von Georg Hromadka
Es war (es ist schon lange her) auf unserer ersten Paring-Fahrt. In Hermannstadt waren wir aus dem Zug gestiegen. Über Răşinari, Onceşti, den Cindrel-Gipfel, die alten Finanzwachhäuser von Piatra Albă waren wir nach Obârşia Lotrului gekommen, wo damals noch der alte Ghişe in seinem Häuschen die durchreisenden Touristen aufnahm, mit Tschorba, Speck, Eiern und Schafkäse, nicht zuletzt auch mit Zuika, Weinbrand und Wein bewirtete und wo sich Abend für Abend Hirten von den umliegenden Bergen einfanden und im Herfeuerschein ihre phantastischen Bärenabenteuer zum besten gaben. Von Obârşia waren wir durchs Găuri-Tal zum Paringkamm aufgestiegen, den wir, den wir bei der 2302 Meter hohen Piatra Tăiată auch erreichten. Das Wetter war gut, oben aber blies ein scharfer Nordwest. Wir setzten uns in den Windschatten des Gipfels. Schweigend betrachteten wir den Gletscherkessel unter uns, aus dem ein Meerauge heraufblinzelte: der Zănoaga-Mare-See. Auf einmal: ein Fauchen über unsern Köpfen. Dicht an uns vorbei flog ein Adler. Da: noch ein Flügelrauschen. Und noch eins. Drei schwarzbraune Steinadler! Unheimlich nah schaukelten sie im Wind. Erst erschrocken, dann begeistert, hätten wir am liebsten aufgejauchzt. Wir verhielten uns still, um die Vögel nicht zu verscheuchen. Die aber kümmerten sich nicht um uns. Ein paar Kreise, und die drei Könige der Lüfte entschwanden in Richtung Gâlcescu. Es war unser schönstes Adlererlebnis. Und unser letztes.
Als wir in einem Nachkriegssommer im Retezat aus dem Lăpuşnic-Tal von der Lunca Berhina zum Drăgşan stiegen, an den Stănuleţi-Kalkfelsen vorbei, sichteten wir einen Mönchsgeier. Gerade hatte er sich, wenige Dutzend Meter über uns, auf einem blendendweißen Felszacken niedergelassen. Mit dem Fernglas brachten wir den prächtigen Kerl näher an uns heran. Er äugte nach links, nach rechts. Um zu sehen, wie er reagiert, riefen wir nach einiger Zeit zu ihm hinauf: „Mă, Ioane, mă..“ Nervös schüttelte er die dunkle Kutte. Soviel. Er dachte nicht daran, vom Felsen abzustoßen. Wir zogen weiter. Das war unser letzter Mönchsgeier im südlichen Retezat, der einstigen Heimat der großen Geier.
Im gleichen Jahr, aber im September, stapften wir von derselben Lunca Berhina zum Slăvei hinauf. Es war schon später Nachmittag, und wir sahen uns in den Latschen nach einem geeigneten Nachtlager um. Herbstesstille lag auf dem Gebirge. Da – ein Ruf, lang gezogen, klagend. Ein Mensch? Ein Tier? Ein Hund – um diese Jahreszeit? Ich ging dem Geheul nach. Schon hinter der ersten Biegung sah ich ihn, an einer „Ecke“ des Latschenkorridors: den Wolf. Der Arme sah elend aus. Seitdem die Herden zu Tal gezogen waren, muss bei ihm Schalhans Küchenmeister gewesen sein. Vor Hunger heulte er. Die Klage riss ab. Er hatte mich bemerkt. Wie ein ungeschickter Rekrut machte er steif kehrt – und verschwand in den Latschen.
Den Winter darauf feierten wir Silvester in der Crivaia (ein bekannter Name, seitdem der neue Franzdorfer Stausee sich vor der Hütte hinbreitet). Am Neujahrsmorgen spazierten wir im Bersautal hinauf zur Villa Klaus. Hoher Schnee bedeckte den Weg. Wir gingen hintereinander in einer schmalen Spur. Hintereinander: denn vor uns ging eine Katze. Die Katze des Waldhüters? Wir kamen näher an sie heran und sahen: eine Wildkatze. Sie war eher gelblichbraun als grau. Ein Weibchen also. Lässig zog sie den buschigen Schwanz hinter sich her – wie eine Schleppe. Warum sie so langsam dahinschlich? Sich gar nicht in acht nahm? Hatte sie zu gut gefrühstückt? Erst als sie die Böschung hinunter sprang und zweimal über die Umzäunung einer Baumschule setzte, konnten wir sie richtig bewundern: den schönen Bau, die Geschmeidigkeit. Wir liefen ihr nach. Als wir den eingefrorenen Fluss erreichten, war sie schon drüben im Wald verschwunden. Die Spuren ihrer Pranken waren im Schnee zu sehen. Niemand dachte daran, sie zu verfolgen.
Im vorigen Herbst traf ich im Minischtal (Banater Karst) einen alten Bauern,
einen Almaschaner. Er wartete auf den Autobus. Wir kamen ins Gespräch. Dass ich
mich in seiner Heimat auskannte, imponierte ihm sehr. Noch mehr gefiel ihm, dass
ich zu Fuß wanderte.
„So ist’s recht“, sagte er. „Nur wer den Wald und das Gebirge zu Fuß
durchstreift, erfährt, was das ist: ein Wald, ein Berg. Und was da drinnen und
droben alles kreucht und fleucht.“
Ich erzählte ihm von den hohen Karpatenmassiven, ihren Gämsen und Bären, von den
Bergen im Norden und ihrem Wildreichtum.
„Domnule“, sagte er, „ein Wald ohne Wild ist wie ein Dorf ohne Leute. In unserer
Gegend ist das Rotwild leider rar geworden. Man hat es zu wenig geschont. Aber
vielleicht erholt es sich bald wieder. Ja, das Reisen ist schön. Früher, als ich
noch gut zu Fuß war, da zog ich von Moceriş, wo ich zu Hause bin, nach
Reschitza, nach Orschowa, nach Moldowa, nach Orawitza – übers Gebirge. Damals
gab es die vielen Autobusse noch nicht. Meist ging ich allein. Aber nie war ich
einsam. Überall begegnete ich Lebewesen. Und wenn es nur der kleine Zaunkönig im
Gebüsch war oder die Eidechse, die über den Weg lief – immer hatte ich
Gesellschaft. Sogar mit schlimmen Hunden, die auf den Almen die Hütten und
Herden bewachen, vertrug ich mich. Glauben Sie mir, ich habe als erwachsener
Mensch keine Schlange mehr getötet. Nicht einmal die giftige Viper…“
Der Alte gefiel mir. Was er über die Schlangen sagte, deckte sich mit Brehm
genauso wie mit dem, was ein rumänischer Arzt, Dr. Dorin Speranţia, vor
wenigen Jahren in einer Touristenzeitschrift geschrieben hat: Die Viper beißt
nur, wenn sie sich angegriffen fühlt. (Lesen Sie den Beitrag
„Begegnung mit Schlangen“.)
„Orice vietate are rostul ei – jedes Lebewesen hat seinen Zweck, und wir
Menschen sollten nicht mehr vernichten, als zu unserer eigenen Erhaltung nötig
ist. Was wir darüber tun, schadet uns selbst.“
Der so sprach, war kein Weiser, sondern „nur“ ein kluger, erfahrener rumänischer
Bauer. Wir verabschiedeten uns voneinander wie gute alte Freunde.
(Verlag Neuer Weg, Bukarest - Komm Mit 71, S. 258 – 262)
Seite | Bildunterschrift |
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259 | Zahmes Reh in den Reschitzaer Bergen. |
260 |
Mit dieser jungen Katze hat es eine besondere Bewandnis: Sie wurde in der Pietrele-Hütte im Retezat von einer Hauskatze geboren. Im „kritischen Alter“ verließ sie das „Elternhaus“ und begab sich unter die Wildkatzen in den nahen Wäldern. Sie wurde noch ein-, zweimal gesehen, blieb dann aber für immer weg. Dass Hauskatzen in Waldnähe verwildern, kommt nicht selten vor. |