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Sonne, Wind und Durst

Drei Tage im Căliman

von Wolfgang Thomas

Es ist hoher Mittag, als uns die recht wackere Julisonne auf dem höchsten Punkt des Căliman-Gebirges sieht. Weder Gipfelstange noch Steinmann zieren die Krone des Pietrosul Călimanului, auch die in manchen Gebirgen oft so augenfälligen Touristenrelikte sind so gut wie nicht vorhanden. Wir können uns beliebig um die eigene Achse drehen. Die Fernsicht ist ungetrübt.
Das sich in sanften Wellen nach Norden verbreiternde Tal zwischen den Ausläufern des Căliman-Hauptkammes mit den weit gestreuten Häusern und Höfen von Gura Haitii flimmert in gedämpfter Farbigkeit. Links davon, schon hoch oben auf dem Kamm, die „Zwölf Apostel“.
Von Gura Haitii aus waren wir gestern morgen über herrliche, blumenbunte Matten hinaufgestiegen, hatten neben diesen wunderlichen, aus eruptivem Gestein bestehenden Felsbildungen kurz gerastet, bevor wir uns auf dem Kammweg (Markierung: roter Punkt) nach Süden wandten, via Pietrele Roşii und Tămăul dem Pietrosul entgegen, in dessen unmittelbarer Nähe wir dann abends unsere Zelte aufstellten...
Von unserem über 2100 m hohen Standpunkt können wir den recht unsanften, von hier aus gesehen fast schartigen Grat des westlichen „Vorpostens“ unseres Gebirges, der bereits gestern Abend unsere Blicke ständig auf sich gezogen hat und dessen höchste Lagen ebenfalls bei 2000 m liegen dürften, ziemlich genau fixieren. Doch Gipfeldefinitionen wollen uns nicht gelingen. Zurzugău, Străciorul, Viişoara – vielleicht gehören sie zu den lockenden Zacken; unsere Unterlagen sind leider mehr als spärlich; „Hauptstütze“ ist Walter Kargels Wandertipp im „Komm mit 1980“. Auch unser Zeitbudget ist recht schmal, und wir müssen unser Augenmerk auf den Weiterweg, den Ostteil des Hauptkammes, richten, hat doch unser Plan die Umwanderung des Căliman-Kraters zum Ziel.
Ingrid sägt an unserer Dauerwurst, zerkleinert ein paar Tomaten und gibt mir ein Stück von dem vorzüglichen Schafskäse, den Willi und Genzi gestern in der einzigen Stâna, die wir auf dem Westkamm sahen, erstehen konnten. Vom Hunger sind wir ohnehin nicht geplagt, dafür sitzt uns der Durst bereits den zweiten Tag ganz hartnäckig in der Kehle. Wasser fanden wir bisher lediglich in der Nähe der besagten Stâna (am Măierişel) und unten am Maria-Theresien-Weg. Was der Weiterweg bringt, ist uns unbekannt; nach Oasen jedoch sieht es beim besten Willen nicht aus.
Den im zentralen Teil des Kessels angesiedelten Tagebau sehen wir jetzt etwas deutlicher; die Stille wird von Motorengeräuschfetzen, die der Wind herüberträgt, ab und an unterbrochen; weit drüben wird ein kegeliges Bergchen von Baggern benagt; winzige Punkte, die sich auf gelbbraunen Serpentinen bewegen.
Dann laufen wir über das karge Plateau, das sich vom Gipfel nach Osten zieht. Die Sonne „prügelt“ uns förmlich, so dass die Gedanken ständig um die noch halbgefüllte Plastetrinkflasche kreisen...

Wo gibt’s Wasser?

Der junge Mann, der inmitten seiner Schafe Hundetiere sitzt und den ich nach Wasser frage, mustert uns freundlich, doch merklich verwundert. Hirten gibt es schon nicht viele hier oben, aber auch Touristen sind anscheinend eine Rarität.
Wir stehen an der mehrfach markierten Wegkreuzung am Osthang des Pietricelul (1991 m). Ein breiter Weg führt von der Luana-Hütte herauf, die infolge der Erschließungsarbeiten von einer Vielzahl anderer Bauten umgeben ist. Das alles im Tal, ganz winzig. Den Tagebau haben wir weit oberhalb seines Zentrums tangiert. Aus beträchtlicher Höhe beobachten wir Urlaubsmenschen die Emsigkeit da unten, bis uns der aufdringliche Lärm der Bagger und Lkw wieder das Weite suchen ließ. Kontraste. Der Knotenstock unseres Hirten weist auf eine Stelle, gute 50 m östlich der Wegkreuzung: „Dort!“ Wir können es kaum fassen: Glitzerklares Ha-zwei-O, Wasser! Aus einer hölzernen Rinne plätschert es silbrig auf blanke Steine, rinnt talwärts.
Unweit der „Theke“ bauen wir unser Nylonhaus in die Latschen – ist es doch schon später Nachmittag geworden. Das Summen des Kochers schafft fast augenblicklich Behaglichkeit, und wir kochen nach Herzenslust.
21.30 Uhr. Ingrid und ich sitzen auf dem Pietricelul und fotografieren den Pietrosul, der von der untergehenden Sonne in klarer Luftperspektive eindrucksvoll gegen die hinter ihm liegenden Kämme gezeichnet wird. Eine halbe Stunde später robben wir in die Daunensäcke...
Wieder einmal ist der rote Punkt, unsere Markierung, nicht mehr zu sehen. Mein einäugiges Fernglas, ist unentbehrlich, wird neben der Trinkflasche zum wichtigsten Utensil. Endlich ein Stückchen überschaubarer Weg! Weiter. Stunde um Stunde quälen wir uns durch den Latschenwald des Ostkammes. Die heftigen Windböen, die die Nacht recht ungemütlich werden ließen, haben keineswegs nachgelassen; sie peinigen uns jetzt, am frühen Nachmittag des dritten Tages noch immer ganz verbissen.
Leider hatten wir in unserem bisherigen Leben noch keinerlei Gelegenheit, die echte Taiga zu erleben, doch provoziert unsere augenblickliche Umgebung zwangsläufig das Denken an Jäger- und Abenteuergeschichten, an Möglichkeiten, stetig im Kreis zu laufen...
Ingrid schimpft. Ich fluche. Wieder ist der Pfad zugewachsen. Wir müssen uns kriechend durch das harte Latschengeäst winden. Dann krallt uns der Wind an. Von Wasser nicht eine Spur – hohe Schule der Enthaltsamkeit. Weit und breit keine Menschenseele. Am Südhang des Căliman Izvor gibt es keine Markierung mehr. Wir fragen, wie es uns wohl bei unsichtigem Wetter, bei Nebel, ergangen wäre.
Auch zum Călimanul Cerbului, den wir eine gute Stunde später erreichen, führt kaum eine Spur.
Von den die Gipfel (und partiell den südlichen Kammweg) umziehenden, niedriggeschichteten und teilweise überwachsenen Steinwällen, die vor Zeiten, eventuell im Zusammenhang mit dem Maria-Theresien-Weg, entstanden sein dürften, abgesehen, fanden wir im östlichen Căliman keine Hinweise darauf, dass hier des Öfteren Menschen entlanggehen.
Hinter der sanften Gipfelkuppe stoßen wir auf die Reste einer Unterkunft: Steine; ein paar Balken. Drüben, auf dem westlichen Gegenhang, die „Zwölf Apostel“, unser Aufstiegsweg.
Versteckt im Taleinschnitt die ersten Häuser von Gura Haitii. Direkt vor uns aber, an einem Riesenstein, „entziffern“ wir Markierungsfragmente: rote und blaue Farbe sind zu erkennen – es geht nunmehr bergab...
Drei Tage hatten wir für diese Tour geplant – drei ganze Tage benötigen wir auch, stand uns nach Leistungswandern doch keineswegs der Sinn.
Gegen 19 Uhr kochen wir unten im Dorf unsere Suppe, essen an einem gastlichen Tisch das Abendbrot. Morgen früh schon wollen wir mit dem Bus nach Vatra Dornei fahren.
Hätten wir die Berge westlich des Pietrosul dem monotonen Ostkamm vorziehen sollen? Wir reflektieren intensiv. Das hätte andererseits bedeutet, auf die Taiga-Impressionen zu verzichten... Sicher ist: Beim nächsten Mal sollten wir mehr Zeit mitbringen. Zu gerne wären wir noch gemächlich durch das wunderschöne Neagra-Şarului-Tal gelaufen.
Draußen im Hof schurrt eine Kette über Holz; für wenige Augenblicke rumort der Hund. Eine Schafsglocke bimmelt irgendwo in der Dunkelheit... Wir schlafen schnell ein.

(Verlag Neuer Weg, Bukarest - Komm Mit 82, S. 57 – 60)

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