Eine Wanderung über den Kleinen Retezat ist immer ein Erlebnis
von Walter Kargel
Heiß brennt die späte Morgensonne auf unser „Nanga Parbat“. Wir strecken uns wohlig in
den Schlafsäcken. Durch den Reisverschluss dringt der Duft frischen Heus ins Zelt. Der
„Nanga Parbat“ ist unser Zelt, ein kleines japanisches Wunderding mit schön rundlichen
Formen, dessen orangegelbe Farbe selbst bei Regenwetter den Eindruck erweckt, draußen
scheine die Sonne. Diesmal tut sie es auch.
Die Sense von Traian zischt rhythmisch durch das hohe Gras. Zum Frühstück pflücken wir
erst mal Kirschen und Weichseln direkt in den Mund. Marina bringt uns später ein Eimerchen
frisch gemolkener Kuhmilch. Es sind die Leute, auf deren „livadă“ wir hier in Petroşani zelten.
Der alte Traian ist ein Kumpel im Ruhestand, seine Frau, groß und kräftig, absolute
Herrscherin über Hühner, Enten, Gänse, Schweine, Kühe und einen riesigen Schäferhund.
Während ich im Schatten meinen Sonnenbrand vom Parâng kuriere, hilft Amalia mit der
Heugabel Traian beim Aufbau eines riesigen Heuschobers.
Drei Tage wie im Schlaraffenland. Der Sonnenbrand zurückgegangen, das Muskelfieber
weg, der Heuschober fertig, die Obstbäume abgeerntet. Nun sitzen wir im Bus. In Uricani
werden noch rasch Tomaten und Paprika besorgt, und dann sind wir auch schon in Câmpu
lui Neag. Bis zur Straßenbrücke wandern wir den westlichen Schil entlang, schwenken dann
nach rechts ins Buta-Tal ab. Der Bach sprudelt zwischen Weiden, doch bald schon verlassen
wir die Auen, und es beginnt ein schweißtreibender, scharfer Anstieg zwischen alten Buchen
auf ausgetrampeltem Kuhpfad. Als wir aus dem Wald auf die Wiesen hinaustreten, beginnt
ein kräftiger Sommerschauer. Schutz finden wir in der Laube einer alten Heumäherhütte.
Eine Stunde später ist der Spuk aus Wolken, Feuer, Donner und Wasser weg, und wir
machen uns wieder auf den Weg.
Es ist eine sanft ansteigende Forststraße, die da den Hang entlang schlängelt. Die nach dem
Regen aufsteigenden Dunststreifen lassen jenseits der tief eingeschnittenen Buta-Schlucht
die Kalk-Steilhänge des Piule-Gebirgsstockes nur ahnen. Die Straße ist plötzlich zu Ende.
Autotouristen zelten hier. Wir gehen weiter und überqueren den Bach auf einem wackligen
Steg. Dies wiederholt sich öfters, während wir dem steinigen Pfad durch Tannenwald
bachaufwärts folgen. Am Spätnachmittag erreichen wir endlich die Wiese mit der
Almwirtschaft „Stânele la Fete“ und nach weiteren fünf Minuten die Buta-Hütte.
Am nächsten Tag geht’s in aller Frühe weiter. Dicht gesetzte rote Kreuze führen uns zum
Plaiul-Mic-Sattel. Nach dem gestrigen Regen ist der Himmel makellos reingewaschen, und
stumm nehmen wir das Panorama des Großen Retezat auf, das wie in einem Bilderbuch vor
uns aufgeht: Păpuşa, Peleaga, Bucura, Judele, Şesele, Slăveiul, die dazwischen liegenden
Hochtäler; vor allem das uns gegenüber sich öffnende Bucura-Tal bietet sich in allen
Einzelheiten. Hier wird gerastet und gefrühstückt.
Eine Stunde später beginnen wir den langen Kammweg ins Godeanu-Gebirge. Der Abschnitt
Plaiul Mic – Piatra Scărişoarei ist uns noch unbekannt. Es ist der einzige Abschnitt des
Südkarpatenhauptkammes, den wir noch nicht begangen haben. Zunächst ist da eine Allee
durch Latschenwald. Auf das Krummholz folgt ein weites, gras- und blumenbewachsenes
Plateau: Drăgşanul heißt der Berg, in regelmäßigen Abständen stehen Markierungsstangen,
und zur Rechten begleitet uns das Retezatpanorama. Ab und zu bleiben wir stehen und
blicken zurück zum Plaiul Mic und den immer ferneren Bergen Custura, Gruniul, Lazărul.
Sanft neigt sich der Hang zu einem flachen Graben – Scocul Drăgşanului. Aus einer Quelle
sprudelt Wasser. Richtungsänderung. Wir steigen links die Kalkrinne empor, die uns zum
ersten Gipfel führt; Albele, so genannt wegen der weißen Kalkfelsen. Nach einem seichten
Sattel folgt schon der zweite – Stănuleţii Mici. Typische Kalkgebirgslandschaft – Felsen,
Latschen, üppiges Gras und Blumen – kennzeichnet den Weg zur Piatra Iorgovanului. Nun
ist es auch mit der guten Markierung zu Ende – die Karte muss zu Rate gezogen werden.
Entschlossen steigen wir rechts (gegen Norden) hinab in den Latschenwald und wandern auf
einem ausgetretenen Hirtenpfad westwärts. Der Graben rechts wird immer steiler und tiefer,
der Weg quer dazu immer schmäler: La Trecerea Rea. Nach diesem „mauvais pas“ treten
wir wieder „ins Freie“. Auf der weiten Grasfläche erscheinen zwei rucksackbepackte
Gestalten, ein Junge und ein Mädchen die einzigen Wanderer außer uns zwischen Plaiul Mic
und Cerna-Tal. Wie sie uns erzählen, kamen sie aus dem Cerna-Tal über Plaiul
Gârdomanului und zelteten irgendwo am Kamm.
Noch ein Kalkgipfel folgt – Stănuleţii Mari, sonnengebadeter Karst, Latschen, Blumen.
Schäferhunde stürzen uns entgegen, vom Gipfel rufen die Schäfer ihre Hunde zur Ordnung.
Vor uns liegt ein weiter Sattel: Soarbele; wir stehen an der Scheide zwischen Kleinem
Retezat und Godeanu, einer wichtigen Wegkreuzung, kaum sichtbar markiert. Rechts geht’s
hinab zu Lunca Berhină im Lăpuşnicul-Mare-Tal, links zur Câmpuşel-Hütte im West-Schiltal.
Man sieht den Soarbele-Kamm mit dem Jiu-Cerna-Pass, der das Godeanu- und Retezat-Gebirge
mit dem Vâlcan-Gebirge (Oslea) verbindet. Nebel hüllt im Süden den kleinen
Gebirgssee Tăul fără Fund ein und bald auch unsere nächsten Gipfel. Ein langer Anstieg
führt uns in die Nähe des Paltina-Gipfels. Jenseits geht es wieder hinab in einen Sattel. Es
folgen Gârdomanul, Galbina, Stâna Mare, Micuşa Mare und auf jeden Gipfel folgt ein Sattel.
Jeder Sattel besteht aus einer weiten, von Nebelhängen umgebenen Grasfläche. Jede
Orientierung ist praktisch unmöglich geworden. Wir verlassen uns auf unseren Instinkt.
Einige Male begegnen wir Schafherden und den unvermeidlichen Schäferhunden, die uns
zur Selbstverteidigung zwingen. Die Hirten lassen sich Zeit, bis sie die Hunde zu sich rufen.
Anscheinend macht es ihnen Spaß. Zwischen den Nebelschwaden können wir die Borăscu-Platte
erkennen, im Hintergrund den langgezogenen Zlata-Kamm des Retezat. Dann folgt
der Augenblick, wo wir mit unserem Latein am Ende sind.
Wir stehen auf einem breiten Gipfelplateau in dichtem Nebel. Keine Orientierungsmöglichkeit
weit und breit. Während Amalia bei den Rucksäcken bleibt, gehe ich kundschaften. Im
Süden höre ich Schafe, Hundegebell, Rufe. Sehr tief muss ich absteigen, ehe sich eine
Hirtengestalt aus dem Nebel löst, mit der ich in Rufverbindung trete. Das Tal mit den
Schafen heißt Vlăsia, der Gipfel, auf dem wir uns befinden, Micuşa, im nächsten Sattel
werden wir eine Lämmerherde antreffen, ein See liegt da (Scărişoara-See), und dann folgt
ein langgezogener Aufstieg zu einem ausgedehnten Plateau – Piatra Scărişoarei, unser Ziel!
Zurück zum Gipfel, die Rucksäcke geschultert und los geht es. Die Lämmer sind da, vom
See allerdings ist im Nebel nichts zu sehen. Am Scărişoara-Plateau entdecken wir einen
dünnen Wasserfaden und auch bald die Quelle. Hier rühren wir uns einen kalten Kaffee. Die
Nebelschwaden lichten sich und plötzlich ist er da: ein großer Steinmann und zwei lose am
Boden liegende rostige Wegweiser, die schon lange nicht mehr ihre Funktion ausüben.
Immerhin, wir sind am Ziel, an der Wegkreuzung Piatra Scărişoarei, wo wir vor einigen
Jahren unsere Kammwanderung, vom Godeanu kommend, abbrechen mussten (siehe
Komm mit 1978).
Diesmal steigen wir gegen Süden ab. Eine Markierung – rotes Kreuz – ist auch wieder da,
verschwindet aber bald. In einem flachen Kar liegt ein altes Schneefeld, dahinter ein felsiger
Grat. Wir halten uns links. Wie durch Zauber ist plötzlich der Nebel weg, in der Abendsonne
erkennen wir einen langgezogenen Kamm, auf dem wir bequem absteigen können. Ob es
wohl der richtige ist? Bald schon merke ich, dass wir die falsche Richtung eingeschlagen
haben. Wir befinden uns am Răduceasa-(Rădoteasa-)Kamm, den gesuchten Plaiul Bulzului
erkennen wir rechts an den eigentümlichen Felstürmen „Bisericile din Bulz“, die im mittleren
Teil des Kammes, viel weiter unten, auszumachen sind. Um vom Răduceasa- zum Bulz-Kamm
zu gelangen, überqueren wir ein flaches Hochtal (Valea Răduceasa) und stoßen
richtig auf die Markierung rotes Kreuz. Eine halbe Stunde später treffen wir einen Hirten. Der
führt uns rechts ins Bulzului-Tal zu seiner Hütte. Am offenen Feuer kochen wir uns einen
riesigen Topf Suppe. Flüssigkeit können wir jede Menge vertragen. Aus Schafpelzen
entsteht ein bequemes, wenn auch schiefes Lager, von dem wir mit unseren Schlafsäcken
immer wieder abrutschen. Die Hirten übernachten im Freien, bei den Schafen, wir sind allein
in Gesellschaft der beiden Esel, die sich genussvoll den Rücken an der Hüttenwand reiben.
Letztes Kapitel: Abstieg. Der Weg ist nicht zu verfehlen, selbst ohne Markierung. Es geht
immer der Kammlinie entlang, an den „Bisericile din Bulz“ vorüber, an einer Sennhütte am
Waldrand, später durch dichten Buchenwald, der mit abnehmender Höhe immer dunkler
wird.
Gegen Mittag erreichen wir die Baustelle des neuen Cerna-Staudamms. Ein freundlicher
Fahrer nimmt uns in seinem Lastkipper mit. Auf halsbrecherischen Serpentinen geht es
hinab zur Arbeiterkolonie. Das Abenteuer ist zu Ende.
Höhenangaben: Câmpu lui Neag – 800 m; Buta-Hütte – 1580 m; Plaiul Mic – 1879 m. Drăgşanul – 2018 m; Piatra Iorgovanului – 1997 m; Soarbele-Sattel – 1930 m; Paltina – 2145 m; Gârdomanul – 2077 m; Galbina – 2194 m; Micuşa – 2175 m; Piatra Scărişoarei – 2244 m.
Zeitplan und Markierungen: Câmpu lui Neag – Buta 4 Stunden. Buta – Plaiul Mic 45 Minuten – rotes Kreuz. Plaiul Mic – Piatra Iorgovanului 3 ½ Stunden – rotes Band, blaues Dreieck. Piatra Iorgovanului – Piatra Scărişoarei 7 ½ Stunden – rotes Band (verwittert und rar). Piatra Scărişoarei – Cerna-Stausee 4 ½ Stunden – rotes Kreuz.
Weitere Varianten ab Piatra Scărişoarei: nach Gura Apei 4 Stunden – rotes Kreuz; zum Godeanu und über Cracul Mocireiu ins Cerna-Tal 6 – 7 Stunden, rotes Band (in schlechtem Zustand), ab Şaua Mâţului auch blaues Kreuz.
Die Buta-Hütte ist die einzige Schutzhütte des Gebietes, die für die Hauptkammwanderung in Frage kommt. Die Sennhütten sind tief gelegen, meist am Waldrand. Es ist zu empfehlen, Biwakausrüstung mitzuführen. Gute Karte und Kompass sind unerlässlich, da die Markierung unverlässlich ist, das Gelände weitausgedehnte Grasflächen aufweist und die Kammlinie im unregelmäßigen Zickzack verläuft. Bei Nebel und Schnee ist die Orientierungsmöglichkeit gleich Null.
(Verlag Neuer Weg, Bukarest - Komm Mit 82, S. 100 – 107)
Seite | Bildunterschrift |
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100 | Bade Ion, der Schafshirt im Parâng. |
102 | Einsame Berglandschaft des Godeanu. |
103 | Generationen. Hirten im Rodna-Gebirge. |
105 | Launisch ist das Wetter im Ţarcu-Massiv. Örtliche Schauer sind die Regel. |
107 | Kartenskizze |