von Walter Gutt
Der Alltag bringt uns Dutzende Gefahren: beim Überqueren der Straße, auf der Fahrt mit dem Bus oder dem Pkw, bei der Arbeit, aber auch daheim, in der Küche, können wir verunglücken; um wie viel eher also im wilden, in Dunkelheit gehüllten Gelände der Tiefen. Vor Gefahren, die man kennt, kann man sich schützen – auch in Höhlen –, nicht aber, wenn Unvorhergesehenes einen trifft. Trotz langjähriger Erfahrung und zweckmäßiger Ausrüstung gerieten wir bei der Erforschung eines Schachtes an den Rand einer Katastrophe.
Als wir uns 1952 zum ersten Mal diesem Schacht des Königsteins (Piatra Craiului)
widmeten, ahnten wir nicht, welch harte Nuss es da zu knacken gibt
(siehe „Komm mit 77“, Seite 161 – 169).
Unser erster Befahrungsversuch, am 2. Juli 1952, endete beinahe mit einem Unfall:
zweieinhalb Stunden kämpften meine drei Gefährten, um mich dem Schacht zu entreißen. In
der Folgezeit bewerkstelligten wir die Ein- und Ausfahrt mit einer mächtigen Doppelkurbel,
die wir aus einem Baumstamm zurechtzimmerten und über der Schachtmündung
anbrachten. Auf den Stamm wurde ein Seil gewickelt, mit dem man in den Schacht
hinabgelassen oder wieder herausgeholt werden konnte. Der 1931 von Alfred Prox
entdeckte Nebenraum in 80 Meter Tiefe erwies sich als Schlot, man könnte sagen eine Art
Parallel- oder Nebenschacht, der fast bis zur Erdoberfläche hinaufführt. Seine Wände sind
mit „Bergmilch“, einer weichen käsigen Masse, überzogen, die das Klettern sehr erschwert.
Eine Frage drängte sich auf: Gibt es in diesem „Nebenschacht“, in einer gewissen Höhe,
vielleicht eine Querverbindung zu einem anderen Nebenschacht, der weiter abwärts in die
Kalkschichten führt, ins Königsteinlabyrinth, das von manchen Geologen und Karstforschern
in der Tiefe angenommen wird? Auf der Suche nach einer solchen Querverbindung
„schwindelte“ sich 1954 eine Seilschaft bis in vierzig Meter Höhe im Nebenschacht empor,
konnte aber nichts entdecken und auch keinen oberen Abschluss des Raumes erspähen.
Der Schuttpfropfen, der den Schachtgrund bildete, erwies sich als bedeutend mächtiger und
widerstandsfähiger, als wir uns vorgestellt hatten. Nachdem eine Lawine unsere
Einrichtungen auf der Erdoberfläche zerstört hatte, gaben wir 1956 die Bemühungen an
dieser Stelle auf.
Nach 21 Jahren versuchen wir erneut unser Glück mit dem Vlăduşca-Schacht. Abermals fällt
unser Augenmerk auf den geheimnisvollen Nebenraum, dessen höchster Teil immer noch
unbekannt ist. Wir wollen noch höher hinaufsteigen. Vielleicht gibt es dort dennoch einen
Quergang, der weiterführt. Inzwischen sind wir um manche Erfahrung reicher geworden,
unsere Ausrüstung hat sich verbessert und die Zahl der Mitarbeiter vergrößert. Mit den
Kollegen vom Höhlenforscherinstitut aus Bukarest führen wir seit einigen Jahren oft
gemeinsame Einsätze durch.
Am 1. September 1977 erreichen wir mit dem Nachtzug Zărneşti, den Ausgangspunkt
zahlreicher früherer Expeditionen zu den Königsteinschächten. Schwerbepackt mit
Höhlenausrüstung windet sich unser Treck durch die nächtliche Prăpastie-Schlucht. Der
neuanbrechende Tag verscheucht die aufkommende Müdigkeit und erfüllt uns mit Wärme
und Wonne.
Bald siedet das Teewasser. Unser Frühstück gleicht einem Festmahl. Höhlenforscher haben
immer guten Appetit. Eine Weile noch rekeln wir uns genüsslich in den wohltuenden Strahlen
der aufgehenden Sonne, dann müssen wir fest zupacken. In mühevoller Wühlarbeit
entfernen wir den angesammelten Unrat aus dem Schacht. Nach drei Stunden stoßen wir bis
zur Terrasse in zwölf Meter Tiefe vor. Absturzmaterial hat sich hier an einer Engstelle des
Schlundes gestaut und bildet einen Pfropfen, die sogenannte „Verschüttung“. An dieser
Stelle befand sich früher unser Materiallager. Jetzt gleicht der Ort einer Müllablage. Nach
weiteren zwei Stunden Schwerstarbeit ist die Terrasse gesäubert und der Weg in die Tiefe
offen.
Der Abstieg beginnt. Um Zeit zu sparen, soll bis zum Schachtgrund abgeseilt werden. Ich
steige auf der Drahtseilleiter bis zur Terrasse hinab und übernehme die Sicherung meiner
Gefährten. Mein Entschluss, heute nicht in den Schacht einzusteigen, wird sich bald als
großes Glück erweisen. Einer nach dem anderen gleiten die Freunde am Seil in die
schwarze Tiefe zu meinen Füßen: Horst Depner, unser Mitarbeiter aus Codlea, Ádám Gereb
(Adi) und Anton Zakariás (Toni), meine altbewährten Höhlengefährten, Karl-Heinz Kloos
(Karli), ein Mitarbeiter aus Horsts Gruppe. Als sich Géza Bencze, einer unserer besten
Höhlengänger, ans Seil hängt und sich langsam durch die enge Öffnung fädelt, die sich
neben der Terrasse auftut, unter der die Schachtwände aber dann jäh auseinander fliehen,
bewegt sich plötzlich der Boden unter meinen Füßen. „Das kann nur eine Täuschung sein“,
versuche ich mich zu beruhigen, „die Terrasse galt schon früher als vollkommen fest und
sicher, sie muss es auch jetzt sein!“
Nun kommen unsere Bukarester Kollegen, die Forscher Oana Goran (Onica) und Cristian
Goran (Cristi) auf die Terrasse. Als Onica durch das Loch am Boden abseilt, bricht ein Stück
der Terrasse ab und donnert in die Tiefe. Entsetzen packt uns. Glücklicherweise hat Onica
nichts abbekommen, und die Leute befinden sich bereits alle im Nebenraum, in den keine
Steine fallen können. Endlich ist auch Onica unten und in Sicherheit. Per Seilpost schicke ich
jetzt die zum Hochsteigen im Nebenraum erforderliche Ausrüstung hinunter: Drahtseilleitern,
Mauerhaken, Karabiner und Jumars (Steighilfen).
Nun ist Cristi an der Reihe. Langsam lässt er sich am Seil abwärts gleiten. Da ruft ihm Toni
aus der Tiefe zu, er möchte sich doch die Terrasse einmal von unten her ansehen und alles
was lose ist, hinunterwerfen. Cristi pendelt sich unter die Terrasse, kommt aber
kopfschüttelnd bald wieder zum Vorschein. „Alles wackelt“, lautet sein Befund. Kaum hat er
diese Worte gesagt und ist meinen Blicken entschwunden, da geht plötzlich eine
Erschütterung durch die Schichte, auf der ich stehe. Entsetzt werfe ich mich mit dem Rücken
an die Felswand. Verzweifelt suchen meine Hände einen Halt. Ich erhasche eine Sprosse
der Drahtseilleiter und kann mein Gleichgewicht wiedererlangen –, gerade noch im letzten
Augenblick, denn mein rechter Fuß tritt bereits ins Leere. Unter mir ist die Hölle los. Das
Dröhnen, Pfeifen, Krachen und Poltern will kein Ende nehmen. Zwei Drittel der Terrasse –
ich schätze, etwa vier Kubikmeter Schutt, Erde und Holz – sind abgebrochen und in die Tiefe
gestürzt.
Beim Gedanken an meinen Freund, der unter mir im Seil baumelt, sträuben sich mir die
Haare. Der ganze Trümmerhagel muss über ihn hinweggebraust sein. Er lebt, es grenzt an
ein Wunder, er hat alles gut überstanden. Vorsichtig reiche ich ihm das Ende der
Drahtseilleiter. Er krabbelt zu mir auf den schmalen Sims, der von der Terrasse
übriggeblieben ist. Wir umarmen einander vor Freude. In der Tiefe haben die Schuttmassen
den Verbindungsgang zum Nebenraum beinahe ganz verstopft. Unsere Gefährten aber sind
wohlauf.
Bestimmt ist das Seil durch Steinschlag beschädigt worden. Wir ziehen es empor und
erstarren: an vier Stellen ist es bis auf einige Fasern durchgeschlagen, also unbrauchbar.
Doch halt! Es gibt ja noch das Sicherungsseil. Es ist zwar ein wenig dünn, aber unversehrt.
Der Schachtgrund liegt in sechzig Meter Tiefe unter der Terrasse, und genauso lang ist
dieses Seil. Mit ihm werden wir die Drahtseilleitern vom Schachtgrund bis zur Terrasse
emporziehen, also im Schacht ausspannen.
Einer von uns beiden muss sich jetzt am Sicherungsseil abseilen, ungesichert, denn ein
anderes Seil gibt es nicht mehr. Cristi opfert sich. Als er unter dem Rest der Terrasse
verschwindet, poltert erneut eine Ladung Schutt über ihn hinweg. Und wieder bleibt er heil,
nicht aber das Seil. Drei Meter über dem Schachtgrund wird es durchgeschlagen. Trotzdem
kommt unser Freund gut unten an und wird mit Freudenrufen begrüßt.
Die vierzig Meter Drahtseilleitern aus der Tiefe – leider sind es nicht mehr – werden nun am
Seilende befestigt, dann ziehe ich mühsam alles empor, während meine Gefährten, in ihrer
Not, die Verbindung mit dem unteren Ende der Drahtseilleitern durch ein über zwanzig Meter
langes Gebilde aus miteinander verbundenen Ledergürteln, Schnüren, Schuhriemen und
anderen verknüpfbaren Dingen aufrechterhalten. Auf der Terrasse schließe ich auch die
dortigen zwanzig Meter Drahtseilleitern an unsere Aufstiegsvorrichtung an und lasse dann
langsam alles zurück in die Tiefe gleiten, bis das untere Ende wieder den Schachtgrund
erreicht.
Horst steigt als erster hoch. Er braucht siebzehn Minuten. Ihm folgt Adi, in fünfundzwanzig
Minuten. Doch ehe er die Terrasse erreicht hat, reißt der Mauerhaken, der die
Drahtseilleitern hält, aus der Felswand. Die Höhle versucht, uns um jeden Preis die Zähne zu
zeigen. Glücklicherweise sind die Leitern durch einen zweiten Mauerhaken gesichert. Um
sicher zu sein – es hat heute schon zu viele Überraschungen gegeben –, packe ich die
Leitern mit den Händen und halte sie fest, bis Adi neben mir steht. Ich befestige die
Drahtseilleiter, der Aufstieg wird fortgesetzt. Toni ist in zweiundzwanzig Minuten bei uns und
bringt einen Teil der Kletterausrüstung mit, insbesondere die so dringend benötigten Jumars,
mit deren Hilfe man mit Leichtigkeit an einem Seil hochklettern kann. Wir benützen sie auf
dem Weg von der Terrasse zur Oberfläche. Horst erreicht als erster die Oberfläche. Draußen
ist es bereits Nacht. Onica steigt aus der Tiefe empor, und als sie die Terrasse erreicht hat,
hangele ich mich am Seil an die Oberfläche, um das Abendbrot und den Tee anzurichten. In
einer Thermosflasche schicke ich Onica, Adi und Toni, die sich auf der Terrasse ausruhen,
den heißen Trank hinunter.
Es vergehen noch viele Stunden, bis auch der letzte von uns die Schachtmündung verlässt.
In der wohltuenden Nähe der Kohlenglut erwarten wir den Morgen. Die Müdigkeit und der
Nachklang des aufregenden Erlebnisses in der Tiefe lassen uns nur selten die Augen
schließen. Kaum sind wir eingeschlafen, sehen wir uns schon unter herabstürzenden
Schuttmassen begraben, an zerquetschten Seilen über Abgründe schweben oder ins
schwarze Nichts stürzen, und schon zucken wir zusammen und sind wieder hellwach.
Endlich besiegt der junge Morgen diese Welt der Alpträume, und mit der aufgehenden
Sonne kommt auch in unsere müden gequälten Körper frischer Lebensmut. Und der feste
Wille, in Kürze wiederzukommen, unser Vorhaben zu verwirklichen, ergreift erneut von uns
Besitz.
(Verlag Neuer Weg, Bukarest - Komm Mit 78, S. 100 – 109)
Seite | Bildunterschrift |
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101 | Vlăduşca-Schacht, Aufriss |
102 | Großer Königstein. Auf der Ostseite die Lage des Vlăduşca-Schachtes (x). |
103 | Bei der Reinigung der Schachtmündung von Baumstämmen und Ästen. |
104 | Die Mündung des Vlăduşca-Schachtes. |
106 | Adam Gereb steigt in den Schacht ein. |
108 | Am Grund in 72 m Tiefe: Adam Gereb, Horst Depner und Karl-Heinz Kloos. |