von Walter Gutt
Viele erklimmen den Königstein, aber nur wenige ahnen, dass diese schroffe Riesenmauer aus Kalk in ihrem Felsenschoß eine Welt birgt, vielleicht noch wilder, noch zerrissener als die Welt der Höhen – die Welt lichtloser Labyrinthe, unterirdischer Abgründe, Schluchten, Gänge und Hallen. Bis heute kennen wir bloß die Ein- und Ausgänge dieser geheimnisvollen, von den Forschern ausgenommenen Welt: die dunklen Mündungen senkrechter Schlünde und die engen Karstwasseraustritte.
Während der Königstein den Bergsteiger großzügig belohnt, erweist er sich dem
Höhlenforscher gegenüber als richtiger Geizhals. Sorgfältig verbirgt er die Geheimnisse
seiner Kalkschichten in der Tiefe unter einem viele Hunderte Meter mächtigen
Konglomeratpanzer, der auch den verwegensten Angreifer abweist. Und die einzigen in
Frage kommenden Zugänge zu dem hypothetischen Reich der Finsternis, die senkrechten
Schlünde, hat er alle, so gut er konnte, abgeriegelt. Von den sechs bisher bekannten Pforten
zur Unterwelt sind vier so gründlich mit Schutt und Trümmerwerk verschlossen, dass sie
wahrscheinlich nie geöffnet werden können. Allein das ruhelose Wasser findet den Weg
abwärts. Nachdem es fast tausend Meter Höhenunterschied und annähernd zehn Kilometer
Entfernung zurückgelegt hat, entkommt es dem Steinverlies – im Norden in den
Herrenquellen bei Zărneşti und im Süden im Quellaustritt der Dâmbovicioara.
Ganz ohne Hoffnung lässt der Königstein die Höhlenforscher jedoch nicht. Zwei senkrechte
Schlünde, den Vlăduşca-Schacht, östlich der Hirtenspitze (2244 Meter) und den
Grind-Schacht, etwa drei Kilometer weiter südlich, verwendet er gewissermaßen als Köder, um die
Forscher zu immer neuen Einsätzen anzuspornen, aber sie gleichzeitig auch oft zu
enttäuschen.
Mit den Geheimnissen des Vlăduşca-Schachtes haben sich schon Generationen von
Bergsteigern, Natur- und Höhlenforschern aus Braşov beschäftigt. Aus den Beschreibungen
der einzelnen Autoren wird man jedoch nicht recht klug, denn man stößt häufig auf
Widersprüche.
Anton Kurz ist der erste, der über diese Tiefenhöhle berichtet; Julius Römer erwähnt den
Schacht im Jahre 1882. In seiner Beschreibung tritt zum ersten Mal die falsche Bezeichnung
„Doline“ auf, die leider auch heute noch oft benützt wird. Im Jahre 1900 unternimmt Josef
Kolbe, ein k.k.-Oberleutnant seinen ersten Befahrungsversuch. Dann vergehen drei
Jahrzehnte, ehe wir wieder etwas über den Vlăduşca-Schacht erfahren. Diesmal untersucht
ihn die Höhlenforschergruppe des ehemaligen Burzenländer Museums unter Leitung von
Alfred Prox, der im Jahrbuch des Siebenbürgischen Karpatenvereins 1933 berichtet.
„Den ersten Abstieg unternahm ich am 8. Juni 1930. Ich seilte mich bis auf die erste
Verschüttung hinab, auf welcher ich um diese Zeit noch einen etwa einen Meter 70 hohen
Schneeblock vorfand... Hinabgeworfene Steine hörte man 9 bis 10 Sekunden fallen. Meine
weitere Tätigkeit beschränkte sich auf das Sammeln sämtlicher für den Entwurf des
Arbeitsprogrammes notwendigen Daten... Am 3. August konnten wir das Seil auf die
Trommel legen und die Belastungsproben machen... Um 4 Uhr war es soweit, dass ich mir
den Stahlhelm und die Steigeisen anschnallen konnte... Bei etwa 50 Meter Tiefe konnte ich
auf einem Vorsprunge Fuß fassen und mich umsehen. Hier macht der Schacht eine
Kröpfung (Vorsprung) nach Süden und fällt dann wieder senkrecht ab. Die Form ist nicht
mehr dieselbe wie bisher, der Schacht hat nunmehr einen fast quadratischen Querschnitt...
Die nächste Befahrung unternimmt Prox erst ein Jahr später, also 1931. Er schreibt: „Am 28.
Juli erreichte ich bei 80 Meter die zweite Verschüttung des Schachtes. Der Schacht ist hier
etwa 2 x 2 Meter im Quadrat, der Boden besteht aus größeren und kleineren Steinblöcken
und Baumstämmen. Im Westen ist ein 2 Meter hoher, 40 Zentimeter breiter Spalt, durch
welchen man in den bei weitem größeren Parallelschacht gelangt, dessen Boden ebenfalls
aus Steinblöcken besteht und eine etwa 40grädige Abwärtsneigung nach Westen aufweist.
Wir haben es hier mit einer totalen Verschüttung zu tun, welche nur aus hinabgeworfenem
und hier gestautem Material besteht.“
Verstopft finden auch wir den Schacht, als wir das Werk unserer Vorgänger fortsetzen. Nie
werde ich meinen ersten Vorstoß in diese düstere und feindliche Welt vergessen. Es ist am
2. Juli 1952, zwei Wochen nach der Wiederauffindung des Schachtes. Im Vertrauen auf die
Versicherung meiner drei Mitarbeiter, mich um jeden Preis zurückzuholen, seile ich mich
kurz entschlossen bis zum Schachtgrund ab. Die Rückkehr wird zum Alptraum. Über
zweieinhalb Stunden hänge ich hilflos im Seil, das mir die Brust zusammenschnürt, während
meine Gefährten mich mit letzter Kraft wie einen Mehlsack hochziehen. Völlig erschöpft
werde ich schließlich über den Rand der Terrasse gezerrt und falle meinen ebenso
abgekämpften Freunden regelrecht in die Arme.
Eine einfache Winde aus Baumstämmen, an der mittels Kletterseils ein Metallsessel
befestigt wird, erleichtert uns in Zukunft die Befahrung des Schachtes. Zu Grabungen in der
Tiefe kommt es 1952 nicht mehr. Aus einer französischen Zeitung erfahren wir die traurige
Kunde vom tödlichen Absturz des Höhlenforschers Marcel Loubens im Schacht von Pierre
Saint Martin in den Pyrenäen, die unsere Begeisterung für die weitere Erforschung des
Vlăduşca-Schachtes bedeutend abflauen lässt. Zu unserer Entmutigung tragen auch die
Hirten bei. Aus Übermut werfen sie im Herbst die etwa fünf Meter lange Doppelkurbel
unserer Winde in den Schacht.
Erst zwei Jahre später, am 29. Mai 1954, kommen wir wieder zum Schacht. Einen ganzen
Tag quälen wir uns mit dem Herausholen der Kurbel. Zwei Wochen darauf schaffen wir ein
120 Meter langes Stahlkabel zur Schachtmündung, das uns in Zukunft die Befahrung
bedeutend erleichtert und nach Benützung in einem verschlossenen Behälter auf der
Terrasse in zwölf Meter Tiefe zurückgelassen wird. Das Sicherungsseil ist jetzt überflüssig.
Und was uns am meisten freut: Jedes Mal werden wir vom anstrengenden Schleppen
Hunderter Meter Kletterseils enthoben. In den folgenden Wochen beschaffen wir Werkzeuge
und Lebensmittel. Die Terrasse im Schacht verwandelt sich nach und nach in ein stattliches
Vorratslager. Einige Meter hangabwärts von der Schachtmündung entsteht zwischen vier
Stämmen eine kleine mit Tannenreisig gedeckte Behausung, die ihrer originellen Lage
wegen den Namen „Viertannenhütte“ erhält.
Da wir keine Hilfskräfte für eine längere Zeitspanne finden können, brechen wir schließlich
zu dritt zum Schacht auf. Zwei Mann müssen jedoch die Doppelkurbel betätigen. Deshalb
bleibt für die Grabungsarbeiten in der Tiefe immer nur einer übrig. Meter um Meter graben
wir vom Schachtgrund weg und schaffen den Schutt in den geräumigen Parallelschacht.
Doch so sehr wir uns auch die ganze Woche hindurch abmühen, es gelingt uns nicht, die
Verschüttung zu durchstoßen. Selbst als wir am Wochenende Verstärkungen erhalten und
ein Großaufgebot von insgesamt fünf Leuten einfährt und die Grabungen einen ganzen Tag
fortsetzt, bleibt der Erfolg aus.
Auf der Heimfahrt beschließen wir, dem Schacht im folgenden Jahr mit einer
Grabungsexpedition zu Leibe zu rücken. Die Vorbereitungen für dieses großangelegte
Unternehmen beginnen bereits während des Winters.
Die Beschaffung der Hilfskräfte bereitet uns abermals Kopfzerbrechen. Außer uns Fanatikern
ist niemand bereit, seinen Urlaub mit „Zwangsarbeit“ unter der Erde zu verbringen. Erst
Anfang September gelingt es mir, einige frischgebackene Abiturienten für unseren Plan zu
begeistern.
Mit den Grabungen in der Tiefe kommen wir nur noch schwer voran. Der Schachtgrund ist so
verfestigt, dass wir dem Versturzmaterial nur mit Krampen beikommen können. Doch bei
jedem Hieb klingt der Boden dumpf und hohl. Das gibt uns Mut und Ausdauer. Um nicht mit
dem Schachtgrund in die Tiefe zu stürzen, seilen wir uns an. Aber angeseilt zu arbeiten, ist
die reinste Folter. Oft, wenn wir uns nach einem Stein bücken, um ihn wegzuschaffen,
schnürt uns das Seil die Brust zusammen und gibt um nichts in der Welt auch nur einen
Zentimeter nach.
Erst im nächsten Frühling kommen wir wieder zum Schacht und sind nicht wenig erstaunt,
die ganze Bergflanke vom Wald entblößt vorzufinden. Anfangs können wir die
Schachtmündung gar nicht finden. Sie ist verstopft. Entwurzelte und geknickte Bäume, Reste
der Kurbel und des Gerüstes, vermengt mit Erde und Felsstücken, bilden an dieser Stelle ein
undurchdringliches Gewirr. Dieses Vernichtungswerk einer Lawine beraubt uns der letzten
Begeisterung für Tiefenhöhlen. Mit einem Mal sind uns die unterirdischen Schindereien und
Strapazen leid. Wir stellen die Arbeiten für unbestimmte Zeit ein, und es vergehen mehr als
zehn Jahre, ehe wir uns zu einem neuen Abstieg entschließen, dieses Mal an einer anderen
Stelle.
Bei unserem Abstieg Ende Oktober 1967 benützten wir „hausgemachte“ Strickleitern mit
Sprossen aus Haselnussholz. Mein Freund und langjähriger Mitarbeiter Friedrich Thomas
und ich bilden den Stoßtrupp. Während von oben das Sicherungsseil langsam nachgleitet,
steigen wir von Sprosse zu Sprosse abwärts hinein in den Abgrund, in den nie ein
Sonnenstrahl dringt. Die Großräumigkeit des Schlundes, der sich nach unten hin noch
erweitert, lässt uns das Gefühl für Entfernung verlieren. In 25 Meter Tiefe erreichen wir eine
geräumige Terrasse, auf der uns ein Irrgarten aus gespießten Baumstämmen, Felsbrocken
und Erdreich erwartet. Vorsichtig tasten wir uns bis zu einer Stelle, die uns für den weiteren
Abstieg geeignet erscheint. Ich schlage einen Mauerhaken, um die Strickleiter daran zu
befestigen, da entdecke ich in derselben Felsritze ein verbogenes rostiges Ding. Ohne
besondere Anstrengung hole ich mit den fingern diesen Mauerhaken unserer Vorgänger aus
der Wand. Wir werden ihn sorgfältig aufbewahren, für uns hat er Museumswert.
Bald darauf vertrauen wir uns wieder der Strickleiter an. mein Gefährte folgt mir in kurzer
Entfernung. Sobald wir die Steinschwelle, auf der sich das Versturzmaterial gestaut hat,
zurückgelassen haben, umhüllt uns die Finsternis. Mit Karabinerringen kette ich die Enden
der Strickleitern zusammen, dann können wir unseren Abstieg entlang der dunklen, vom
Wasser und Steinschlag geprägten Felswände fortsetzen.
Plötzlich stehen meine Füße auf dem Gipfel eines Schuttkegels. Ich habe den Boden des
Abgrundes erreicht. Überall liegen Knochen abgestürzter Tiere. In seinem unteren Teil
erweitert sich der Schacht beträchtlich und mündet in einen großen Saal. Mächtige
Konglomeratfelstrümmer bedecken den Boden. An einer Stelle außerhalb des Streubereichs
der Steingeschosse, die auch jetzt noch immer durch die Luft schwirren, erwarte ich die
Ankunft meines Gefährten. Zusammen dringen wir in den Riesenraum, der seit über dreißig
Jahren nicht mehr von Menschen betreten wurde.
Während mein Freund die Tropfsteingebilde des Raumes, die offenbar zwei verschiedenen
Sintergenerationen angehören und auf Konglomeratfels gewachsen sind, im Bild festhält,
untersuche ich die Zwischenräume im Trümmerwerk auf Fortsetzungen in die Tiefe. Weiter
abwärts dürfte der Schacht bereits in die Kalkschichten des Königsteins eindringen. Kurz vor
unserem Aufbruch zur Oberfläche entdecken wir zwischen verkeilten Felsblöcken eine enge
Öffnung. Auf dem Bauch liegend schieben wir uns vorwärts. Ein Stück geht es geradeaus,
dann abwärts und wieder geradeaus. Und abermals stehen wir vor einer Öffnung. Der
Schlund, der sich nach unten hin glockenförmig erweitert, setzt unserem Vordringen ein
Ende. Ohne Seil gäbe es keine Rückkehr. Ein kühler Luftzug weht uns aus der Tiefe
entgegen. Es muss also eine Fortsetzung geben! Erst nach Mitternacht entsteigen wir, am
ganzen Körper dampfend, dem Schlund. Draußen erwartet uns klirrender Frost. Die meisten
unserer Mitarbeiter sind bereits zum Zeltplatz hinabgestiegen, um sich am mächtigen
Lagerfeuer zu wärmen. Schwer bepackt mit unseren Bürden streben nun auch wir in der
Dunkelheit den Berghang hinunter, dem Duft leckerer Gerichte folgend, die Nea Mircan,
unser Expeditionskoch, für uns in der heißen Asche am Rande des Feuers warmhält. Heute
gibt es drei Gänge, und von jedem warten Riesenportionen auf uns. Wir lassen sie uns
munden, sie sind redlich verdient. Wir sind zum Umfallen müde und trotzdem unsagbar
glücklich. Nun herrscht Gewissheit: Wir werden wiederkommen, besser ausgerüstet, den
Weg in die Tiefen, ins Innere des Königsteins, weiter zu erkunden.
(Verlag Neuer Weg, Bukarest - Komm Mit 77, S. 161 – 169)
Seite | Bildunterschrift |
---|---|
162 | Ausfahrt aus dem Vlăduşca-Schacht während der Arbeiten im Sommer 1952. |
164 – 165 | Südkamm des Königstein. Der weiße Kreis (o) bezeichnet die Lage des Grind- Schachtes, das Kreuz (x, auf der Wiese rechts vom Kreis), die des Expeditionslagers aus dem Jahre 1967. |
167 | Abstieg in den Grind-Schacht. |
168 | Die Mündung des Grind-Schachtes. Vorbereitungsarbeiten für den Abstieg. |