von Walter Kargel
„Das wär’s wohl, weiter geht’s nicht“, sagt Andreas resigniert. Ich machte noch schnell ein
Foto, wie Andreas dort oben in den Trittschlingen hing, dann holte er die Karabiner ein. Vom
letzten Haken seilte er ab und stand bald neben uns. Es war knapp um Mittag, wir hatten noch
Zeit für die „Schulter“, eine reine Genusskletterei, als Ausklang des Klettersonntags.
Sechzehn Jahre später.
Die ganze Woche hatte es geregnet und am Sonntagmorgen auch. Doch um 10 endlich
Sonne. Unter uns ein endloses, weißwogendes Wolkenmeer. Was machen wir nun? Für eine
„Grande Course“ ist es spät. Das Dach! Plötzlich war die Idee geboren. Eilig steigen wir die
Gălbenele-Rinne hoch und queren am Band unter das Dach. Radu schlägt zwei Standhaken,
dann kann’s losgehen. Frei klettere ich eine raue Platte hoch. Vom horizontalen Dach trennt
mich noch ein bauchiger Überhang. Andreas’ Haken stecken noch, zwei Fiechte-Haken, ein
Abseilhaken, dann Pause. Der nächste Haken steckt bereits im Dach, leider unerreichbar.
„Willst du’s versuchen?“ „Ja ich will.“ Ich seile ab, Radu nimmt meinen Platz ein, es gelingt
ihm, einen Zwischenhaken zu setzen. Eine Stunde später hängt er an Andreas’ letztem
Haken. Unsere Haken sind zu dick, wir brauchen dünne Messerhaken. Also zurück. Ein
Karabiner sucht das Weite, kling, kling, springt er von Absatz zu Absatz und verschwindet im
Nebel, der inzwischen aufgekommen ist. Endlich sind wir wieder auf sicherem Boden und zu
guter Letzt finden wir sogar den verlorenen Karabiner wieder.
Der nächste Sonntag. Die Berge stecken im Nebel, doch um 11 sind wir wieder am Einstieg.
Ich behänge mich mit Trittleitern, Schlingen, Karabiner, 15 Haken, 1 „Hakenfänger“
(Miniaturkarabiner), krabbele die Platte empor, halte mich an einem winzigen Griff, strecke
mich und schon schnappt der Karabiner in Andreas’ ersten Haken. Leiter hinein, Seil hinein,
der nächste Haken angeklettert, Karabiner, Leiter, Seil, der dritte, dann kommt Radus
Haken. Er warnt mich davor, doch siehe da, er hält. In Reichweite ist nun Andreas’ erster
Dachhaken, Leiter und Seil hinein und dann mit etwas Mut, den ich mir selbst zuspreche,
hinaus in die freie Luft. Andreas’ zweiter Haken folgt. Die beiden sind vertrauenerweckende
Querhaken, rostig, rotes Wasser rieselt an ihnen herab. Der dritte und letzte, ist ein dünner
Ringhaken, der Kopf ist krummgeschlagen, rostig und wackelig. Ich ziehe vorsichtig, und er
rutscht prompt heraus. Nur 15 Millimeter war er im Fels.
Mein Hakenfänger tritt in Aktion. Schlage meinen ersten Haken ins Dach, zwei Zentimeter
dringt er ein, er muss halten! Den zweiten. Er schaut noch schwächer aus, und ich wage
nicht, ihn voll zu belasten; schließlich benütze ich ihn jedoch als Griff zum Gleichgewicht-
Halten und schlage den dritten, es ist mein österreichischer „Stubai“-Haken, französische
Form. Er dringt singend bis zur Öse ein. Hätte auch länger sein können! Volle Belastung, er
hält. Der vierte. Jetzt ist es schon Routine: Ich sitze in zwei Trittleitern, die dritte ist frei,
griffbereit für den nächsten Haken. Mit der Linken halte ich mich an einem Haken und halte
dabei auch die Schnur mit dem Hakenfänger. Mit der Rechten stecke ich den Haken in den
Riss und klopfe dann mit dem Hammer behutsam drauf, zuletzt mit voller Kraft, doch der
Haken dringt nicht tiefer als 2 – 3 cm ein. Es muss auch so gehen. Der Dachrand ist noch
verzweifelnd weit, noch mindestens vier Haken entfernt. Eine bunte Schar Schaulustiger sitzt
im Gras beim Frühstück, zwei Mädchen in Shorts und drei Jungen. „Siehst du ihn jetzt?“
„Nein.“ „Dort links.“ (Einzelheiten). „Aha. Jetzt habe ich ihn.“
Für heute langt es. Wir brauchen noch einige ganz dünne Spachtelhaken. Haken für Haken
klettere ich zurück.
Eine Woche später geht das Spiel weiter. Diesmal haben wir klaren Himmel. Zu den
vorhandenen sechs schlage ich weitere sechs Haken ins Dach, die letzten zwei im zuletzt
ganz dünnen „zementierten“ Riss, dann schaue ich erstmals über den Rand des Daches! Ein
Grasbüschel behindert die Sicht. Mit Hilfe der langen Reepschnur hole ich von Radu die
letzten zwei dicken Ringhaken und bringe sie im Riss über dem Dachrand an. Zahlreiche
Zuschauer sehen interessiert zu. Wieder einmal haben wir nicht die richtigen Haken zur
Fortsetzung. Nichts zu machen, also zurück.
Auf einer winzigen Kanzel mache ich Stand und bringe drei Haken an. „Nachkommen!“
Während Radu unter dem Dach hängt, bekommen wir Zuschauer. Keuchend und
Ruhepausen einsetzend, doch rascher als erhofft, arbeitet sich Radu zum Dachrand vor, dort
hat er schwer zu kämpfen, bis er sich hinaufschwingt und die Trittleitern einsammelt. Über
unserem Stand folgt noch ein Überhang. Versuche ihn rechts außen zu umgehen. Bald klebe
ich wie eine Fliege an der glatten Mauer. Nichts wie zurück! Zwei weitere Haken, ein
Schwung an einem Graspolster, und ich bin draußen in leichtem Gelände. Auf Radus
Vorschlag machen wir als Leckerbissen und zur Entspannung noch im Anschluss den
„Großen Überhang“ (Marea Surplombă), keine Pflichtaufgabe, eine reine Genusskletterei.
***
Ein französischer Journalist nannte ihn anlässlich eines internationalen Alpinistentreffens
„den blonden Riesen mit dem Wikingerbart“. Toni hatte sich als Wintererstbegeher der
Eigernordwand und als Begründer der Bergsteiger-Avantgarde-Zeitschrift „Alpinismus“ einen
Namen gemacht. Toni klettert mit seinen beiden Fotoapparaten bis unter das Dach und baut
sich dort aus Klemmkeilen und Schlingen einen gemütlichen Stand. „Das gibt phantastische
Bilder, so ein Dach habe ich noch nie fotografiert. Es gibt kein solches Dach im ganzen
Alpengebiet mit Ausnahme des Riesendaches von der westlichen Zinne Nordwand“, sagt
Toni, der mit dem Entfernungsmesser des Fotoapparates gleich die Ausladung des Daches
misst: 13 Meter!
Andreas’ dritter Haken fehlt, er ist anlässlich eines Versuches zweier Kronstädter
herausgeflogen. Ich schlage zwei andere dafür und will sie mit einer Schlinge verbinden.
Leider ist es die Materialschlinge, und 17 nagelneue eloxierte Karabiner fliegen wie ein
goldener Danae-Regen in die klaffende Tiefe. Toni ist starr: seine teuren Karabiner! Wir
haben nur noch 11, und Toni will nichts als seine Karas wieder finden. Wir seilen ab und
kämmen die ganze Gegend durch, finden auch die Karabiner bis auf zwei.
Den nächsten Tag sind wir wieder oben. Während Toni mit seinen beiden Kameras Bild auf
Bild schießt, erreiche ich den Dachrand, überwinde ihn und erreiche die Stelle mit dem
fraglichen, im Gras steckenden Zwischenhaken. Vergeblich versuche ich, eine Schlinge oder
einen Klemmkeil anzubringen. Dann schlage ich einen von Tonis Haken ein, doch er verbiegt
sich und hält zweifelhaft. Mit etwas Mut komme ich doch noch hinauf und erreiche den
Stand. Toni kommt rasch nach. Unten in der Gălbenele-Rinne erscheint ein Einzelgänger. Er
fotografiert Toni, der mit seinem „Signalfarbe-Anorak“ wie ein oranger Lampion unter dem
Dach hängt. Toni ist nun zwei Meter unter meinem Stand, er hält sich am Grasbüschelhaken
fest, und fliegt prompt heraus. Toni schreit auf, aber ich halte die 90 Kilo Lebendgewicht
mühelos. Es gelingt Toni, einen bombensicheren Haken zu placieren, und bald ist er neben
mir. Die nächsten Seillängen führt Toni in seinen schweren Bergstiefeln mit starrer
Vibramsohle und führt mir seine Schlingen- und Klemmkeiltechnik vor, die er im Yosemite
von Royal Robbins abgeguckt hat. (Toni Hiebeler starb 1984 bei einem Helikopterabsturz in
den Julischen Alpen.)
Praktische Angaben
Marele Tavan din Peretele Gălbinelelor
(Großes Dach der G-Wand)
Erstbegehung: Walter Kargel und Radu Slăvoacă, 1968.
Schwierigkeitsgrad: IV, A2.
Nach drei Seillängen mündet die Route in das Felsband, wo sich die Einstiege der
klassischen Gălbinele-Wand-Führen befinden: Furcile („Gabel“) und Marea Surplombă
(„Großer Überhang“). Weiter entweder Fortsetzung der Kletterei über eine der genannten
Routen oder nach rechts queren und in den Kamin Hornul Coamei abseilen.
Zustieg: Buşteni (Căminul Alpin) – Refugiul Coştila – Valea Gălbenelelor (3 ½ Stunden).
Abstieg den gleichen Weg, etwa die gleiche Zeit. Zeitaufwand für die eigentliche Kletterei:
etwa 2 Stunden, wenn in den Coamei-Kamin abgeseilt wird; zusätzlich 2 – 3 Stunden bei
Begehung der Furci oder Marea Surplombă. Insgesamt 9 – 12 Stunden.
Vorhandene Haken: 35 (davon 6 Standhaken, 8 im Dach-Vorbau, 12 im waagerechten Dach-
Riss, 6 im Riss über dem Dach, 3 im Kleinen Überhang).
(Verlag Neuer Weg, Bukarest - Komm Mit 90, S. 202 – 208)
Seite | Bildunterschrift |
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203 | Anstiegsskizze zum Großen Dach |
205 | Kartenskizze: Muchia Brânelor Bänderkante Gr. 5a |
207 | Karikatur |