mămăligă cu brânză (Maisbrei mit Schafskäse).
Die meisten Orte in der Maramuresch haben neben ihrer alten Holzkirche auch eine neuere aus Stein. So auch in Poienile Isei, und in dieser ist gerade Sonntagsmesse. Vor der Kirche hocken Zigeunerfrauen und betteln. Der Pope hält die Ansprache in Rumänisch und Französisch, da auch die Gruppe aus Frankreich anwesend ist.
Die Messe geht bis zum Mittag, dann ist Kulturprogramm für die Franzosen. Mädchen und Jungen zeigen einen Tanz in Volkstracht. Aber auch so haben sich die meisten älteren Einwohner des Dorfes ihre Tracht angelegt. Die Frauen in rot und schwarz gestreiften Röcken mit den für die Gegend typischen Bundschuhen, den Opincii.
Am Nachmittag wird es Zeit für mich aufzubrechen. Ich zahle 20 Mark für die Übernachtung, die Frau rechnet nach, wie viel Lei das sind, und sagt, wenn ich wieder hier bin, soll ich wieder vorbeikommen.
Auf dem Weg aus dem Dorf zeigt mir ein Mädchen eine Mineralwasserquelle. Mit Sprudelwasser in der Trinkflasche laufe ich weiter. Ein alter Mercedes hält kurz hinter dem Ort. Dr. so und so ist Tierarzt. Er lädt mich zum Essen ein und als Gegenleistung soll ich seine Zimmer und sein Haus fotografieren und die Bilder ins Internet stellen. Er will ins Touristengeschäft einsteigen und vermieten. Dankend lehne ich ab und laufe noch bis kurz hinter Șieu und baue am Iza-Ufer mein Zelt auf. Kinder angeln am Fluss. Eine Frau bringt mir Milch, ich gebe Nüsse. Sie lädt mich zum Essen ein, ich bedanke mich, mag aber nicht mehr.
Ganz entziehen kann ich mich der Gastfreundschaft der Maramurescher jedoch nicht: Am Morgen bringt sie Brot, Spiegeleier, Kuchen und süße Milch ans Zelt.
Der Reisebus mit den Franzosen biegt gerade um die Ecke, als ich an der Straße stehe. Sie nehmen mich mit bis Oncești. Von dort geht es weiter zu Fuß in Richtung Ferești. Auf einem Pass treffe ich einen Schafhirten. Ob wir in Deutschland auch Pferde und Schafe haben, will er wissen. Am ersten Dorfladen in Ferești soll ich ein Hemd kaufen. Ob meins schon so fertig aussieht? Ich will aber keins, bekomme aber Gebäck und Țuică. Im nächsten Ort, Călinești will mir einer in Vadu Izei ein Zimmer vermieten, falls ich da übernachten will. Ich will nicht übernachten sondern über Ocna Șugatag nach Baia Sprie. Dummerweise soll von hier kein Bus fahren. Ich soll zurück nach Ferești gehen. Nur: von Ferești geht auch kein Bus, dafür hält ein Rumäne an, der in Arnsberg wohnt. Es geht über den Gutâi-Pass. „Das sind Gräber keine Löcher“, schimpft der Rumäne über den Zustand der Passstraße. Auf der anderen Seite des Gutâi-Gebirges biegt er kurz ab, auf einen Abstecher zum Lacul Boli. Wir bleiben nicht lang, denn der Parkplatzwärter will 3000 Lei Parkgebühr, was mein Fahrer nun ganz und gar nicht einsieht.
Von Baia Sprie laufe ich erst mal los, mein Ziel: Surdești. Kinder bieten mir Minerale zum Kaufen an. Nüsse wollen sie nicht. In Surdești soll die ehemals höchste Holzkirche des Landes stehen – 54 m hoch. Mittlerweile wurde sie von der Holzkirche in Bârsana abgelöst. Doch auch diese wird ihren Rekord nicht lang halten, denn im Kloster Peri bei Săpânță ist schon eine höhere im Bau.
Zwei Jugendliche begleiten mich ein Stück und organisieren in Șișești eine Mitfahrgelegenheit bis Surdești. Bis zur Holzkirche muss ich aber noch ein Stück laufen, dafür liegt das Dorf Plopiș gleich um die Ecke, und auch dort gibt es eine sehr schöne Holzkirche. Auf einem Hügel zwischen blühenden Obstbäumen gefällt sie mir sogar noch besser. Der Dorfladen ist kaum zu erkennen, ein Holzschuppen im Hinterhof eines Gehöfts. Ich kaufe zwei Flaschen Mineralwasser, was hier in Rumänien recht gut ist, und baue in der Nähe der Holzkirche mein Zelt auf.
Während ich mein Zelt früh in den Rucksack stopfe, fängt es an zu regnen. Ich will zurück nach Baia Sprie. Ein Bauer zeigt mir den Weg, das ist nett, aber ich kenne ihn ja schon von gestern. Bis Dănești laufe ich. Dort warten schon ein paar Rumänen auf eine Mitfahrgelegenheit. Ein Auto hält, hat aber nicht genug Platz für alle, ich muss warten. Ein Arbeiterbus nimmt mich schließlich mit bis Baia Sprie. Dort schüttet es inzwischen wie aus Kannen. Ich laufe bis zum Ortsende, neben der Straße sprudelt ein Bächlein. Dessen Wasser ist knallrot – ich bin in einer Bergbauregion. Zu dem roten Wasser gesellt sich ein gelber Kleinbus. Der Typ ist Ungar und nimmt mich mit bis nach Tisa, einem Dorf hinter Sighet in Richtung Borșa. Das trifft sich gut. Bis Ostern ist noch etwas Zeit, Zeit genug für einen kleinen Abstecher ins Maramuresch-Gebirge bis Băile Borșa, denke ich mir.
Von Crăținești soll in einer reichlichen halben Stunde ein Bus nach Borșa fahren. Nach 3 Minuten überholen mich zwei Busse. In Rona erwische ich endlich einen Bus nach Vișeu de Sus (Oberwischau). Eingezwängt zwischen den Fahrgästen versuche ich auf dem Treppenabsatz so gut es geht zurechtzukommen. In Oberwischau hat es aufgehört zu regnen – Bierpause. Von hier fährt eine Forstbahn hinauf ins Valea Vaserului (Wassertal). Die letzte Dampflok Rumäniens soll hier noch in Betrieb sein. Leider fährt die nur früh am Morgen. Ich will nicht bis Morgen in Oberwischau warten, schnappe mir meinen Rucksack und folge den Schienen ins Wassertal. Frisches Frühlingsgrün säumt die Hänge über dem Tal. Dieselloks und zu Draisinen umgebaute Lkws kommen mir entgegen. An der ersten Wasserstelle baue ich mein Zelt auf.
Um 7:30 Uhr weckt mich das Pfeifen der Waldbahn – Zeit aufzustehen. Ich folge weiter den Schienen in der Hoffnung, die Dampflok fotografieren zu können. Leider kommt nur eine Diesellok. Nach ein paar Kilometern biege ich rechts nach Osten ab ins Novăț-Tal. Die Schienen wurden vom Hochwasser teilweise weggerissen. Ein Rücketraktor schafft Baumstämme heran, und Waldarbeiter befestigen mit diesen das Ufer. Einer der Waldarbeiter, Ștefan, lädt mich zum Mittagessen ein. Er scheint sein ganzes Leben im Wald verbracht zu haben, der rechte Daumen und Zeigefinger fehlt.
Die Unterkunft der Forstleute ist eine lange Holzhütte mit Wellblechdach. Eine Oma macht uns Rührei mit Speck und Brot. Ștefan holt eine Flasche medizinischen Alkohol aus einem Regal. Das Zeugs ist mit blauem Farbstoff versetzt. Er schneidet vom Brot eine Scheibe ab, lässt den Alkohol durch die Brotscheibe tröpfeln und kippt sich das jetzt fast farblose Gesöff in den Schädel. Kaum zu glauben – und das in einer Region, wo der beste Schnaps Rumäniens gebrannt wird. Ich lehne dankend ab, mit der Begründung, keinen Alkohol zu trinken.
Weiter talauf erreiche ich die Piri-Hütte. Dort ist niemand, nur Holzstämme liegen herum. Das Bachufer ist mit dickem grauem Schlamm bedeckt, wahrscheinlich vom Unglücksbergwerk. Anfang März brach der Damm eines Rückhaltebeckens von einem Bergwerk bei Borșa. Laut Nachrichten ergossen sich 20 000 t zink- und bleihaltige Abwässer über den Novăț-Bach in die Vaser.
Eine Brücke über den Bach hat das Wasser weggerissen. Ich stapfe den Blei-Zink-Weg hinauf in einen kleinen Sattel. Auch die Forststraßen sind reinste Schlammpfade. Es muss hier mächtig geregnet haben. Lkws holen die Bergarbeiter ab, manche haben Holzstämme geladen. Ein Hirte fragt nach Zigaretten. Ich habe aber keine Lust, jetzt meinen Rucksack von den Schultern zu wuchten. Der Wald lichtet sich und Bergwiesen breiten sich unter mir aus. Am Horizont erhebt sich das Rodna-Gebirge. Es liegt noch Schnee dort oben. Die Sicht währt nicht lang, es fängt wieder an zu regnen.
Auf einer der Bergwiesen oberhalb von Băile Borșa baue ich mein Zelt auf. Zweimal bekomme ich Besuch. Erst eine junge Frau mit Hund – dann eine alte Frau mit Hund. Beide hatten Goldkronen im Mund.
Das Wetter ändert meinen Plan am nächsten Morgen. Die Sonne scheint. Ich entschließe mich, hinauf zum Gipfel der Toroiaga zu steigen. Von dem 1930 m hohen Berg müsste es möglich sein, bis in die Waldkarpaten der Ukraine zu schauen. Der Aufstieg beginnt recht steil. Die Bäume weichen bald herrlichen Bergwiesen, die übersäht sind mit Krokussen. In zartestem Violett leuchten die Blüten in der Morgensonne. Oben auf dem Kamm wird es recht windig, Schneewehen wölben sich über die Hangkante. Von Osten ziehen immer wieder Wolken auf. Ich stelle meinen Rucksack ab und folge dem Kamm über vereinzelte Schneefelder bis auf den Gipfel. Die Toroiaga ist der zweithöchste Berg des Maramuresch-Gebirges. Im Norden reihen sich die Karpaten der Ukraine. Ich meine, die Hoverla zu erkennen, bin mir aber nicht sicher. Im Süden erhebt sich das Rodna-Gebirge mit dem Pietrosul als höchstem Punkt.
Nach einem Vesper steige ich wieder ab bis auf etwa 1300 m. Bei einer Stâna mit Panoramablick auf Rodna- und Gutâi-Gebirge baue ich mein Zelt auf. Die Hirten sind noch nicht hier oben. Abends zieht ein Gewitter auf, der Wind bläst stärker. Ich baue ab und gehe eine Etage tiefer auf etwa 1100 m. Dort ist es besser.
Der Abstieg nach Băile Borșa kommt mir sehr gelegen, hat sich doch die Batterie des Belichtungsmessers meiner Kamera verabschiedet. Im Wühltisch eines Fotoladens in Borșa findet der Verkäufer sogar zwei passende. Die sind zwar nicht neu, aber funktionieren (25 000 Lei/2,50 DM). An der ersten Bushaltestelle setzte ich meinen Rucksack ab. Ein Typ fragt, wohin ich will. „Moisei“, sage ich. Ich soll einsteigen. Eine Omi sitzt schon im Auto, zwei andere Typen steigen noch zu. In Moisei angekommen zahle ich meinen Obolus (10 000 Lei/1 DM) und laufe hinauf zum Pass. Ich will zur Iza-Quelle, die an den Hängen des Rodna-Gebirges entspringt. Auf der Forststraße herrscht reges Treiben, 6 oder 7 Pferdekarren mit Baumstämmen voll beladen kommen mir entgegen. Prompt werde ich wieder eingeladen von einem der Waldarbeiter, der sich als Gheorghe vorstellt. Ich habe aber andere Pläne.
Die Quelle der Iza ist genau genommen keine richtige Quelle. Der Bach sprudelt in seiner vollen Wassermenge unter einem Felsen hervor. Ein Stück die Forststraße weiter, wo der Weg zu einer Höhle abzweigt, baue ich mein Zelt auf.
Morgen ist Sonntag, der 30. April, und somit Ostern in Rumänien. Ich möchte der Einladung von Familie Bucur in Șieu folge leisten und begebe mich auf den Rückweg. Auf halbem Weg steht ein Lkw. Von der Ladefläche schaufeln zwei Typen Müll direkt in den Iza-Bach. Rumäniens Müllproblem offenbart sich. Ein Stück weiter erschlägt ein Waldarbeiter mit seiner Axt eine Ringelnatter. Der kopflose Körper zappelt noch eine Weile auf der Forststraße. Das ist die Kehrseite der Maramuresch, denke ich. Auf der einen Seite überschwängliche Gastfreundschaft, auf der anderen Seite interessiert sie die Natur einen Dreck. Da wundert es auch nicht, wenn die Bergwerke verrotten und halb Osteuropa vergiften.
Ich laufe bis Săcel, komme per Anhalter bis Săliște und laufe weiter nach Dragomirești. Dort warte ich auf den Bus, es kommt kein Bus. Stattdessen hält ein Taxi, das mich bis nach Șieu bringt. Die Bucurs freuen sich. Sie haben gerade einen Schweißer im Haus. Jetzt wird alles, was nottut, geschweißt: Weingerüst, Pferdegeschirr, Kettenglieder, Hängerbremsen. Zum Abendessen gibt es wieder Suppe mit Paprika.
Ostersonntag – das heißt zeitig aus den Federn! Früh um halb sieben geht es in die Kirche. Da die neue Kirche aus Stein noch nicht vollendet ist, findet die Zeremonie noch auf dem Friedhof vor der alten Holzkirche statt. Das nenne ich Fotografenglück. Den Popen ärgert's. Mehrmals mahnt er während seiner Predigt aufs Eindringlichste, das die Leute doch mehr Geld spenden sollen, damit die neue Kirche endlich fertig wird. Die Innenausmalung ist noch nicht fertig.
Es sind viele Leute gekommen, die meisten in traditioneller Tracht. In Stoffbeuteln haben sie Wurst, Fleisch, Brot u.a. Lebensmittel, die der Pope nach seiner Rede mit Weihwasser segnet. Das ist dann offiziell das Ende der Fastenzeit. Jetzt dürfen die Menschen wieder Fleisch essen. Und davon wird reichlich Gebrauch gemacht, wie ich mittags bei meiner Gastfamilie erfahre.
Sieben Wochen durften sie kein Fleisch essen. Jetzt biegt sich der Tisch unter den Würsten, dem Braten, dem Brot und – Horincă.
Nach dem Mittag macht jeder, was er will. Die Dorfjugend spielt Fußball. Ich hocke mich, wie das hier so üblich ist, mit meinen Gastgebern auf eine Bank am Straßenrand. Ein Typ, der nur französisch spricht, lädt mich am Abend auf ein Bier ein. „War zum Geld machen in Paris“, wie er sagt. Mein Nachbar grinst und meint: „Der war Autos klauen.“
Der nächste Tag läuft ähnlich ab. Früh gehen wir zur Kirche. Heute segnet der Pope die Leute. Jeder bekommt einen Tupfer Weihwasser auf die Stirn.
Am Nachmittag ist Familientreffen. Auch die Bucurs haben Angehörige, die schon in Deutschland waren. Ein Schwiegersohn hat 3 Jahre auf dem Bau geschafft, und eine Tochter geht Ende Mai bis Ende August als Erntehelferin nach Deutschland.
Am folgenden Tag ist ein anderes Großereignis im Iza-Tal – Bauernmarkt in Bogdan Vodă. Die Hauptattraktion ist der Pferdemarkt. Um zu testen, wie gut ein Pferd ist, wird es vor einen Baumstamm gespannt. Unter den Anfeuerungsrufen der Zuschauer muss es diesen wegziehen. Schafft es das Pferd, ist der Besitzer stolz, wenn nicht, ist für Spott gesorgt. Keiner lässt sich lumpen und so sucht jeder Pferdebesitzer sein bestes im Stall heraus und spannt es vor den Stamm. Meine Hauptaufgabe besteht darin, die Sprösslinge der Familien auf dem Rücken der Pferde zu fotografieren.
Mittags kommt der Bus nach Piatra über Săpânța. Vorn ist alles voll, hinten halb leer, da die hintere Tür sich nur ab und zu öffnen lässt. Ich zahle, verliere mein Wechselgeld und habe Glück, die Tür geht auf. Săpânța ist meine letzte Station in der Maramuresch. Ich will auf den „Lustigen Friedhof“.
Kaum aus dem Bus, will mir ein Opi schon ein Zimmer aufdrängen. Doch 15 DM sind mir zu viel, trotz Horincă. Der Zeltplatz am Ende des Dorfes ist noch geschlossen, aber dahinter auf einer schönen Wiese macht eine rumänische Familie Picknick. Sie kommen aus Friedrichshafen und laden zum Barbecue ein. Den Friedhof werde ich morgen besuchen.
Weis der Geier woher, aber am Morgen kommt ein Zigeuner und will Geld haben. Ich gebe nichts und laufe zurück ins Dorf. Vor den Häusern sitzen Frauen und verspinnen Schafwolle. Auf dem „Lustigen Friedhof“ ist fotografieren neuerdings verboten, wie mir ein Schild bedeuet. Warum das? Die Holzkreuze sind in schlechtem Zustand. Vielen fehlt die Farbe, oft ist das Motiv kaum noch zu erkennen. Nur die Neueren sehen noch gut aus.
Eine Omi bietet mir an, bei ihr auf dem Hof zu zelten, ich lehne ab. Omi schimpft, ich gehe weiter. Im Dorfladen bei einem Bier treffe ich 4 Thüringer, die am Pop Ivan waren, dem höchsten Berg der Maramuresch-Berge. Sie wollen weiter ins Wassertal. Ich bleibe noch ein wenig im Dorf und schaue mir die hübschen Holzhäuser an. Hinter dem Dorf entdecke ich einen zweiten Friedhof, vermutlich liegen hier die, die es nicht lustig finden, wenn auf ihrem Grabkreuz Witze stehen.
Meine Reise durch die Maramuresch ist zu Ende. Morgen geht es nach Sighetu Marmației und von dort mit dem Nachtzug wieder in den Süden. Aber ich werde wiederkommen!
Mit Siebenbürgen und der Maramuresch habe ich zwei Regionen Rumäniens bereist, die unterschiedlicher kaum sein können. Es beginnt schon mit den Kirchen und der Religion. Auf der einen Seite massive wuchtige evangelische Kirchenburgen, auf der anderen Seite filigrane kunstvoll errichtete orthodoxe Holzkirchen.
Vor allem jedoch fiel mir die Grundstimmung auf. In Siebenbürgen erlebten wir einen kulturellen Verfall. Die sächsischen Gemeinden existieren praktisch nicht mehr. Die wenigen verbliebenen Sachsen versuchten so gut es ging, sich mit der Situation zu arrangieren. Misstrauen herrscht zwischen den Menschen. Die Sachsen misstrauen den Rumänen, die Rumänen den Ungarn und alle zusammen den Zigeunern. Was durch Korruption und Diebstähle sicher nicht unbegründet ist, helfen wird es jedoch keinem.
Der größte Teil der Wehrkirchen verfällt. Es gibt zwar ein paar Vorzeigeburgen wie Tartlau oder Biertan, die mithilfe von Spendengeldern baulich am Leben gehalten werden. Ein religiöses Leben gibt es aber auch dort nicht mehr. Es ist wie mit Wanderwegen, die nicht mehr begangen werden, sie verschwinden nach und nach. Auch gibt es Privatinitiativen zum Erhalt einiger Wehrkirchen von Sachsen, die jetzt in Deutschland leben, doch spätestens deren Kinder oder Enkel wird es wohl egal sein, was in der siebenbürgischen Heimat ihrer Eltern und Großeltern passiert.
Anders in der Maramuresch. Zwar gibt es in den meisten Dörfern auch schon neu gebaute Steinkirchen, trotzdem ist man um den Erhalt der alten Holzkirchen bemüht (z.B. in Dragomirești). Und in einigen Orten entstanden und entstehen auch neue Holzkirchen, wie z.B. in Bârsana oder Peri. Viele Gehöfte haben die für die Maramuresch typischen Holztore, teilweise nagelneue. Die Menschen tragen noch wie selbstverständlich ihre Tracht, vor allem die Älteren. Einzig die alten Holzhäuser scheinen weniger zu werden. Wer ein Haus baut, baut es heute aus Stein. Was ich schade finde.