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Ruhige Fahrt in erholsamer Landschaft

Mărginimea Sibiului: Besuch bei Leuten, die oft nicht daheim sind

von Ewalt Zweier

Hier handelt es sich, genau genommen, um 18 Ortschaften, die sich vom Alttal, beginnend mit dem Dorf Boiţa, bis oberhalb des Mühlbachtals, abschließend mit Jina, der Riesengemeinde in 1000 Meter Höhe, fast wie eine Perlenkette aneinanderreihen. Von Boiţa bis Jina wären das etwa 80 Kilometer. Einige Siedlungen liegen aber in Seitentälern an Gebirgsbächen, die alle vom Cindrelgebirge herabfließen.
Diese 18 Ortschaften, von denen zehn verwaltungsmäßig den Rang von selbständigen Gemeinden haben, bilden die „Mărginimea Sibiului“. Das Gebiet stellt volkskundlich und auch in anderer Hinsicht eine Einheit dar. Es wurde auch „Marginea“, was deutsch Rand bedeutet, und „Mărginimea“, also Siedlungsgebiet der „Mărgineni“ (etwa: der Randbewohner), genannt. Um die Herkunft des geographischen Sammelnamens gab es eine wissenschaftliche Kontroverse. Mit dem Begriff „Mărginime“ sollte – so lautet die plausible Schlussfolgerung – markiert werden, dass die der Siedlungsrand am Fuße der Berge sei. Südlich davon, bis jenseits der Karpaten, gibt es keine Dörfer mehr. Und die „Mărgineni“ nennen sich heute selber so, sie sind stolz auf ihre Zugehörigkeit und auf ihre Besonderheiten. Als freie rumänische Gebirgsbauern, die überwiegend auf die Schafhaltung unter den schwierigsten Bedingungen der „Transhumanz“ angewiesen, also Wanderhirten waren, blicken sie auf eine Geschichte ihrer alten Dorfgemeinschaften zurück, die viele Härten und Entbehrungen aufweist, nun aber in den meisten Ortschaften und Höfen dieser Gegend in ansehnlichen Wohlstand eingemündet ist.
Die Mărginimea Sibiului ist zwar (noch) nicht ausgesprochenes Touristenland, obwohl hierfür gute Voraussetzungen bestünden. Die malerisch gelegenen Dörfer Sibiel und Fântânele sind als künftige Feriendörfer im Gespräch. Dafür aber ist die Gegend vielleicht umso attraktiver für jeden Urlauber, der sich ein ruhiges, zum Teil noch sehr traditionsgebundenes Landleben in den Bergen ansehen will.

Überlieferte und neue Lebensformen

Gewiss, die Zeit ist auch hier nicht stehengeblieben. Die jüngere Generation der Mărgineni, Menschen aus meist kinderreichen Familien, haben zwar als Siebenjährige schon gelernt, mit den Melkschafen in der Hürde umzugehen, sie konnten als Zehnjährige schon auf der Bergalm die Sense schwingen und auf bepacktem Esel bergauf zur „Coliba“ oder heim ins Dorf reiten. Dann aber haben viele von ihnen beruflich umgesattelt.
In Sălişte, der Großgemeinde, die lange Zeit Vorort mit Stuhlsgericht war, viel Handwerk hervorgebracht hat und heute noch als das geistige Zentrum der Mărginime anerkannt wird, steht zum Beispiel 25 Kilometer weit von Sibiu eine Taschnerei-Filiale des städtischen Leder- und Schuhwarenbetriebs mit über tausend Beschäftigten. Beste Handwerkertradition wird in Einzelwerkstätten und in Genossenschaften weitergereicht, aber die Fortsetzung des Gewerbes ist auch eine industrielle. Spezifische überlieferte Lebensformen besonderer Prägung bestehen weiter, jedoch die Elemente des Neuen bleiben nicht vor den Toren der Mărginime stehen. Tălmaciu z. B., die im Frühjahr 1989 in den Stadtrang aufgerückte Gemeinde, muss da bald ausgeklammert werden, wenn von typischer Mărginime die Rede ist, hat sie doch durch Industrie, Wohnblocks und verschiedene neue sozial-kulturelle Einrichtungen seit langem schon ein neues Antlitz bekommen.
Gehört dann die Tradition ins Museum? Die Frage ist abwegig. In wenigen landesteilen findet man noch so viel lebendige Tradition wie in den meisten Orten der Mărginime. Doch die der lokalen Initiative und der Unterstützung durch die Kreisbehörden zu verdankenden Dorfmuseen haben natürlich ihren Wert. In dieser Gegend sind es sechs an der Zahl (in Boiţa, Răşinari, Gura Râului, Sibiel, Sălişte und Galeş). Außerdem einige Gedenkhäuser.

Die Schätze, die Karin Frunzete betreut

Besuchen wir das reich bestückte Dorfmuseum in Răşinari. Es befindet sich in einer stillen Seitengasse der mit 6500 Einwohnern größten ländlichen Ortschaft des Kreises Sibiu. Das ehemalige Wohnhaus der Familie Barcianu wurde 1860 gebaut und rund 1930 aufgestockt. 60 Jahre alt sind auch die Tannen ringsum. Prof. Andrei Barcianu und Achil Barcianu, der für Rumänien in Südamerika in diplomatischen Diensten war, haben das Haus testamentarisch für den jetzigen Zweck dem Staat geschenkt. Der gelehrte Dr. Sava Popovici-Barcianu, gemeinsam mit Daniil Barcianu auch Verfasser der 1905 im Druck erschienenen rumänisch- deutschen und deutsch-rumänischen Wörterbücher, haben Ehrenplätze auf der langen Liste von historischen Persönlichkeiten, die in Răşinari geboren sind, ein Verzeichnis, an dessen Spitze der Name des bedeutenden rumänischen Dichters Octavian Goga gehört. Gleich beim Museumseingang das historische Foto von der Wahl Gogas zum Mitglied der Rumänischen Akademie in einer vom Gelehrten Nicolae Iorga präsidierten Sitzung. Dann das Bild des Militärarztes Ilarie Mitrea, der als Naturforscher und Ethnograph viel wertvolles Sammelgut aus Mexiko, Indonesien und Neuguinea mitgebracht hat.
In den fünf Ausstellungsräumen sind komplette Sammlungen zur Geschichte, Arbeits- und Wohnkultur, Ethnographie und Volkskunst des Ortes zu sehen. Außer spezifischen landwirtschaftlichen Geräten aus älteren Zeiten, dem auch heute noch eifrig benützten Heidelbeerkamm, den Werkzeugen für die Kerzenzieherei, Schmiede und Tischlerei, dem alten Webstuhl, Schmuckgegenständen, Holzschnitzereien usw. sind gewiss auch die buntbemalten Holzmöbel von Interesse, wobei auf einer 150 Jahre alten Mitgifttruhe der sächsische Einfluss in Farbgebung und Motiven auffällt. Unter dem alten Sennhüttenmobilar ein „Sessel“, der aus einem einzigen Holzstück herausgeschnitten wurde. Dann eine Truhe mit Geheimfach, erfunden von einem Wanderhirten. Übrigens stammen einige Objekte aus dem Banat, Mitbringsel der Schafhalter, die seit alten Zeiten mit ihren Herden regelmäßig zum Überwintern dorthin zogen. Etwa 20 Schafhalter aus Răşinari betreiben auch heute noch diese Transhumanz. In anderen Dörfern sind es mehr.
Der verblüffend originalgetreu angefertigten Kopie einer Urkunde auf Pergament ist zu entnehmen, dass Răşinari im Jahr 1204 schon bestanden hat. Karin Johanna Frunzete, die Museumsverwalterin, bewahrt dieses Dokument zusammen mit einem sehr großen Fotoalbum unter der Schiebeplatte eines ganz alten, für diese Gegend typischen Tisches auf. Nach einem Bild der etwa 50 Dorfältesten des Jahres 1912 folgen separat die älteren Frauen desselben Jahres, die Burschen, die Mädchen, alle in Volkstracht gekleidet, in die ernst und würdig nur in Schwarz und Weiß gehaltene Tracht der Bauern und Hirten aus der Mărginime.
Vier Radierungen des Graphikers Hans Hermann, der gerne hier weilte, fangen etwas von der intimen Atmosphäre des einstigen und auch heutigen Dorflebens ein. Die ausgestellte Gebrauchskeramik ist siebenbürgischer Herkunft – in der Mărginime selbst hat es keine kunstvoll arbeitenden Töpfer gegeben –, ebenso ein wunderschöner, 1789 datierter Kachelofen, den die alte Frau Barcianu selber zusammengebaut haben soll.
Es darf nicht unsere Absicht sein, hier ein Inventar dieses sehenswerten Museums auszubreiten. Karin Frunzete zeigt und erläutert alles bereitwillig in rumänischer, englischer, deutscher und französischer Sprache. Als gebürtige Heltauerin beherrscht sie natürlich auch die sächsische Mundart. Das noch sehr lebendige Kürschnerhandwerk, nämlich die bunte Lederstickerei auf Trachtenstücken, hat sie von ihren Schwiegereltern, dem 75-jährigen Ion Omotă und seiner Frau Ana, erlernt. Im Hof mit der Nummer 306 kann man den beiden Alten, die bei Schönwetter am liebsten in der offenen Scheune prachtvolle Stücke für den Verkauf im Bukarester Dorfmuseum und in Sibiu, im Museum für bäuerliches Gewerbe im Jungen Wald, zum schon traditionellen Handwerkermarkt Mitte August herstellen, gerne bei der Arbeit zusehen.

Naive Malerei und bunte Kürschnerarbeit

Dieselbe Scheune, vor deren einer Wand das geschnittene und gespaltene Brennholz für den nächsten Winter schön gestapelt ist, bevorzugt als Quasi-Atelier auch Vasile Frunzete (47), Sohn der Ana Omotă, der sich als „Naiver“ in Rumänien und auch im Ausland bereits einen Namen gemacht hat. In einer in Belgrad erschienenen „Enzyklopädie der naiven Künstler“ ist er mit Kurzbiographie und Reproduktion eines seiner Bilder neben Hunderten Künstlern dieser Art aus der ganzen Welt enthalten. Für seine naive Kunst, das sind Malereien auf Glas und auf Holz, schöpft er, der im Hauptberuf Hydrologe ist, aus der lokalen Folklore, aus der vaterländischen Geschichte und aus der Mythologie.
Seit 1959 (damals war er 17!) hat Vasile Frunzete an sämtlichen Biennalen der Amateurkünstler in Sibiu und an vielen Kollektivausstellungen im Land teilgenommen. Persönliche Ausstellungen hatte er inzwischen in mindestens 30 Ortschaften des Inlands, in den Meereskurorten, auf der Schulerau und auf der Hohen Rinne. Ab 1977 wurden seine Arbeiten auch im Ausland gezeigt: in Bulgarien, Ungarn, Schweden, Portugal, der Bundesrepublik Deutschland, der Sowjetunion und der Schweiz, in Kanada und den USA, in Ägypten. Persönliche Ausstellungen hatte er wiederholte Male auch in Polen und in der DDR.
Was er malt, „ist eine Welt zwischen Wirklichkeit und Phantasie, der er Fabelwert verleiht... eine Fabelwelt, welche ihren Ursprung im reichen Schatz der Märchen, Legenden und Volksbräuche hat“, schreibt Rodica Irimie-Fota in der Zeitschrift „Transilvania“. An seiner naiven Kunst wirkt alles authentisch, entstanden in der reinen Atmosphäre und Ausgeglichenheit des Hirtendorfes.
Doch verlassen wir nicht den gastlichen und empfehlenswerten Hof, in dem sich nun auch die munteren Enkelkinder Andreas und Maryann Johanna tummeln, ehe wir nicht auch die, wie Karin Frunzete sagt, „erste Kürschnerarbeit mit sächsischen Motiven, in Răşinari gefertigt“ betrachtet, ja bewundert haben. Die Stickerei auf dem Leibchen aus fein gegerbtem, beinahe leuchtend-weißem Lammfell passt in der Farbgebung zu den Trachtenpelzen der Gegend. Und dennoch wird der Kenner stutzen. Man wird an Urweger sächsische Lederstickereien aus dem Unterwald erinnert. An diesem Beispiel wird deutlich, wie das in Siebenbürgen entstandene Volksgut der Rumänen und Sachsen sich gegenseitig beeinflusst hat, welche Ähnlichkeiten da bestehen.
Touristisch interessant ist Răşinari schon als die einzige Transitortschaft auf dem 32 Kilometer langen Asphaltweg zur Hohen Rinne, zum Kurort Păltiniş, dem höchstgelegenen mit Dauerbetrieb in Rumänien. Für einen mehrstündigen Zwischenaufenthalt in der Gemeinde möchten wir außer dem Bisherigen noch das Geburts- und Gedenkhaus des Dichters Octavian Goga empfehlen sowie die Besichtigung der eindrucksvollen Kulturbauten im Zentrum der Gemeinde, die sich auch mit den allerdings nur noch wenigen schindelgedeckten blauen Wohnhäuschen mit den winzigen Fenstern ganz gut vertragen.

„Bocca del Rio – so warm und italisch“

Ein nächstes Ziel könnte Gura Râului sein, die erste Siedlung, die der Zibin nach seiner Vereinigung aus dem Râul Mare und dem Râul Mic, und nachdem er ein etwa 2 Kilometer langer Stausee mit bis zu 13 Millionen Kubikmeter Trinkwasser für Sibiu war, erreicht bzw. durchfließt. Das Dorf selbst dehnt sich entlang des Baches auf der Hauptstraße gut 6 – 7 Kilometer aus, um dann an seinem unteren Ende mit der industrialisierten Gemeinde Orlat (Wolldecken- und Tuchfabrik, Sägewerk, Knopffabrik) beinahe zusammenzuwachsen.
Wir erreichen Gura Râului von Răşinari kommend, über die Stadt oder, besser noch, über das Ştezii-Tal (malerische Zelt- und Bademöglichkeiten entlang des Gebirgsbachs, allerdings zuweilen auch in Konkurrenz mit der wiederkäuenden Schwarzbüffelherde, deren Mitglieder sich gerne in marginalen Schlammwannen suhlen), vorbei an der Schutzhütte mit Campinghäuschen „Curmătura“, die Serpentinen der 1971 kunstvoll befestigten und modernisierten Gebirgsstraße im Föhrenwald hinauf und dann von einem Sattel aus, wo man eine Rundblick-Verschnaufpause einlegen kann, knapp 5 Kilometer auf guter Straße oder 3 Kilometer auf steilem abkürzendem Fußpfad nach rechts hinunter.
Der Dichter und Philosoph Lucian Blaga hat Gura Râului poetisch „Gura raiului“ (Himmelspforte) genannt und an einer anderen Stelle seiner essayistischen Schriften „Bocca del Rio“ („...es ist irgendwie warm und italisch in Bocca del Rio, aber auch so unsagbar rumänisch, um eben das zu bleiben, was es ist: Gura Râului“). George Coşbucs bekannte Gedichte „Iarna pe uliţă“ und „Nunta Zamfirei“ sind hier entstanden. Mihai Eminescu erwähnt seinen hiesigen Aufenthalt.
Wieder sind es einfache Schafhalter und Waldarbeiter, die das Andenken eines hier geborenen und in Wien zu Doktorwürden gelangten Arztes ehren: Ion Arseniu. Gura Râului ehrt seine Lehrer, unter ihnen der vor 100 Jahren geborene Nicolae Hanzu, auf dessen Anregung der später landesweit bekannt gewordene Dorfchor entstanden ist. Zu den noch lebenden Söhnen der Gemeinde gehören Wirtschaftsfachleute und Hochschulprofessoren, die in der Hauptstadt und in anderen Zentren des Landes tätig sind.
Ob nun die Wiege dieser und anderer Persönlichkeiten hier stand oder ob ihre Beziehungen zu Gura Râului späteren Datums waren und sind, wie sollte man sich hier nicht wohlfühlen? Das Dorf atmet mehr noch vielleicht als andere Ortschaften der Mărginimea Sibiului die eigenartige Atmosphäre dieses Landstrichs, ausgeprägt in einer unverwechselbaren kulturellen Art. Schon das Kirchlein von dem auf einer aus dem 19. Jahrhundert stammenden Holztafel behauptet wird, dass es auf einer Gründung des Jahres 1202 basiert, wird wegen seiner zum Teil sehr alten und besonderen Fresken als ein wertvolles Baudenkmal eingeschätzt. Damit wäre Gura Râului auch die älteste Siedlung der Mărginime, um zwei Jahre früher datierbar als das große Răşinari.
Durchaus sehenswert ist das in drei Räumen am I. Stock des Kulturheims untergebrachte Dorfmuseum. Und dem erwähnten Chor, der schon viele I. Preise im Wettbewerb auf Landesebene erworben hat, zuzuhören – ein Genuss. Im Herbst und im Winter oder bei einem der Treffen der „Fiii satului“, der Söhne des Dorfes, ist das gut möglich. Heute ist der pensionierte Biologielehrer und ehemalige Bürgermeister Vasile Triştiu, er selber ein Sohn der Gemeinde, als Chorleiter ebenso mit Leib und Seele dabei wie seine Vorgänger, der Lehrer Nicolae Hanzu, die Lehrerin Florica Hanzu-Ştefănescu und die anderen, ist er doch auch einer von jenen, die schon seit 40 und mehr Jahren dieser Singgemeinschaft angehören.
Dieselbe Freundlichkeit, die auch Lucian Blaga empfunden hat, begegnet dir heute in den Gassen der Gemeinde, selbst wenn du zum ersten Mal ihr Gast bist. Hier grüßt jeder jeden, auch den Unbekannten. Vorschusswärme strahlen die fertig geschlichteten Holzstapel aus, die in jedem Hof mindestens eine Hauswand verkleiden. Herzenswärme mag wohl auf vieles abfärben, was in diesem echten rumänischen Gebirgsdorf geschieht.

Sălişte, das geistige Zentrum

Wenn wir, im Einklang mit anderen Besuchern, schon bisher mit Superlativen der Bewunderung für Land und Leute in der Mărginime nicht gespart haben – in Sălişte, jener „Magna Villa Valacorum“, von der erstmals in Urkunden der Jahre 1354 und 1366 die Rede ist, häufen sie sich erneut. Die stolzen Bewohner dieses Landstrichs verstehen es, damit aufzuarten. Nicolae Iorga, der große Historiker, nannte Sălişte „die Perle Transsilvaniens“, der Dichter Octavian Goga verleiht dem Ort das Epitet „Salonul Ardealului“. Solche schmeichelhafte Einschätzungen aus berufenem Munde wurden wohl am häufigsten zitiert, als im August 1978 Tausende Söhne der Gemeinde sich hier trafen. So zahlreichen Besuch wie an jenem Samstag und Sonntag hatte die Gemeinde nie vorher gehabt. Ein lebendiger Beweis war das gleichzeitig dafür, wie viele gebürtige „Sălişteni“ im Laufe der Zeit ausgeschwärmt sind und wie viele von ihnen überall im Land es durch ihre Tüchtigkeit sehr weit gebracht haben. In seinem Buch „Roiri săliştene“ verfolgt Axente Banciu den Lebensweg vieler seiner Landsleute, die, meist aus kinderreichen Familien stammend, ihre Bergheimat verließen und andernorts berühmt wurden.
Acht Mitglieder der Rumänischen Akademie hat Sălişte hervorgebracht. Nennen wir die bedeutendsten: Ioan Lupaş, Historiker, Ioan Moga, Geograph, Andrei Oţetea, Historiker, D. D. Roşca, Philosoph von europäischem Rang und Übersetzer des Gesamtwerks von Hegel, Onisifor Ghibu, Pädagoge und Neuordner des Bukarester Hochschulwesens nach 1918, Ionel S. Pavel, Arzt. Sohn dieser Gemeinde war auch Dumitru Marcu, der in Fachkreisen als der „Vater des rumänischen Spanbetons“ gilt.

Auf zur Poiana Soarelui der „Sonnenalm“!

Eine verwaltungsmäßig zur Großgemeinde Sălişte gehörende Sehenswürdigkeit darf hier nicht unerwähnt bleiben: die sehr wertvolle Ikonensammlung von Sibiel, dem malerisch gelegenen Gebirgsdorf, das vom Frühjahr bis zum Spätherbst häufiges Ziel der Ausflügler von Sibiu, Sebeş und von weither ist, Ausgangspunkt auch zu angenehmen Wandertouren auf den Crinţ und zur Schutzhütte Fântânele oder über Duş, Padina Rudarilor, Strâmba und Foltea zum Cindrel und zu den beiden Gletscherseen Iezerul Mare und Iezerul Mic im Quellgebiet des Zibin.
Den Crinţ, eine mit vereinzelt stehenden Riesentannen prachtvolle Landschaft in etwa 1200 Meter Höhe, kann man auch auf der alten Straße von Sălişte aus erreichen. Nach 6 Kilometern gewundenen Waldweg, für Autos gut befahrbar, befindet man sich zunächst auf der in neuerer Zeit „Poiana Soarelui“ (Sonnenalm) benannten offenen Bergwiese, auf welcher einen bereits 70 in die Landschaft gestellte monumentale Plastiken aus Eichenholz empfangen. Dies ist vielleicht die herausragendste kulturelle Einrichtung jüngeren Datums. Alljährlich im Spätsommer treffen sich seit 1981 – nur einmal ist das ausgeblieben – je zehn namhafte Bildhauer aus dem ganzen Land auf der Poiana Soarelui, dieser einzigartigen Werkstätte unter freiem Himmel, mit dem Fremdwort in der Fachwelt Pleinair genannt. Das Künstlerlager wurde für eine zehnmalige Wiederholung konzipiert. Neben dem Bukarester Arghira Călinescu, Nicolae Ivan (Iaşi), Marcel Voinea (Craiova), Ion Russu (Cluj-Napoca), Gheorghe Taraşcenco (Galaţi), Gavrilă Abrihan (Sibiu) usw. werden noch andere, überwiegend junge Künstler, Gelegenheit haben, die Werke ihrer Phantasie hier in die Landschaft zu stellen.
Einer der Initiatoren und Förderer ist der gewesene Bürgermeister, Toma Lupaş, jetzt Vorsitzender der Genossenschaft für Warenproduktion, -ankauf und –absatz der Gemeinde. Ihm obliegt es nun auch, das Investobjekt für 1989 / 90 voranzutreiben, denn die gegenwärtig verfügbaren 37 Unterkunftsplätze der genossenschaftlich betriebenen Schutzhütte „Poiana Soarelui“ sind unzureichend. Da sollen gleich mehrere Campinghäuschen daneben gestellt und eine schöne Terrasse für die hier eine Rast einschaltenden Gäste eingerichtet werden.

Junger Kürschner ruft zur Hora Mare

Auf einer im Dezember 1988 aufgezeichneten Videokassette sahen wir einen farbigen Bild- und Tonbericht vom „Întîlnirea Jocurilor“ (Begegnung der Tänze) genannten Volksfest mit alter Tradition. In jedem Jahr lädt der jeweils neugewählte Anführer der Burschen (Junii) von Sălişte sämtliche „Cete ale junilor“ (Burschenscharen) aus den Dörfern von Sadu bis Jina für den 28. Dezember zum großen Treffpunkt nach Sălişte ein. Diesmal hatten die 33 mit ihren Partnerinnen in der schönen schwarzweißen Ortstracht aufmarschierenden Burschen den jungen Kürschner Ioan Cunţan zum „Judele-gazdă“ (eine Bezeichnung, die vom lateinischen iudex = Richter abzuleiten ist) erkoren. Er war es dann, der als souveräner Zeremonienmeister vom Podium in freier Rede Sinn und Wert des Festes umriss, danach die Vertreter der anderen „Cete“ einzeln zum Grußwort aufrief – jeder erschien mit seiner bemalten und mit Wein gefüllten „Ploscă“ (Holzflasche) am Handgelenk – und schließlich alle Gäste auf der „Piaţa Junilor“ von Sălişte, dem größten Marktplatz in der ganzen Mărginimea Sibiului, zur „Hora Mare“, der großen Hora, einlud. Ernst und würdig leitet der junge Mann, ein Vertreter des in der Familie vererbten Handwerks, das Geschehen auf dem großen Fest, über dessen einzelne Momente und Bedeutungen noch manches zu sagen wäre.
Ioan Cunţan und sein Vater sind angesehene Kürschner. Sie sind nicht die einzigen Vertreter ihrer Zunft in Sălişte, der Gemeinde, in der als erster in diesem Raum das Handwerk zu Erwerbszwecken Fuß fassen konnte. Dies geschah sogar zum Nachteil der Schafzucht, die allmählich zugunsten von Handwerk und Handel zurückging. Hier wurden auch die ersten rumänischen Zünfte gebildet, die sich 1882 in der „Reuniunea meseriaşilor“ vereinigten. Zur Ausbildung schickte man anfangs Lehrjungen nach Blaj. Das waren Gerber, Lederer, Riemer, Kürschner, später auch Tischler, Zimmerleute, Schneider, Schuster usw. Gleichzeitig verschafften viele Händler, die ihre Geschäftsläden auf dem großen Markt von Sălişte aneinanderreihten, dem Ort den Rang eines Marktfleckens. Diese Häuser mit ihren Läden prägen auch heute noch das Aussehen des Gemeindezentrums.

Es klappert die Mühle...

Ein Gewerbe, das so gut wie ausgestorben war, nun aber wieder im Kommen ist: die dörfliche Wassermühle. Es gibt davon ein Dutzend in der Mărginime. In Galeş, dem zu Sălişte gehörenden Dorf, hält Dumitru Mănig seine im Jahr 1962 abgestellte Mühle seit drei Jahren wieder in Betrieb. Der „Treibstoff“ aus dem Mühlkanal kostet nichts, der Müller ist energetisch unabhängig. Maismehl und Schrotfutter lassen sich die Leute in der alten Wassermühle bereiten und sie bezahlen die Maut in natura. Im Deckenbalken der Mühle ist die Jahreszahl 1884 eingeritzt, nach 105 Jahren also ist sie noch immer flott. Um wieder feines Weizenmehl zu mahlen, müssten die alten Steine noch zurechtgeschliffen und einiges am „Werkel“ repariert werden. Aber der kräftige Müller versteht sich darauf. Er ist übrigens bei der Wasserleitungspumpe für das 8 Kilometer weite Motel „Aciliu“ an der Europastraße als Mechaniker angestellt.
Das Tannenharzsammeln, die Imkerei, die Bienenwachsverwertung, das wären noch einige andere Nebenbeschäftigungen der Mărgineni. Je weiter wir auf der Straße von Sălişte nach Jina bergauf fahren, desto mehr ist die Viehzucht und besonders die Schafzucht der Haupterwerb geblieben.
Gleich nach Galeş verengt sich das Tal. Steile Felsen drohen auf die Straße herabzustürzen. Keine 300 Meter weit vom letzten Haus der Großgemeinde Sălişte/Galeş beginnt schon eine neue Siedlung Tilişca, ein typisches rumänisches Gebirgsdorf Siebenbürgens. In der in Ypsilon-Form auf nur insgesamt 42 Hektar angelegten Gemeinde mit über 1500 Einwohnern war und ist die Transhumanz am prägnantesten vertreten. Mit ihren Schafherden sind die „Tilişani“ am allerweitesten gewandert. Nicht nur bis ins Banat oder in die Dobrudscha, sondern in früheren Zeiten auch auf die Halbinsel Krim und in den Kaukasus. Vor dem Ersten Weltkrieg sollen mindestens ein Viertel der Hirten von Tilişca bis dorthin gewandert sein. Wohlgemerkt: zu Fuß! 15 – 25 Kilometer pro Tag!

Kaum mehr ein Schindeldach

Ein Gehöft, wie man es in Tilişca zerlegt und im Bukarester „Museum des Dorfes“ originalgetreu wiederaufgebaut hat, ist hier heute schon eine Rarität. Nur wenige der alten, spitzgiebeligen Holzhäuser mit Schindeldach existieren noch. Die anderen wurden abgetragen. Auf derselben engen Baufläche – wobei jeder Quadratmeter so kostbar ist, dass ein Begleiter von „japanischen Verhältnissen“ sprach – wurden sie durch Neubauten ersetzt: schmucke, platzsparende ein- und zweistöckige Wohnhäuser, manche mit buntem Kachelmosaik an der Fassade. Die Tore, fast alle relativ mächtig und mit geometrischen Formen als Verzierung, sind aus massivem Holz. Was dahinterliegt, bleibt unsichtbar. Das Hoftor soll auch hier wie ein Statussymbol wirken. Man wetteifert mit dem Nachbarn, wer wohl das schönste hat. Dabei sind heute schon die verschiedensten Stilelemente zugelassen.
Was man als Tourist hier gerne sucht und bewundert, das ist aber die Landschaft, das sind die sanften Hänge und geschützten Täler, die Berge ringsum mit den Almen und ihren „colibe“. 231 solcher Almgehöfte gehören allein zu Tilişca.
Steigt man aus dem Dorf rechts auf den Dealul Căţinaşului, so wird man nach etwa einer Viertelstunde eine echte Dakerburg besichtigen können. Auf dem Berg steil über der Gemeinde wurde sie vor 25 Jahren ausgegraben und die Ruine notdürftig konserviert. Es handelt sich um eine rund 2000 Jahre alte Behausungs- und Befestigungsanlage am strategisch wichtigen Luginsland, für deren Bewahrung vor beschleunigtem Verfall nun, nach der Freilegung aus schützendem Erdreich, noch einiges zu tun wäre.
Weiter auf Asphalt bergan. Kurze Rast bei einer der eingefassten Quellen am Straßenrand. Ein Karrenweg biegt da nach rechts ab und verschwindet gleich hinter einer Anhöhe. Kopfsteinpflaster macht uns neugierig. Und nach kaum hundert Metern versperrt ein niedriges, simples Brettertor die Weiterfahrt. Doch, siehe da: Wir befinden uns plötzlich schon in Rod, dem Dorf der Rinderzüchter, das sich auf der Ostseite in etwa 800 Meter Höhe an den Berg schmiegt. Mit dem Auto gelangen wir erst nach einigen Serpentinen ans andere Dorfende. Hier, am offenen Berg, herrschen nun schon die typischen geschlossenen und befestigten Gehöfte vor, obwohl die Siedlung noch immer ein Reihendorf ist.

Spezifisches in Jina

Dann folgen Poiana Sibiului, die Großgemeinde, die man auch „Hauptstadt der Schafhalter“ genannt hat – wir überlassen es anderen, sie zu beurteilen –, und schließlich, 54 Kilometer von Sibiu entfernt, das Endziel unserer Fahrt: Jina, die höchstgelegene kompakte Gemeinde Rumäniens, dort oben auf dem Hochplateau bzw. auf den sieben Hügeln. Ja, sieben Hügeln – auf einen sich anbietenden Vergleich mit Rom verweisen die „Jinari“ ganz gerne.
Vieles ließe sich auch über diese mit ihren 5000 Einwohnern imposante Siedlung sagen. Zumal es in der Mărginime von einer Ortschaft zur anderen keine identische Wiederholung derselben Formen gibt, bloß einige Gemeinsamkeiten im Wesen der Menschen, an ihrer Kleidung, ihrer Art zu sprechen und zu denken.
Im Ort trifft man meistens nur wenige Menschen an: Schulkinder, Frauen, Greise, Handelsleute und Beamte. Nur selten im Jahresablauf sind viele Ortsbewohner daheim, alle sind sie es niemals. Aber alljährlich, und zwar in der Regel am ersten Sonntag im August treffen sich auf dem riesigen Plateau oberhalb der Gemeinde Tausende auch von weither kommende Gäste zum Volksfest, das „Sus pe muntele din Jina“ (Droben auf dem Berg von Jina) heißt. Dies ist mehr als nur eine „Nedeea“ nach Hirtenart. Die Gäste stammen außer aus der Umgebung auch aus den entfernten Tochtersiedlungen der „Jinari“ von jenseits der Karpaten: aus Vaideeni und Băbeni (Kris Vâlcea), aus Novaci (Kreis Gorj), Corbii de Piatră und Oieşti-Ungureni im Kreis Argeş.
Aus der stets kinderreichen Gebirgsgemeinde Jina, die kein Ackerland besitzt, sind nämlich im 18. und 19. jahrhundert ganze Sippen abgewandert und haben jenseits der Berge, im rumänischen Altreich, die genannten Siedlungen gegründet. Ihre Volkstrachten sind die gleichen geblieben, streng in Schwarz und Weiß gehalten. Und die Dörfler tragen hüben und drüben weiter die engen weißen „cioareci“ (Beinkleider) und das runde schwarze Mocani- Hütle. Das Hütle tragen dort sogar die Mädchen. Zum Volksfest der „Muttergemeinde“ kommen sie regelmäßig. Sie freuen sich auf diese alljährliche Begegnung, bei der es auf einer großen Freilichtbühne ein reichliches künstlerisches Programm gibt.
Wird man nun gefragt, wann denn diese ruhige, erholsame Fahrt in die Mărginimea Sibiului am besten zu empfehlen sei, in welcher Jahreszeit, so möchte man Frühjahr, Sommer und Herbst gleichermaßen in Betracht ziehen. Die Farben des Herbstes dürften in dieser Landschaft verlockend sein. Die Junii-Folklore erlebt man in Sălişte am 28. Dezember, das große Hirtenfest in Jina Anfang August, manchmal auch, wenn die Heumahd früher war, schon am letzten Sonntag im Juli. Für eine Stippvisite in Răşinari und Umgebung kommt auf dem Weg zur Hohen Rinne auch die Skisaison in Frage. Wer aber Schafherden sehen will, der stelle sich aufs Frühjahr bis Anfang Mai oder auf den Spätherbst ein. Oder er nimmt weites Fußwandern mit in Kauf. In Jina, der Gemeinde mit rund 26.000 Schafen, haben wir im Juni kein einziges Schaf zu Gesicht bekommen.

(Verlag Neuer Weg, Bukarest - Komm Mit 90, S. 52 – 69)

Seite Bildunterschrift
 
53 Am schönsten ist die Landschaft vielleicht im Herbst.
55 Vormittags im Geburtsdorf von Octavian Goga. Die Frauen tragen im Sommer den Strohhut.
56 In stiller Seitengasse und von hohen Tannen umgeben, jedoch kaum 200 Meter weit von der Straße, die Sibiu mit dem Höhenkurort Păltiniş verbindet, ist das Dorfmuseum von Răşinari untergebracht. Innenansicht
57 In vierter Generation fertigt Ion Omotă die bunten Lederstickereien auf Trachtenstücken aus weißgegerbten Lammfell, er selber schon seit 60 Jahren.
59 Sălişte, Zentralpark. Die Pferde dürfen auf dem Rasen... grasen.
61 Poiana Soarelui, die „Sonnenalm“ bei Sălişte. 70 Skulpturen aus massivem Eichenholz haben sich nach sieben Sommerlagern der Bildhauer Rumäniens hier versammelt.
63 Von dem 91jährigen Dorfältesten von Jina, Luca Beşchiu, kann man allerlei erfahren. 1918 war er am 1. Dezember bei der großen Volksversammlung in Alba Iulia dabei.
65 Wassermühle in Galeş, schon über 100 Jahre alt und nicht als einzige im Gebiet der Mărginime wieder in Betrieb.
67 Tilişca, das zwischen steilen Fels- und Waldhängen typische Gebirgsdorf der Wanderhirten.
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