von Dr. Doris Kiekeben (Königs Wusterhausen)
Zum traditionellen Volksfest der Motzen, dem Mädchenmarkt auf dem Găina-Berg (1486 m),
waren wir leider eine Woche zu spät angereist, so dass unsere Wanderung auf den Berg
weniger durch turbulentes Treiben als vielmehr durch beschauliche Stille bestimmt war. Beim
Steinkreuz genossen wir den herrlichen Rundblick auf die umliegenden, bewaldeten
Höhenzüge, allen voran der höchste des Bihor, Cucurbăta Mare mit 1849 Metern. Auch ein
Philosophiestudent aus Jena, den wir beim Abstieg trafen, hätte sich heute mit seiner
Wandertruppe gerne durch das Alphornblasen der Motzenmädchen aus Avram Iancu
wecken lassen. Die Enttäuschung zu teilen, war ein kleiner Trost für ihn und für uns...
Unser eigentliches Bihor-Erlebnis begann damit, dass unser guter, alter Trabant bei jeder
kleinen Steigung alarmierend „klingelte“. Auch der Auspuff erzeugte Geräusche, die uns
nachdenklich stimmten. Deshalb beschlossen wir, das Gefährt unweit von Arieşeni bei einer
Touristenunterkunft abzustellen, denn bis Padiş, der Berghütte im Herzen des nördlichen
Bihor-Gebirges, sollte es noch ein gutes Wegstück bergauf und bergab gehen, und wir
hätten den nördlichen Teil des Bihor aus dem Arieştal kommend, im Halbkreis umfahren
müssen. Wer aber hinderte uns daran, mitten hinein zu schreiten?
Das Bihor-Gebirge hatte sich in unserer anfänglichen Vorstellung als ein Gebirge ähnlich
dem Thüringer Wald manifestiert, das sich leicht erwandern ließ, wobei wir dieser
Vorstellung noch zusätzlich einige Höhlen, Grotten und Karstgestein hinzufügten. In drei
Tagen sollte die Dolinenburg Cetăţile Ponorului, unser erklärtes Ziel, mit unserer 11jährigen
Tochter Franka nicht nur erreicht, sondern auch ausgiebig erwandert und studiert werden. In
Beiuş hatten wir uns einen eindrucksvollen Bildband über die Erforschung dieses
Karstgebildes durch Höhlenforscher gekauft. Dann ging’s los!
Von der Landstraße aus waren wir etwa 300 m steil bergan gestiegen, als wir bemerkten,
dass uns ein größerer Vierbeiner folgte, den wir offensichtlich mit Frühstücksresten gelockt
hatten. War es ein Isländer-Spitz? Jedenfalls besaß er eine gewisse Ähnlichkeit mit einem
jungen Eisbären und wirkte aufgrund seines wuschligen Fells und seiner langen, üppig
behaarten, nach oben gerollten Rute trotz seiner Größe sehr drollig. Er war noch jung, ließ
sich anfassen und kraulen und zeigte Bereitschaft zum Spielen und Toben. Tochter Franka
war begeistert...
Auf der Höhe angelangt, standen wir unvermittelt am Steilhang einer riesigen,
schluchtartigen Grube (Groapa Ruginoasa). Welch eigentümliches Phänomen im Karst! Von
Markierung keine Spur mehr, die Welt schien zu Ende. In die „Unterwelt“ wollten wir nicht
steigen und versuchten, den Steilhang rechts zu umgehen. Der Weg verlor sich im Gestrüpp,
doch unser Wanderhund Wuffi (so hatte ihn Franka genannt) keineswegs. Der Abstieg
linkerseits führte schließlich zu einer Wiese, auf der etwa 50 Pferde weideten. Ein alter Hirte
schickte seinen jungen Burschen nach Wasser für unsere Trinkflaschen.
Die zwei Hütehunde knurrten Wuffi bedrohlich an, sprangen nach dieser Warnung auf und
jagten den Eindringling aus dem Revier. Ich hoffte insgeheim, dass unser vierbeiniger
Begleiter nun doch des Wanderns müde sei und den Heimweg antreten würde...
Wuffi stromerte jedoch freudig herbei, als wir einen vom Hirten bezeichneten Sattel
ansteuerten. Es folgte der beachtliche Abstieg in die Talsohle des Ţigan-Baches, aus der es
dampfte wie aus einem Waschkessel. Die Luft war feucht und schwer, aus der Ferne klang
dumpfes Gewittergrollen. Eile war geboten. Gegen Abend erreichten wir endlich die
Talsohle. Unser Wuffi lag erschöpft hechelnd am Bach und verfolgte den Aufbau der
Zeltbehausung. Noch mehr interessierte ihn natürlich die Vorbereitung der Abendmahlzeit.
Eine Erkundung der Umgebung am nächsten Tag ergab, dass wir zur Poiana Florilor gelangt
waren, einer üppig blühenden Bergwiese, auf der sich die verschiedensten Wanderwege
kreuzen. Kein Wegweiser jedoch zu den „Cetăţile Ponorului“, unserem Wanderziel, das nach
der Wanderkarte eigentlich in greifbare Nähe gerückt sein musste. Wir entschlossen uns
daher aufgrund des fehlenden Kompasses, nach der Sonne zu wandern und gelangten in
nordwestlicher Richtung an einen zweiten „Abgrund“, den Galbena-Canon. Hier erwartete
Wuffi das erste unbezwingbare Hindernis – eine Eisenleiter, die, mit Bolzen am Fels
befestigt, den Einstieg in den Canon ermöglichte. Wuffi brachte laute Klagelaute hervor, lief
immer wieder zur Leiter, suchte nach einem Weg über den Fels, was schließlich mit unserer
Hilfe durch Umweg gelang. Es folgte ein schmaler Weg auf einer Felskante, und dann
standen wir vor einer schwankenden Hängebrücke, die im wesentlichen aus dicken
Stahlseilen bestand, die von einer Felswand zur gegenüberliegenden gespannt waren, wobei
die beiden unteren Seile die Anbringung von Holzlatten ermöglichten und die beiden oberen
Seile zum Festhalten dienten. Einige Holzsprossen fehlten. Drei bis vier Meter unterhalb der
Brücke ergossen sich rauschend die gleichsam aus dem nackten Felsen austretenden
Wassermassen in den Canon.
Den Abstieg in den Canon m anderen Ende der Hängebrücke ermöglichte wiederum eine
Eisenleiter. Dann folgte ein Balanceakt über glatte, schmierige Steine, bis man einigermaßen
trockenen Boden unter den Füßen hatte. Wuffi hatte also keine Chance. Franka weinte.
Eckhard zögerte, wollte noch einmal zurück. Da hörten wir sich nahendes Stimmengewirr.
Wuffi machte auf dem schmalen Felssteg der gegenüberliegenden Seite so gut es ging Platz
und sah traurig zu uns herüber. Zwei rumänische Familien mit Kindern unterschiedlichen
Alters passierten nicht ohne einigen Zögerns, aber mit ausgelassener Fröhlichkeit das über
dem Abgrund schwankende, brückenähnliche Gebilde, als letzter kam ein Familienvater mit
geschultertem Rucksack. Wir sahen erstaunt, dass dieser seinen Rucksack am
schwankenden Ende der Brücke abgelegt hatte und zurückgegangen war. Jetzt versuchte
er, Wuffi an den Vorderpfoten auf die Brücke zu ziehen. Der aber stemmte sich dagegen.
Kurzerhand nahm er das ängstliche, aber gutmütige Tier in beide Arme und trug es mit
schwankendem Schritt, balancesuchend vor sich her. Erst als er sich und das Tier durch die
Seile fädelte und es beim Hinuntersteigen mit einer Hand freigeben musste, zappelte Wuffi
mit Vorder- und Hinterläufen, bis er festen Boden unter den Pfoten spürte.
Franka liefen Freudentränen übers Gesicht, als Wuffi schwanzwedelnd an ihr hochsprang.
Welch ein Tag! Auch wir waren erleichtert und schüttelten seinem „Retter“ die Hand. Ein
Schreibgerät für den Austausch der Adressen fehlte, dafür nahmen wir eine
Geburtstagseinladung für den Abend auf der Poiana Florilor an. Wir erzählten von unserer
Absicht, heute noch zur Felsenburg Cetăţile Ponorului gehen zu wollen, ein Vorhaben, das
man uns mit gutgemeintem Rat auszureden verstand, denn es sollten noch sechs Stunden
anstrengender Wanderung mit Hund zurückzulegen sein...
So konnten wir uns viel Zeit nehmen für den herrlichen Blick vom Aussichtsfelsen in den
Galbena-Canon, aus dem gegenüberliegend eine riesige Steilwand aufragte.
(Verlag Neuer Weg, Bukarest - Komm Mit 90, S. 194 – 197)