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Das Gamshorn

von Werner Wiener

Den Doktor kannte ich erst seit kurzer Zeit. Die Marquise hatte ihn mir vorgestellt. Der Doktor war ein Spätzünder, wenigstens als extremer Klettermaxe, dafür aber desto begeisterter... Und Mut hatte er, alles schien ihm machbar. Sein Leitspruch war: unmöglich ist nur, an was wir uns nicht heranwagen. Der Vorschlag kam von ihm: Wie wär’s mit dem Gamshorn?
Es war August und recht warm. Die Hütte war besetzt, also übernachteten wir im Jagdstand. Das war so eine abgedeckte Terrasse aus rohen Tannenstämmen hoch oben in der Krone einer Rotbuche.
Eine Hühnerleiter führte hinauf, am Boden lag etwas feuchtes Heu. Am Morgen bereiteten wir unseren Löskaffee am Feuer aus trockenem Reisig, Wasser gab es von der spärlichen Quelle nebenan. Bald darauf stolperten wir den steilen Weg bergauf, rutschige, weite Steine auf kohlschwarzer Erde, himmelhohe, schwarze Tannen, dann die Hauptmannsquelle, der letzte Schluck Wasser für die nächsten Stunden. Abenteuerlich die Fortsetzung. Wer käme auf den Gedanken, dass es dort oben weitergeht, steil, steil, steil der Schuttkegel mit den blauen Glockenblumen und gelbem Mohn, dann die Wand darüber, wo man an wackligen Steinen und morschen Wurzeln emporturnt. Cabana Ascunsă, die „Verborgene Hütte“, war auch nicht viel größer als unser nächtlicher Jagdstand, Fenster und das eingebrochene Schindeldach waren mit Plastikfolien geflickt, die Feuerstelle mit verrußten Steinen abgesichert, ein Loch im Dach diente als Rauchabzug. Heute sind nur noch die Umrisse auszumachen, vorausgesetzt man weiß, dass hier mal eine Hütte stand.
Nach kurzer Rast stiegen wir die im Fels verankerten Stufen hinab in den Călineţ- Schluchtboden. Wir waren jetzt plötzlich mittendrin in der felsigen Kathedrale des Königsteins, Pfeiler und Wände umgaben uns, und doch auch wieder Gras und Blumen und Latschen.
Der Doktor kannte den Einstieg, jemand hatte ihn ihm gezeigt, voriges Jahr. Jetzt fand er ihn leicht, er hatte einen guten Ortssinn. „Das ist das Band, das da mit der kleinen Fichte. Wo das Band zu Ende geht, führt ein kurzer Kamin in eine Gratscharte.“ Wir seilten uns an, wechselten die Schuhe. Die erste Seillänge am Grat zeigte uns klar, wo’s langging. Eine raue, steile Platte mit einigen Haken führte zu einem Band, wo man bequem zwischen einer kleinen, kratzigen Fichte und einem weichen Latschenpolster sitzen konnte. Was folgte? „Das ist der Zickzackriss!“ sagte der Doktor. „Den muss man entschlossen angreifen und in einem Zug frei empor-, piazen. Haken kann man hier nicht anbringen.“ Das also ist es. Eine Weile ging es, dann saß ich fest. Soviel ich auch guckte und tastete, es gab keinen „Henkel“ zum Hinaufziehen, dorthin, wo das Gelände leichter wurde. Die Schuhe rutschten haltlos auf einer glatten Platte. Hinab ging es auch nicht mehr.
Eine Stunde verging. Langsam, aber ganz sicher ging die Kraft aus. Das Ende deiner Kletterlaufbahn? Angestrengtes, hastiges Nachdenken. Ich nahm den Kletterhammer und fummelte damit herum. Dann der rettende Einfall: Hammer in den Riss klemmen! Tatsächlich saß er auch bald fest! Ich legte eine Schlinge um ihn. Seil einfädeln, abseilen. Der Doktor reichte mir eine Zigarette. Zwei Schritte weiter rechts ist alles ganz einfach. Ein Haken lässt sich umschlagen und bald darauf bin ich auf der Gratlinie, der Zickzackriss ist nur halber Sieger geblieben. Weiter oben scheint plötzlich wieder alles zu Ende zu sein.
Ein abweisender Gratturm, hoch, senkrecht, nicht kletterbar. Davor ein kleiner Zacken. Zwischen Zacken und Wand geht es einige Meter hoch. Links in der Nordwand noch zwei Meter. Und da ist auch ein alter, rostiger Haken. Ein gutes Stück quere ich in die Wand hinein, dann erreiche ich eine Rinne, die in eine Scharte am Grat mündet: der Gratturm ist umgangen. Noch zwei Seillängen und wir sitzen am Gamshorn, dem Gipfel und Ende der Route.
Solche Auenblicke der Rast und der Entspannung am Ende einer Kletterei sind doch schön. Und wenn es dazu noch früh am Tag ist und die Sonne scheint, sollte so ein Augenblick nie enden. Nur zu oft ist die Zeit knapp, Dunkelheit droht, Wind, Nebel, Kälte, Regen, es graupelt. Diesmal ist alles, wie es sein soll und wir genießen es.
Wir schauen uns um. Der Gipfel ist nicht sehr hoch, von drei Seiten ist er von höheren Wänden und Graten umgeben. Da ist vor allem der Königstein-Hauptkamm mit dem weitgeschwungenen Călineţ-Sattel, flankiert von den beiden hohen Gipfeln Ţimbalul Mare und Vârful dintre Ţimbale. Von jedem von ihnen zweigt je ein Nebenkamm ab. Von diesen hohen Kämmen abgesehen ist man jedoch von Tiefen umgeben, so dass man sich doch auf einem hohen Thron in Siegerpositur fühlt. Da sind die steinigen Schluchten zu unseren Füßen und da ist in der Ferne das grüne Burzental mit der Plaiul-Foii-Hütte und die sanften, bewaldeten Bergkulissen dahinter, die im blauen Dunst des Mittags gegen den Horizont verschwimmen.
Abstieg! Von unserem Gipfelchen klettern und seilen wir kurz ab auf den Grasteppich, steigen zur „Kanzel“ auf und jenseits wieder ab in die „Alpenrosenrinne“, schlittern durch das blendend weiße Geröll talwärts, kriechen durch ein Felsfenster und klettern dann die „Fensterrinne“ ab. Zuletzt gibt es noch einen höheren Steilabbruch, dann sind wir am Pfad und kurz darauf bei der „Cabana Ascunsă“. Der Kreis hat sich geschlossen.

*

Der Doktor war der richtige Seilgefährte für ein Unternehmen wie die zweite Begehung der „Bänderkante“. Die zwei Jahre vorher von Dan Lubenescu und Andrei Ghiţescu erstbegangene Führe galt als exponierte Freikletterei mit wenigen, unbedingt notwendigen Sicherheitshaken.
Es war September und der Himmel schwer bedeckt. Als wir die ersten, leichten Seillängen hinter uns hatten, begann es zu regnen, und unsere Nachbarn im Roten Riss riefen zu uns herüber, fragten, ob wir weitergingen. Ja, wir gingen weiter. Von unserem winterlichen Versuch steckten hier mehrere Haken. Dann kam die Stelle, wo wir uns abgeseilt hatten. Es folgte eine Seillänge mit viel nassem Gras, die hakenlos schräg links empor führte. Zwei Standhaken zeigten uns, dass wir richtig waren. Der Regen nahm zu und die Seilschaft im Roten Riss hatte genug, seilte ab. Wo ging es weiter? Aus der Anoraktasche holte ich ein kleines Foto, auf dem Dan die Führe eingezeichnet hatte. Hier musste es rechts hinaufführen. Tatsächlich gab es nach 50 Metern wieder einen Haken. Jetzt ging es eine Weile in schöner, freier Genusskletterei empor. Noch einmal wurde es ganz schwierig, bevor ich am Fuß des Ausstiegskamins einen bombensicheren Standplatz bezog. Dann waren wir tatsächlich draußen, der Regen hatte nachgelassen und der Wind trocknete langsam unsere Sachen während des Abstiegs.

*

Vom Königsteinsüdgrat hatten wir drunten auf der „Eingeschlossenen Wiese“ ein rotes Zelt ausgemacht. Wer das wohl war? Eine Viertelstunde später umarmten wir lachend den Doktor und seine Gefährten. Zur Feier des Wiedersehens gab es Kognak und eine Pfeife. Bis spät sitzen wir am Feuer und erzählen, eine der Lieblingsbeschäftigungen der Kletterer, bis das letzte Scheit verglimmt.

Gamshorn – Creasta Cornul Caprei, 4a, 9 Seillängen.
Erstbegehung: Ion Coman, Ion Nistor, Ion Mircan, 3. 7. 1949.
Piatra Craiului/Königstein, Padina lui Călineţi.
Zustieg: Plaiul Foii – Cabana Ascunsă – Scara de Fier – Padina lui Călineţi – Vâlcelul Piticului.
Abstieg: Amvon – Vâlcelul cu Smirdar – Vâlcelul cu Fereastră.
Dauer: 10 -11 Stunden.
Kalkstein.
Westwand.
Ein 40-m-Seil, 10 – 12 Karabiner, 2 -3 Reservehaken.

Bänderkante – Muchia Brânelor, 5a, 14 Seillängen.
Erstbegehung: Dan Lubenescu, Andrei Ghiţescu, 14. 6. 1955.
Bucegi, Peretele Văii Albe.
Zustieg: Buşteni/Căminul Alpin – Munticelul – Poiana Sfatul Uriaşilor – Circurile Văii Albe.
Abstieg: Creasta Văii Albe – Brâna Aeriană – Vâlcelul Stâncos.
Dauer: 10 Stunden.
Konglomeratgestein.
Südwand.
Ein 40-m-Seil, 10 – 12 Karabiner, 4 – 5 Reservehaken.

(Verlag Neuer Weg, Bukarest - Komm Mit 90, S. 173 – 177)

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