In Bad Tuşnad die allabendliche Attraktion für groß und klein
von Ewalt Zweier
Wer möchte schon dem Bären, nämlich einem echten, einem in unseren Karpaten
beheimateten Braunbären in sogenannter freier Wildbahn begegnen? Ein Jäger vielleicht
oder ein Forscher, etwa der Mediascher Biologe und Bärenfilmer Peter Weber, der dann
auch gut weiß, wie er sich bei solcher Begegnung zu verhalten hat. Aber so, aus nächster
Nähe, beim Verdauungsspaziergang im Kurort? Nein, danke.
In Bad Tuşnad gibt es aber täglich das Publikumstreffen mit den frei umherlaufenden Bären.
Das geschieht an einem Ort, keine 50 Meter weit von der Bäckerei, wo die Semmeln und
Wecken gebacken werden. Zwischen diesem Platz unter den dem Wald zugekehrten
Fenstern und Balkons einer Urlaubervilla und der Hauptpromenade, die an der Konditorei
„Veveriţa“ (Eichhörnchen) vorbei zum modernen Kurpavillon führt, steht eine einzige
Häuserzeile. Und auf der oberen Allee promenieren mit Einbruch der Dunkelheit oft schon in
der Abenddämmerung die Bären familienweise.
Diese Tuschnader Bären sind eine Attraktion. Auf die Reporterfrage, was wohl den guten Ruf
dieses Kurortes ausmacht, spricht die Chefärztin, Dr. Ildiko Mathe, auch von einer intimen
Atmosphäre. Hat sie die vermeintliche Zutraulichkeit von Meister Petz mit einbezogen? Das
allabendliche Gratis-Spektakel, zu dem sich im Sommer Erwachsene und Kinder in großer
Anzahl einstellen? Ein Spektakel, das eigentlich spannender und kribbliger verläuft als eine
Zirkusvorstellung, zieht man in Betracht, dass da keinerlei Trennwand, kein Schutzstreifen
zwischen Mensch und Wildtier existiert. Es gibt bloß starkes Neonlicht für den traditionellen
Bärenfutterplatz neben einer an den bewaldeten steilen Berghang gelehnten Autogarage, auf
deren Dach sich dann Bärenbabys balgen. Dort reihen Väter und Großväter mit „örtlicher
Erfahrung“ (trotz der offiziellen Verbotstafeln, die kaum beachtet werden) Semmeln,
Brotstücke, Abfälle von der Kantinenkost, allerlei Leckerbissen vor Einbruch der Dunkelheit
auf und harren dann zusammen mit den vielen Zuschauern in stummer Erwartung der
vierbeinigen Abendgäste. Die lassen nicht lange auf sich warten, lugen alsbald aus dem
dichten Tann hervor, schnuppern unter den Bäumen nach links und nach rechts, gleiten mit
ihren schweren Körpern lautlos heran und futtern danach gleich drauflos. Man hatte ihr
Herannahen im Wald kaum hören können. Der Bär ist ein Leisetreter.
Wir gebrauchten den Plural. Ja, an einem Abend im Juli '88 haben wir binnen zwei Stunden
15 verschiedene Exemplare gezählt. An einem anderen Abend im Januar '89 waren es ihrer
neun. Januar? Erstaunt hatten wir zunächst dieselbe Frage gestellt. Tatsächlich haben fast
alle Braunbären im Tuschnader Revier – und dabei handelt es sich um eine übermäßig
zahlreiche Population – auf den Winterschlaf verzichtet, scheint ihre Fütterung doch
besonders während der Winterschulferien, wenn der Kurort von Hunderten Schülern im
Ferienlager bevölkert ist, gewissermaßen gesichert zu sein.
Also: die Bären. Da sind auch zwei oder drei Einzelgänger dabei. Die älteren Onkels. Aber
am attraktivsten sind natürlich die Bärenmütter mit ihren je zwei Jungen. Sie kommen nicht
alle gleichzeitig in den Lichtkegel. Während die eine, offenbar stärkere Bärin mit zwei
größeren Jungbären den Futterplatz belebt, muss die andere, die entlang der Gartenzäune
auf dem unter der Nobelvilla Nummer 17 („Zimbru“) vorbeiführenden Pfad herantrottet, mit
ihren zwei Pelzbabys in gehöriger Entfernung noch ein Weilchen warten. Respektvoll warten.
Die Zuschauer im Halbschatten – es dürften an jenem Abend 300 oder mehr gewesen sein,
wenn man die „Logensitze“ im Haus mit in Rechnung zieht, sogar 400 – schweigen gebannt.
Ihre „Kostgänger“ beachten sie kaum. Nur ab und zu ein misstrauischer Blick aus den
kleinen Augen der Bärin, die bis auf 5 Meter an das Menschenspalier herankommt. Nach
wem sie Ausschau hält? Hat sie ihre Bekannten im Publikum? Na ja, den grimmigen
Hausmeister vielleicht mit der Eisenstange. Den scheinen einige der nächtlichen Futtergäste
zu fürchten. Hat er doch schon manch einem „Moş Martin“, wie Meister Petz rumänisch im
Volksmund benannt wird, eins auf den Pelz gebrannt. Außerhalb der Touristensaison können
die Tuschnader Bären nämlich hübsch frech werden. Was wissen die auch von Saison? Die
wollen regelmäßig ihr Sonderfutter haben. Und wenn mal nichts ausgelegt wurde, dann sind
die Küchenfenster der Waldanrainer vor ihnen nicht sicher. Die ständig hier wohnenden
Leute können ein Lied davon singen.
Ansonsten besteht ein Gentleman’s Agreement zwischen Bären und Kurgästen. Noli me
tangere – rühr mich nicht an. Das gilt tagsüber auch auf dem Himbeerhang und auf dem
markierten Waldweg, der zum Sankt-Annen-See führt, sowieso. Und Hunderte
Urlauberkinder schlafen nur unter der Bedingung selig ein, dass man ihnen zuerst das
Bärenfütterungs-Schauspiel gönnt. Sie verleihen den kleinen und großen Bären auch die
verschiedensten Namen und wollen selber nichts essen, bevor sie nicht die Bärenportion an
Semmeln und anderem beiseitegelegt wissen.
Forstleute und Jäger, die Bürgermeisterin, das Touristenamt und die Miliz, sie alle schütteln
zu dem ganzen Drum und Dran seit langem schon den Kopf. So kann’s nicht bleiben. Einige
der allzu vielen Bären werden wohl ein bisschen eingeschläfert werden müssen, und per
Hubschrauber in andere Gegenden verfrachtet werden müssen, wo sie sich auf eigene Faust
ganz gut ernähren und frei bewegen können, ohne einander auf die Hühneraugen zu treten,
also in angemessener Populationszahl. Aber ganz beseitigen sollte man diese Attraktion von
Bad Tuşnad doch nicht.
(Verlag Neuer Weg, Bukarest - Komm Mit 90, S. 181 – 183)