Ein „botanischer Garten“ auf der Scăriţa-Belioara
von Constantin Drăgulescu
Es gibt in Rumänien mehr als 150 Reservate: Pflanzen- und Tierschutzgebiete,
Naturschutzgebiete, die für Geologen und Paläontologen von besonderem Interesse sind,
solche, die ihren Status der einmaligen Landschaft verdanken; außerdem Forstreservate und
unter Naturschutz stehende Höhlen. Alle besitzen einen großen wissenschaftlichen und
ökologischen Wert, alle üben durch ihre Schönheit auf Naturfreunde eine starke
Anziehungskraft aus. Wir haben viele gesehen, doch kein Naturschutzgebiet konnte uns so
begeistern wie die Hochfläche Şesul Craiului. Schon der Name dieses botanischen
Naturschutzgebietes auf dem 1300 Meter hohen Plateau des Scăriţa-Belioara-Bergrückens
verrät, dass es nicht seinesgleichen hat. Wenn Sie sich selbst davon überzeugen wollen,
fahren Sie mit dem Auto oder mit der Schmalspurbahn im Arieş-Tal hinauf bis ins Dorf
Ocoliş. Von dort geht es weiter durchs Runcului-Tal bis nach Luna Largă. Entlang des
Belioara-Baches gelangen Sie sodann nach einer Stunde auf das so schöne Plateau.
Wer zum ersten Mal dort oben steht, ist bestimmt tief beeindruckt von der Landschaft: eine
farbenprächtige, leicht gewellte Ebene und als Kontrast dazu schroffe Kalksteinfelsen und
steile Felsabstürze in nächster Umgebung. Der Betrachter weiß nicht, was er zuerst
bewundern soll: die Landschaft, die geomorphologische Eigenart dieses Gebietes oder die
Farbenpracht der über 400 Blumenarten. Man ist überrascht, hier die Bärentraube
(Arctostaphylos uva ursi) zu entdecken, die in unserem Land nur noch im Norden, im Kreis
Suceava, zu finden ist. Neben der Nadelblättrigen Federnelke (Dianthus spiculifolius) und
einer Abart (var. integripetalus), die bloß im Bucegi-Gebirge noch anzutreffen ist, wächst
auch ein für dieses Gebirge spezifisches Hybrid einer Federnelke (Dianthus Julii-Wolfii), die
durch ihre blassrosa Blüten den zweiten „Elternteil“, die Steinnägelblume (Dianthus
saxigenus) verrät.
Eine andere endemische Pflanze ist das Felsen-Sonnenröschen (Helianthemum rupifragum
f. skericense) mit goldgelben Blüten. Typisch für die siebenbürgischen Westkarpaten ist auch
eine Akeleienart (Aquilegia subscaposa) mit großen blauen Blüten, die gleich nach dem
Verwelken des ebenso wirkungsvollen großblütigen Enzians (Gentiana clusii) blüht.
Tausende weiße Graslilien (Anthericum liliago), „arme“ Verwandte der Gartenlilie,
schmücken die Wiese, auf der hie und da auch eine noblere Vertreterin dieser Familie, der
Türkenbund (Lilium martagon) zu sehen ist.
Und dann die Pracht der verschiedenen Orchideen! Ihre bizarren Formen regen die
Phantasie des Wanderers zu wunderlichen Vergleichen an. Geflecktes Knabenkraut (Orchis
maculata), Holunder-Knabenkraut (Orchis sambucina), Brandknabenkraut (Orchis ustulata),
Rotes Kohlröschen (Nigritella rubra), Zweiblättriges Breitkölbchen (Platanthera bifolia),
Mücken-Nacktdrüse (Gymnadenia conopsea). Unter allen diesen Blumen fehlen die
Margerite (Chrysanthemum leucanthemum), das Gelbe Labkraut (Galium verum), die vielen
Glockenblumen (Campanula sp.) und das Orangerote Habichtskraut (Hieracium
aurantiacum) natürlich nicht. Sie sind eine Gewähr dafür, dass dieser bunte Teppich der
Natur auch künftigen Generationen erhalten werden wird.
Die Motzen (rumänische Bevölkerung der siebenbürgischen Westkarpaten) haben diese
Landschaft geschont, so wie sie jedes Fleckchen Erde, auf dem seltene Blumen wachsen,
schonen. Nach einer alten Überlieferung ist eine solche Stelle „ein Garten der Schönen“,
also der Feen, und wehe dem, der ihn betritt! Er wird erlahmen, verrückt werden oder sogar
sterben. Wir mussten unwillkürlich an diese Warnung der Vorfahren der heutigen Motzen
denken, als wir die Hochfläche Şesul Craiului betraten. Wir hegten den ehrgeizigen Wunsch,
einen ihrer wertvollsten Schätze, das Rosettige Leimkraut (Saponaria bellidifolia) zu finden,
das in den Bergen Frankreichs, Norditaliens und der Balkanhalbinsel vorkommt und erstmals
in Rumänien an dieser Stelle entdeckt worden ist. Wir erblickten es erst nach längerem
Suchen an einem Hang, zwischen Kalksteinen gut versteckt. Es ist an seinen blassgelben
Blüten zu erkennen. Daneben – oh Wunder! – wuchs eine Silberwurz (Dryas octopetala), die
eine voreiszeitliche Reliktpflanze ist.
Stundenlang verweilten wir inmitten dieser Pracht. Wir genossen die Vielfalt der Farben und
Formen der Pflanzen und atmeten tief die herrliche Luft ein, die dem Menschen Gesundheit
und ein langes Leben beschert.
Vor dem Abstieg erblickten wir an der Nordwand eines mächtigen Felsens das traurige
Gesicht einer jungen Frau – in den Stein gemeißelt von der begabten Hand der Natur. Da
kam uns die Geschichte des Mädchens Posaga in den Sinn, der schönen Tochter des
Goldsuchers Visalom.
Es wird erzählt, dass hier vor langer Zeit, als es den Posaga-Bach noch gar nicht gab, ein
Mann mit seiner Tochter lebte. Der Mann war Goldsucher, hieß Visalom und seine Tochter
Posaga. Diese hütete die Schafe vom Frühjahr bis zum Herbst, und wenn sie den Tulnik
blies, eine Art Alpenhorn, so waren die lieblichen und wundervollen Töne in allen
Gebirgsdörfern zu hören. Des Abends trafen die Mädchen des Dorfes zusammen,
unterhielten sich und sangen. Posaga sang schöner als jede andere, und sie war so stolz
darauf, dass sie eines Tages ihren Freundinnen versicherte, sie werde nur jenen Burschen
heiraten, der schöner singen könne als sie. So mancher hätte nun Posaga heiraten wollen,
denn sie war nicht nur schön, sondern auch geschickt und fleißig. Doch keiner konnte
schöner singen als sie. Unter den Bewerbern des Mädchens war Vidru der stattlichste. Er
versuchte, ihr Herz durch besondere Taten, die viel Mut und Geschicklichkeiten verlangten,
zu erobern. Posaga musste sich nach einiger Zeit tatsächlich eingestehen, dass ihr Vidru
gefiel. Aber sie war zu stolz, um das einmal Gesagte zurückzunehmen. So vergingen die
Jahre, die meisten Freundinnen heirateten und brachten Kinder zur Welt, bloß Posaga blieb
allein.
Ihr alter Vater sorgte sich um sie, weil ein Mann des Kaisers, namens Corban, immer mehr
Goldgruben an sich riss und so die Bergleute in Armut stürzte. „Ich bin alt“, sagte er, „und
kann dich nicht mehr beschützen.“
Eines Tages, während Posaga mit ihren Schafen durch den Wald zog, stand plötzlich eine
Frau in einem ganz sonderbaren Kleid aus bunten Blumen vor ihr. Sie beruhigte das vor
Angst zitternde Mädchen: „Ich bin die gute Fee der Berge und helfe den Bergleuten.“ Sie bat
Posaga, für sie auf dem Tulnik zu blasen. Das Mädchen erfüllte der Fee den Wunsch, und
die Töne, die sie hervorzauberte, waren so wundervoll, dass sie die Fee zu Tränen rührten.
Als Dank dafür schenkte sie dem Mädchen eine verzauberte Rute. Diese werde ihrem alten
Vater und den anderen Motzen zeigen, wo es reiche Goldvorkommen gibt, so dass sie
unabhängig vom bösen Corban Gold fördern könnten. Die Fee verschwand so plötzlich wie
sie aufgetaucht war. Dank der Zauberrute führten die Motzen nun ein besseres Leben.
Corban gefiel dies ganz und gar nicht. Doch versuchte er vergebens, das Geheimnis der
Motzen zu lüften. Schließlich wandte er sich an die Waldhexe Hârca, die zusammen mit
einer Eule und zehn tollwütigen Katzen in einer Baumhöhle hauste. Die Hexe streute
verschiedene Kräuter ins Feuer, und aus dem Rauch las sie das Geheimnis um die
Zauberrute. Um Corban zu helfen, reichte sie ihm einen Trank, der den hässlichen Mann in
einen schönen Jüngling verwandelte. Er werde tagsüber jung und schön sein und auf der
verzauberten Zither, die die Hexe ihm gab, wunderschön spielen können. Doch wohlgemerkt,
nur bei Tag. Sobald es dunkel werde, sei der ganze Zauber bis zum nächsten Morgen
vorbei. Corban hörte die frohe Botschaft, und schon am ersten Tag trat er vor Posaga. Diese
sah den fremden Jüngling anfangs misstrauisch an, doch freute sie sich über die schönen
Klänge, die er auf der Zither hervorbrachte. In kurzer Zeit gelang es Corban, das Vertrauen
des Mädchens zu gewinnen. Bald war er am Ziel seiner Wünsche angekommen: Posaga
wollte seine Frau werden und mit ihr würde er in den Besitz der Rute kommen!
Die Hochzeit fand statt, doch das Mahl zog sich so sehr in die Länge, dass Corban mit seiner
jungen Frau überstürzt aufbrechen musste, damit der Zauber nicht offenbar werde. Im
Herrschaftshaus angekommen, verwandelte sich der Mann in den hässlichen Corban, denn
es war inzwischen Abend geworden. Zu spät gab sich Posaga Rechenschaft, dass sie Opfer
eines Schwindels geworden war. Corban sperrte seine Jungfrau in einen schwer
zugänglichen Turm. Nun brauchte er sie nicht mehr, war doch die Zauberrute nun in seinem
Besitz.
Visalom und alle Motzen erfuhren nur zu bald, wie es Posaga ergangen war. Auch ihr Leben
änderte sich, denn Corban entdeckte die Goldgruben anhand der Zauberrute und riss sie alle
an sich.
Auf dem Totenbett nahm der Vater Visalom dem Jüngling Vidru das Versprechen ab,
Posaga zu befreien. Mit Hilfe der guten Fee gelang es diesem auch tatsächlich, den bösen
Mann und seine Leute zu töten und mit dem Mädchen zu fliehen. Doch die Waldhexe
verwandelte sich in eine Eule und folgte den beiden. Immer wieder zauberte sie ihnen neue
Hindernisse in den Weg, und bald war Vidru so erschöpft, dass er wie tot zur Erde sank. Er
brauchte dringend erquickendes Wasser, doch die verzweifelte Jungfrau konnte nirgends
eine Quelle entdecken. Da rief sie die gute Fee zu Hilfe. Diese erschien auch sofort und
vernahm Posagas Wunsch: „Ich bin schuld an allem. Nun ist auch mein Retter zu Tode
erschöpft. Rette ihn! Verwandle meine Tränen in ein Bächlein und lasse das frische Wasser
seine Wunden heilen. Heiße das Bächlein alles wegschwemmen, was an diesen bösen
Corban erinnert.“
Plötzlich erstarrte das Mädchen zu einem riesigen Felsen und aus den Tränen entsprang ein
Bächlein. Das Bächlein erweckte Vidru zu neuem Leben und schwoll dann zu einem
reißenden Gebirgsbach an, der das Haus des Corban und den Turm, in dem Posaga
eingesperrt gewesen war, zum Einsturz brachte.
Vergebens hielt Vidru nach dem Mädchen Ausschau, doch da erblickte er den Felsen mit
Posagas Antlitz und wusste nun, dass sie ihre Unüberlegtheit und ihren Stolz bereut hat.
Auf der Scăriţa-Belioara, neben dem weinenden Mädchenantlitz aus Stein, gewinnt der
Wanderer den Eindruck, dass viel Freude von ihr ausgeht, heute und auch in ferner Zukunft.
(Verlag Neuer Weg, Bukarest - Komm Mit 90, S. 97 – 103)
Seite | Bildunterschrift |
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98 | Typische Westkarpaten-Landschaft. Im Hintergrund die Hochfläche Şesul Craiului. |
99 | Ein farbenprächtiger „botanischer Garten“ mit mehr als 400 Blumenarten ist das Plateau. Im bunten Teppich der Natur erkennt man auch die Purpurschwarze Flockenblume (rechts) und die zarte Glockenblume (links). |
103 | Blick aus Poşaga de Sus auf das Scăriţa-Belioara-Massiv. |