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Wo Hirsch und Bär die Wechsel haben

von Peter Weber

Es war Mitte Dezember, als ich mit Freund K. J. H. daran ging, einen lange gehegten Plan zu verwirklichen: auf Hirsch und Bär wollten wird pirschen, das Elitewild der Karpatenwälder. Gute Reviere gedachten wir ausfindig zu machen, in denen Rotwild und Bär ihre Fährten zogen. Hirsche und Bären sollte das große Glück blühen, in einem Film die Hauptrollen zu spielen. Es galt also Plätze zu finden, dort Verstecke zu bauen, von denen aus das Teleobjektiv der Kamera – ohne zu stören – bis dahin reicht, wo unsere scheuen, unfreiwilligen Darsteller ihrem Tagwerk nachgingen.
Emsig schnurrte der Wagen auf der glatten E 60 in Richtung Sighişoara dahin, bekümmert blickten wir auf die vorbeisausenden erdbraunen Äcker. Erst nachdem wir in Vânători von der E 60 abzweigten und auf Cristurul Secuiesc zu rollten, tauchten die ersten Schneeflecken auf. Sie ließen uns aufatmen; wenn bereits bei etwa 400 m ü. M. etwas Schnee liegt, sollte es in doppelter Höhenlage reichlich davon geben. Uns aber, so unsere Pläne, sollte der „weiße Spürhund“ zu den Einständen von Rotwild und Bär leiten.
Die Fahrtroute führte in ihrer ganzen Länge durch das Tal der Großen Kokel. Nachdem wir Odorheiul Secuiesc in Richtung Vlăhiţa-Pass und Miercurea Ciuc durchquert hatten, hieß es in der ersten Ortschaft – Brădeni –, wieder nach links abzweigen. Wunderschöne, kunstvoll geschnitzte und bemalte Holztore säumen entlang des DJ 138 die Straßen, verschönern die stattlichen Gehöfte der hier heimischen Sekler. Über Zetea gelangten wir nach Subcetate. Mitten im Ort, neben den riesigen Bretterstapeln eines Gatters, zweigt ein Forstweg ins malerische Ivo-Tal ab. Folgt man dieser Straße, so zweigt nach etwa 8 km, neuerlich nach rechts, ein Fahrweg ins Filio-Tal ab, auf dem man bis vor die Mădăraş-Hütte gelangen kann. Von da ist es nur noch eine halbe Stunde weit, um auf den höchsten Gipfel des Harghita- Gebirges zu gelangen; der Mădăraş-Gipfel ist genau 1800 m hoch. Zu dieser Jahreszeit war aber der Weg kaum befahrbar. Auch unter sommerlichen Bedingungen sollten nur geländegeübte Wagenlenker diese steinig-steile Strecke befahren.
Dieser Weg – 12 km lang bei 1100 m Höhenunterschied – ist auch auf Schusters Rappen reizvoll. In unserer Tour war diese Abzweigung nicht eingeplant. Wir fuhren weiter bergan, in Richtung Gheorgheni. Vor uns liegt das Harghita-Gebirge, dessen nur mittelhoher Rücken über den Sicaş-Pass, 850 m hoch, problemlos zu überqueren ist. In der Senke hinter der Passhöhe, beim Dorf Joseni, liegt Rumäniens Kältepol. Soweit gelangen wir aber nicht, sondern biegen kurz nach Passieren einer Staudammbaustelle nochmals nach links ab: Vărşag – 9 km, steht auf dem verwitterten Wegweiser. Mit der Einfahrt ins Vărşager Tal beginnt der tiefe Winter, dem der Wagen mit häufigem Schlingern seinen Respekt bezeugt. Schneeketten kommen auf die Reifen. Die geschotterte Straße führt durch ein beinahe ebenes Tal. Nur das Heranrücken der Berge, die steilen Lehnen und die immer weißer schäumende Kokel verraten, dass wir aus der Berg- in die Gebirgswelt eingefahren sind. Genauer gesagt, in die südlichen Ausläufer des hier ans Harghita-Gebirge anschließenden Gurghiu-Gebirges.
Auf Schritt und Tritt gibt es was für Auge und Kamera. Waren es bei der Einfahrt ins Tal die zahlreichen Kohlenmeiler, die sich lange vorher schon mit ihrem typisch-würzigen Rauchduft ankündigten, so sind es jetzt die zahlreichen kilometerlangen Schneisen, die unsere Aufmerksamkeit fesseln. Auf einem dieser Kahlschläge werden unsere Ferngläser zum ersten Mal fündig: ein Rudel Rotwild. Hirschkühe, Schmaltiere, zwei Kälber und ein geringer Junghirsch schieben sich äsend durch das wirre Himbeerdickicht. Bis vor Vărşag können wir noch an zwei weiteren Stellen äsendes Rotwild ausmachen und ansprechen. Von Vărşag sehen wir den geringsten Teil. Diese große Gemeinde erstreckt sich über mehrere… zig Quadratkilometer, ist eine gebirgstypische Streusiedlung, deren Häuser in einigen Dutzend Tälern und Lichtungen verstreut liegen. In Vărşag zweigt unser Weg nochmals nach links ab, wir folgen weiterhin unbeirrt dem Lauf der Kokel, die freilich nur noch ein quicklebendiger, kristallklarer Forellenbach ist.
Ein Schrapper hat die schmale Forststraße notdürftig vom Schnee gesäubert. Da aber der Weg für die grobschlächtigen, großrädrigen Holzlaster gebaut wurde, ist er für PKW nur bedingt fahrbar. Dementsprechend wir das Weiterkommen immer beschwerlicher. In tiefeingeackerte Reifenspuren, jetzt vom Schnee verdeckt, krachen wir oft hinein, Rinnsale haben weite Strecken der Fahrbahn mit einer spiegelglatten Eisschicht überkrustet. Faust- bis kopfgroße Steine liegen in Mengen auf der Fahrbahn. Nur mühsam kommen wir, trotz aufgezogener Schneeketten, bergan. Der Weg führt in Richtung des Gipfels Fagul Mic, 1227 m, der in Luftlinie kein Dutzend Kilometer weit sein könnte.
An einer Holzbaracke ist dann endgültig Schluss. Bis hierher kam der Schrapper, von da weiter geht es einfach nicht mehr. Im knietiefen Schnee wird der Wagen mit List und Tücke „auf der Vorderhand“ gewendet und am Wegrand abgestellt. Von da beginnt der Fußmarsch, hier beginnen wir unsere eigentliche Pirsch.
Schnell sind die Rucksäcke geschultert, auf die wir vorsichtshalber noch je eine Decke und eine feste Plane zurren. Es ist nicht sonderlich kalt, doch kann eine lange Winternacht manche unangenehme Überraschung bringen! Zumal wenn es noch ungewiss ist, wo wir diese und die nächsten Nächte verbringen, ob wir überhaupt ein Dach über den kopf bekommen.
Schon in Straßennähe stoßen wir im lichten Mischwald – Buchen herrschen vor, die Fichte ist vereinzelt vertreten – auf mehrere stark begangene Wechsel. Sie stammen vom Rotwild und einer Rotte Sauen. Die Hirsche können wir kurze Zeit später beobachten, wie sie langsam und vertraut die Lehne vor uns bergan wechseln. Acht Tiere sind es, zum genauen Ansprechen ist es zu weit. Auch Meister Petz hat sich noch nicht zur mühe- und energiesparenden Winterruhe begeben. Eine Zeitlang steigen wir bequem in seinen Brantenabdrücken durch den knietiefen Schnee bergan. Immer gut gedeckt verläuft der Wechsel, wobei der Bär mit sicherem Instinkt die am leichtesten begehbare Route ausfindig macht. Auf diese Weise gelangen wir schneller und mit bedeutend weniger Mühe als gedacht zur großen Lichtung, die unser heutiges Tagesziel darstellt. Bereits vor einigen Jahren hat einer der üblen Herbststürme auf mehreren hundert Hektar die Fichten umgelegt, sie mitsamt Wurzelteller aus dem Boden gedreht. Diese wüste Lichtung – das Holz wurde natürlich aufgearbeitet – entwickelte sich zu einem wahren Dorado für das Hochwild. Im aufkommenden Jungwuchs gibt es zu jeder Jahreszeit Futter, in den bürstendichten Dickungen liegen ideale Ruheplätze. Mehrere Futtertraufen und Jagdkanzeln zeugen davon, dass hier die Waidmänner tätig sind.
Das Übernachtungsproblem lösen wir auf elegante Weise und beziehen in einem alten Werkzeugschuppen Quartier. Durch Zufall stieß ich auf einer früheren Tour auf dieses einladende Quartier, das am Rande der Lichtung liegt. Wäre die Schuppenwand etwas dichter – handbreite Spalten klaffen zwischen den Schwarten, aus denen die Wände zusammengenagelt wurden – und die Mäuse etwas rarer und weniger frech, gäbe der Schuppen ein ideales Nachtquartier ab.
Die kommenden Tage verbringen wir mit Ausgehen frischer Fährten, mit Beobachten, Spekulieren und dem Bau einiger Verstecke. Rotwild gibt es reichlich und in nächster Nähe. Nur die Bären wollen uns nicht den Gefallen tun, einmal bei Tag zu erscheinen. In der Nacht aber können wir sie verschiedentlich durchs lichtstarke Nachtglas verfolgen. Sogar eine der schon seltenen Wolfsrotten beehrt uns in einer stockfinsteren Nacht mit ihrem schaurig- beeindruckenden Heulkonzert. Sonst bleibt Isegrim unsichtbar. Nachdem wir aus den Fährten schlussfolgern, dass mindestens drei verschiedene Bären in nächster Nähe ihre Einstände haben, beschließen wir, uns weitere Mühen und Suchen zu ersparen und hier unser Hauptquartier zu belassen. Hierher wollen wir im Frühjahr wiederkommen. „Kerekdomb“, also „Runder Hügel“ sei die Bezeichnung dieses Wilddorados, erfahren wir von einem alten einheimischen Waldläufer, dem wir beim Abstieg begegnen.
Nur drei Monate später sind wir auf derselben Strecke unterwegs. Ächzend rumpelt der schwer bepackte Wagen durch die zahlreichen Schlaglöcher, so manchen Steinbrocken, den im Winter Eis und Schnee deckte, müssen wir aus dem Weg räumen. Vier Zentner Äpfel – die billigsten (und sauersten), die wir bekamen –, zwei Säcke Druschabfall, drei große Eimer Marmelade und unser schwergewichtiges Gepäck nebst Verpflegung für einen zweiwöchigen Aufenthalt drücken die strapazierten Wagenfedern bis zum Bersten durch. Die Tage verbringen wir mit stillem Lauern oder schweißtreibender Schwerstarbeit. Wir schleppen Kameras und Objektive, Schlafsäcke und Verpflegung, Konserven und Äpfel, Getreidesäcke und Stative, aber auch Wasser in unsere Unterkunft. Mal fließt der Schweiß in Strömen unter der glühenden Frühlingssonne, mal zittern wir im aufkommenden Schneegestöber oder stapfen durch knietiefen Neuschnee, bis wir die ausgewählten Kirrplätze (eigentlich Futterstelle für Schwarzwild) beschickt haben. In einer Höhenlage von 900 Meter ist der Frühling noch launisch, der Winter hält sich noch zäh im uns gegenüberliegenden Nordhang festgekrallt. Auf unserer sonnigen Lichtung blühen seit langem Schneeglöckchen, Seidelbast und Buschwindröschen, während drüben der Schnee meterhoch liegt.
Zwei Wochen lang surren und klicken die scharfäugigen Kameras, bis alle Filme belichtet sind. Als die Verpflegung auf kümmerliche Reste zusammengeschmolzen ist, der ausgelegte Köder verzehrt wurde, heißt es packen und absteigen. Doch bereits kurze Zeit später fahre ich wieder dieselbe Strecke bergan, hinauf zu den Quellen der Großen Kokel. Im Tal beginnt bereits der Sommer, farb- und formschöne Orchideen zieren die grünen Wiesen mit ihren Farbtupfen, am Waldesrand nicken die gelben Trollblumen mit schweren Köpfen. Auf der bereits vertrauten Lichtung herrscht reges Leben. Der Frühling hat auch im Nordhang seinen endgültigen Einzug gehalten, wenn auch morgens manchmal die Pfützen noch mit Eis bedeckt sind. Meter um Meter spult sich der belichtete Film auf, Tonbandrollen füllen sich, Notizhefte quellen bald über von der Fülle der schnell hingeworfenen Aufzeichnungen. Die Zeit verfliegt im Nu, nur allzu bald sind die Tage des Aufenthaltes wieder abgelaufen. Wieder und wieder fahre ich durch das still-verschwiegene Tal, nun bereits ein vertrauter Anblick und guter Bekannter für den Großteil der wenigen, einsamen Gebirgler. Manchen Abend verbringen wir zusammen, erzählend, lauschend, beobachtend. So manchen Tipp bekomme ich von den scharfsinnigen Seklern; ich erfahre, wo der Schwarzstorch seinen Horst seit Jahrzehnten hat, woher die jagenden Steinadler auftauchen, lerne die Wechsel von Bär und Wolf, von Luchs und Rotwild kennen. Öfters mal muss ich mit Hand anlegen und so manchen Schaden beheben helfen, den hauptsächlich der schwergewichtige Meister Petz beim Überklettern der Zäune oder Erklettern der Obstbäume verursacht hat. Es sollten aber auch noch reichlich zwei Jahre vergehen, bevor es soweit war, dass Hirsch und Bär im Film vorführreif wurden.

(Verlag Neuer Weg, Bukarest - Komm Mit 89, S. 13 – 19)

Seite Bildunterschrift
 
14-l Bären auf Futtersuche. Erst in den deckungsspendenden Abend- und Nachtstunden wird Meister Petz aktiv. Jahrhunderte währende Verfolgung haben ihn zum nächtlich aktiven Wild werden lassen. Nur in gänzlich ungestörten Revieren kann man Bären ausnahmsweise auch mal am Tag begegnen.
14-r In Dutzenden Tälern und Lichtungen stehen die Häuser der Streusiedlungen. Das Ivo-Tal ist eines der malerischsten Harghita-Täler, der Ivo-Bach eine der größeren Zuflüsse der Kokel.
15 Dicht an dicht steht Knabenkraut in den üppigen Wiesen. Ein gutes Dutzend verschiedener Arten konnten wir im Vărşag-Tal ausfindig machen, eine wahre Pracht für jeden Naturbegeisterten.
16-o Wenn der Herbst die Blätter gilben lässt, beginnt die hohe Zeit des Rotwildes. Zur Brunft versammeln sich Hirsche und Tiere an den angestammten Brunftplätzen. Den ganzen Tag, viel mehr noch in der Nacht, dröhnen in den Tälern die zum Kampf herausfordernden Brunftschreie der geweihten Recken.
16-u Röhrender Hirsch. Nur zur Brunftzeit ist der Hirsch laut und auffällig, den Rest des Jahres verraten nur seine gewichtigen Trittsiegel seine Anwesenheit. Nach einer zweiwöchigen Brunftzeit sind die Hirsche total abgebrunftet, beinahe zum Skelett abgemagert. Die verbliebenen paar Wochen herbstlicher Mastzeit werden dann intensiv zur Futtersuche genutzt. Der im Herbst angesetzte Feist sichert dem Hirsch das Überleben im nahrungsarmen Winter.
17-o Im zeitigen Frühjahr ist Meister Petz’ Tisch nur kümmerlich gedeckt. Als typischer, unspezialisierter Allesfresser nutzt der Bär jedwelches Futterangebot, ohne wählerisch zu sein. Im Frühjahr verdrückt er schmatzend das Fallwild, weidet das frisch sprießende Gras geduldig ab. Liegt Schnee, muss sich der Bär auch schon mal mit frischen Erlensprossen oder Himbeerranken begnügen.
17-u Ein Blick über den Lebensraum von Rotwild und Bär. Im Sommer eine liebliche Landschaft, im Winter manchmal unter meterhohem Schnee versteckt. Heuwiesen und extensiv genutzte Viehweiden bestimmen das Landschaftsbild.
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