von Walter Kargel
Erstaunt stelle ich fest, dass der Asphalt zu Ende ist und die Straße schlechter und
schlechter wird. Steile, steinige, kurze Serpentinen führen hinauf. Anhalten, ein Blick auf die
Karte: Wir liegen falsch. Zu früh waren wir nach Dej rechts abgebogen. Also dann nordwärts.
Wir überqueren einen Höhenzug, laut Karte: Culmea Brezei. Jenseits öffnet sich ein tiefes
Tal. Irgendwo auf dem gegenüberliegenden Hang halten wir an und rasten im Gras am
Wegessaum. Kaum zu fassen; es ist wie in einer Bilderbuchlandschaft: das weite, sonnige
Tal, Blumenwiesen, eine Büffelherde, eine Hirtin singt ein Volkslied, das wunderbar zum
Ganzen passt. Wer hatte da wohl Regie geführt? Welcher Bühnenbildner hat im Hintergrund
das Dorf mit den weit auseinander liegenden Höfen placiert? Dazu der schlanke Kirchturm
und in der Nähe am Straßenrand ein altes Mütterchen, das Wolle spinnt.
Das Land heißt Ţara Lăpuşului, der Fluss – Lăpuş, der Hauptort – Târgu Lăpuş, die Berge
Munţii Lăpuşului. Im Dorf Groşii Ţibleşului finden wir mit Leichtigkeit die Abzweigung der
Forststraße Valea Bradului („Tannental“). Wir befinden uns jetzt in einem richtigen
Gebirgstal, und da ist auch unser heutiges Ziel, das Forsthaus Zimbru. Auf die Wiese davor
stellen wir unser Zelt.
Kühl und taunass ist die Welt am nächsten Morgen, als wir uns aufmachen, den Ţibleş zu
erobern. Drei Kilometer Straße führen zum Ţibleş-Bergwerk, dort verlassen wir das Tal und
steigen steil zum Kamm empor, einer blauen Markierung folgend. Abseits liegt die Ţibleş-Alm
und ¾ Stunden später erreichen wir eine kleine, romantische unbewirtschaftete
Touristenunterkunft: Refugiul Arcer, 1400 m, steht auf dem Täfelchen über der halboffenen
Tür, drin eine Pritsche mit Tannenreisig. Im Osten erhebt sich das dreigipflige Hauptmassiv
Arcer, blauer Punkt, 1 ¼ Stunden; zum Ţibleş, blaues Band, 1 ½ Stunden. Wir wählen
natürlich den höchsten, den Arcer.
Anfangs geht es noch einem Kamm folgend durch Hochwald, dann wird der Kamm felsig und
schmal, fast eine leichte Kletterei mit einem Wändchen rechts und links, die Markierung ist
kaum sichtbar, Trittspuren sind kaum zu erkennen, dann wird es breiter, hohe Stufen führen
zum Gipfel, den wir in vier Stunden ab Forsthaus erreichen. Wacholder, kleine Fichten,
Heidel- und Preiselbeergesträuch bleiben zurück, zuletzt schreiten wir auf weich federnden
Moospölsterchen. Die Sicht ist unbegrenzt, unser Gipfel ist der höchste, Ţibleş und Bran sind
deutlich niedriger.
Zurück zum Forsthaus wieder vier Stunden, doch Caroline, 7, ist unvermindert munter, hüpft
herum und spielt mit ihrem neuen Freund Victor bis zur Abfahrt nach Baia Mare, das wir
noch am gleichen Abend erreichen. Unterwegs genießen wir die gleiche
Märchenbuchlandschaft mit dem schon fast an Kitsch grenzenden Sonnenuntergang. In
stockfinsterer Nacht stellen wir unser Zelt auf halbem Weg zum Gutâi-Pass auf. Morgen ist
Feiertag, wir haben laute, lustige Zeltnachbarn, die uns mit Volksmusik berieseln und zu Grill
und Bier am offenen Feuer einladen.
Eine knappe halbe Stunde über einen Fußweg durch den Wald, und wir erreichen die
Mogoşa-Hütte am Bodi-See, wo es auch einen Sessellift und im Winter eine Skiabfahrt gibt.
Am nächsten Morgen parken wir den Wagen vor der Şuior-Jugendherberge, um einen Trip
zur Creasta Cocoşului („Hahnenkamm“) zu unternehmen. Teils über die gepflasterte Straße,
teils über Abkürzungen, an einem Bergwerk, einem Steinbruch und einer Forellenzucht
vorbei, gelangen wir zur Poiana Boului („Ochsenwiese“) auf dem Gutâi-Hauptkamm.
Sprachlos vor Staunen sind wir, als wir mitten auf der Wiese einen alten
Eisenbahnpersonenwagen entdecken, eine einmalige Sache auf einem langen
Bergsteigerlebensweg, rund 30 km Bergstraße auf steilen Serpentinen vom nächsten
Eisenbahngleis entfernt, die letzten paar hundert Meter direkt über die Almmatten!
Am oberen Rand der Wiese stoßen wir auf den Kammweg mit der Markierung rotes Band,
der vom Berghotel Izvoare unweit des Igniş-Gipfels zum Gutâi-Gipfel führt, wobei der
Straßenpass Gutâi mit dem Gasthaus „Pintea Viteazul“ gequert wird, und vorbei am
„Hahnenkamm“.
Der Hahnenkamm ist ein Naturdenkmal, eine Skulptur aus Andesit, durch Vulkanausbrüche
entstanden, eigentlich nur der Pfropfen, der im Schlot erkaltete; der Schlot selbst fiel der
Witterung zum Opfer, während das harte Gestein der Zeit trotzte. Der Hahnenkamm steht als
geologische Reservation unter Naturschutz. Der weitere Weg führt ostwärts über Almwiesen
und durch Jungwaldpflanzen, wir begegnen auch Geländefahrzeugen. Bald erscheint vor
uns der Hahnenkamm, der quer zum Hauptkamm steht, auf einem hohen, bewaldeten
Sockel, weithin sichtbar und unverwechselbar, bekannt aus zahlreichen Fotos. Der letzte Teil
des Weges führt steil durch Wald eben diesen Sockel empor zu einem Sattel, 1429 m. Der
Gutâi-Gipfel, 1443 m, wird jetzt im Südosten sichtbar. Am Sattel lagern Touristen und
beobachten Bergsteiger, die in den Wänden klettern. Während sich Amalia und Caroline im
Gras mit einer Tafel Schokolade beschäftigen, klettere ich über den zackigen Felskamm bis
zu seinem nördlichen Ende, einem auffälligen Turm. Am Südwestwandfuß sind 16 Einstiege
zu den Kletterführen mit roter und weißer Farbe markiert; es soll jedoch etwa 30 Führen
geben.
Während die Südwestwand zum Klettern einladet, ist die Nordostwand mit dichter Vegetation
fast bis zum Kamm bestanden; Fichten, Bergweiden, Heidelbeeren, Preiselbeeren,
Wacholder. Im Norden fällt das Gebirge steil gegen das Maramureş-Land ab. Im
Vordergrund sind die kleinen Seen Tăul Cendroii und Tăul Morărenilor eingelagert, dahinter
erkennt man die Dörfer Mara, Deseşti und Breb. Zum Rückweg brauchen wir zwei Stunden,
dann stellen wir das Zelt in der Nähe der Jugendherberge Şuior auf.
Die nächsten Tage sind der Fahrt durch das Maramureş-Land gewidmet, ein alter Traum
geht in Erfüllung. Von Baia Mare geht es nach Negreşti-Oaş und durch die Dörfer des Oaş-
Landes mit ihren Frauen und Mädchen in traditionellen Mini-Röckchen, hinauf zum Huta-
Pass, jenseits hinab ins malerische Tal der Theiss, dann nach Săpânţa mit dem obligaten
Besuch des heiteren Friedhofs und dem Besichtigen der zum Verkauf ausgestellten
Wollsachen – Cergas (eigenartige haarige Decken), Pullover, Jacken, Strickmäntel.
Und weiter über Sighetul Marmaţiei ins Iza-Tal. Pannenbedingt übernachten wir bei
gastfreundlichen Bauern in Năneşti. Wir besuchen die berühmten Holzkirchen von Rozavlea
und Săliştea de Sus. (Beim Rückweg finden wir das Auto von Kindern umringt und mit
bunten Blumen geschmückt!)
Auf der Wasserscheide Iza/Wischau setzen wir uns ins Gras und vertilgen eine Melone,
bevor wir nach Borşa weiterfahren. Nach einem Abstecher zum Prislop-Pass wandern wir
zum Pietrosul im Rodna-Gebirge. Das Gebiet ist Naturschutzpark. Bis zur 1785 m hoch
gelegenen Wetterstation, der eine Jagdhütte zugesellt ist, führt ein breiter Karrenweg. Dann
ist man in einem Hochgebirgstal, Pietroasa, mit einem See (Iezer), Latschen, Gämsen und
Murmeltieren. Vom Talschluss führen 35 Serpentinen aus dem Kar zum Kamm, der anfangs
breit und grasbewachsen, zuletzt schmal und felsig und teils mit Stahlseilen abgesichert,
zum Gipfel leitet. (5 Stunden ab Borşa, blaues Band.) Der Pietrosul ist der höchste Gipfel
des Rodna-Gebirges (2303 m), doch steht er nicht am Hauptkamm, sondern auf einem
nördlichen Nebenkamm. Der Abstieg zurück nach Borşa erfordert etwa die gleiche Zeit wie
der Aufstieg.
Bei schönstem Wetter ist die Fahrt durch das Wischau-Tal ein Genuss. Ein Abstecher von
Vişeu de Sus ins Wasser-Tal mit Besteigung der Toroiaga (1930 m) ist mit Hilfe der
Schmalspurbahn („Kaffeemihl“) möglich. Ein weiterer Abstecher ins Maramureş-Gebirge
führt ab Leordina ins Reussen-Tal, wo es eine gute Landstraße gibt. Von Repedea ist eine
Besteigung der höchsten Gipfel, Farcău (1956 m) und Mihailecu (1918 m), möglich. Von
Sighetul Marmaţiei fahren wir zurück nach Baia Mare. Zuvor jedoch übernachten wir in
Berbeşti, wo wir das Zelt in einem Bauernhof aufstellen, und ein zweites Mal auf der
Passhöhe kurz vor Cavnic. Es war einfach zu schön, um die Strecke glatt durchzufahren: die
Märchenwiesen im Mara-Tal, die wohlhabenden Dörfer mit ihren triumphalen kunstvollen
Holztorhofeinfahrten, den Holzkirchen, den Holzhäusern mit buntgefärbten Wolldecken innen
tapeziert, die großartigen Holzschnitzereien am Straßenrand von Berbeşti, die
geschwungene Straße hinauf zum Netedapass und und und.
(Verlag Neuer Weg, Bukarest - Komm Mit 90, S. 136 – 143)
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139 | Kartenskizze: Creasta Cocoşului Südwestwand |
140 | Kartenskizze: Unsere Maramureş-Fahrt |