Ein lehrreicher Spaziergang durch die Westkarpaten
von Herbert Hoffmann
„Wer vieles bringt, wird manchem etwas bringen“ lautet ein schöner alter Spruch. In
touristischem Sinne auf das ausgedehnte Gebiet der Westkarpaten bezogen, müsste er nicht
einmal abgewandelt werden, denn keine Landschaft unseres Landes vermag eine derart
weitaufgefächerte Skala verschiedenster Sehenswürdigkeiten jeden nur erdenklichen
Bereichs zu bieten, wie die Landstriche zwischen der Mureş-Niederung, dem Someş- und
dem Criş-Becken.
Wer etwas für Fauna und Flora übrig hat, braucht sich keineswegs bis in alle zehn
Landschaftsreservate zu bemühen, denn jede Wegkrümmung entlang des Arieş, des Ampoi,
der Valea Mare oder des Sohodol erschließt wahre Naturparadiese, geschmückt mit den
Sternen seltener Blumen und durchweht vom Hauch frisch gemähten Heus. Freunde der
Altertümlichkeiten kommen auf ihre Rechnung in den zahllosen von Archäologen
erschlossenen Kulturstätten der Jungstein- oder Bronzezeit, des dakischen Hallstatt oder
des römischen La Tène, deren Zeugnisse sich selbst in den Museen kleinster Ortschaften
bescheiden, doch überzeugend behaupten.
Volkskunstfans erschließt der „Mädchenmarkt“ auf dem Găinaberg mit seinen weithallenden
Alphornklängen unbekannte Bereiche seiner urwüchsigen Bauernzivilisation, deren
Trachten, Bauten, Arbeitsgerät und Beschäftigungen noch den Hauch urväterlicher Kraft und
nichtversiegender Überlieferung atmen. Gut mundet die „Jântiţa“ oder „Balmoş“, wenn die
Schafherden abends gemolken werden und die Hirten am verglimmenden Feuer Mären,
Fabeln und Sagen zum leisen Klang der Doppelflöte erzählen, von Avram Iancu, dem „König
der Berge“, oder von Horea, Cloşca und Crişan – den Großen von 1784...
Alles hier ist ungebändigte Natur und vergangenheitsschwangere Geschichte, ob man von
Salonta über Beiuş und Vaşcău, oder von Alba Iulia, dem alten Bălgrad kommend, durch das
Erzgebirge, zwischen goldadern-bergenden Kuppen und Kalksteinklippen hindurch auf
samtige Almen gelangt, die zum Rasten und Schauen einladen.
Denn die gesamte Formenwelt dieser Gebirge, die den Hauptteil der Westkarpaten
ausmachen, verkörpert durchaus eine der abwechslungsreichsten Landschaften Rumäniens.
Das gilt für die Höhenzüge und für die von ihnen gesäumten tief in blauen Schatten
verborgenen kühlen Täler. Denn mit seinem über 20.000 km2 fassenden Areal und seinen
über zehn mächtigen Höhenzügen, dem Mezeş, der Vlădeasa, dem Zarand, Trascău, Bihor
und Gilău, deren jeder seine spezifische Note aufweist, vermag dieses „Land der Berge und
Wälder“ auch den verwöhntesten Bergfreund immer wieder zu überraschen.
Da sind zunächst die zahllosen Karstformationen mit ihren Sehenswürdigkeiten: malerische
weite Täler und enge, wildromantische Klammen, wie die Turdaer Schlucht, die sich als
geologisches Urweltrelikt zwischen harmlosen, busch- und ackerbestandenen Hügelkuppen
verbirgt und sich nur dem erschließt, der sie zu Fuß durchwandert oder in ihren Wänden mit
Pickel und Seil durchmisst.
Ober- und unterirdische Wasserläufe, die sich plötzlich in ihr Gegenteil verwandeln, tauchen
aus dem Dunkel auf oder verschwinden in der tiefen Stille endloser Höhlen und Galerien,
deren Tropfsteine Jahrmillionen hindurch dem alten Chronos als Sanduhr dienten.
Geologisch betrachtet, gehören diese Gebirge zu den ältesten, d. h. zu der herzynischen
Kette kristalliner Schiefer, zwischen deren Rumpffragmente sich hie und da
Graniteinsprengungen vorschieben, alles heute von alten Sedimenten überlagert und von
undurchdringlichem Hochwald bestanden, aus dem bloß stellenweise das gespenstige Weiß
glatter Kalksteinklippen hervorleuchtet. Doch nicht nur an Formen reich sind diese
Höhenzüge. Vielmehr begegnet man darin ganzen Gebirgsstöcken aus magnetischem
Gestein, dem Basaltmassiv der Detunata mit ihren steinernen Orgelpfeifen, dem
„Schneckenberg“ mit seinen versteinerten Muscheln oder den Kalksteinklippen des Ampoiu-
Tales.
Ein einmalig reiches Gewässernetz (aus den Westkarpaten entspringen nicht weniger als
vier größere und sieben kleinere Flüsse mit zusammengenommen mehr als 20 Zubringern)
macht die Massive Bihor, das Codru Moma und das Trascău zu einem wahren Wasserturm
der angrenzenden fruchtbaren Auengebiete.
So klar sich Berg- und Hügelland von der Hochebene und den Niederungen abzeichnen, so
scharf umrissen erweisen sich hier die einzelnen Klimazonen, angefangen von der
Waldsteppe der Täler aus den westlicher gelegenen Abschnitten, bis hinauf zu den
Hochalmen des Muntele Mare und des Bihor-Massivs, zu denen man durch urtümlichen
Buchen- und später Fichten- und Bergahornbestand, durch Krummholz und Wacholder
gelangt. Doch auch hier begegnen wir Absonderlichkeiten aller Art. So stoßen wir im
Trascău-Massiv schon in 500 – 600 m Höhe auf das sonst nirgends in den Karpaten so tief
wachsende Edelweiß, während das dichte Unterholz fast überall Rot- und Schwarzwildpfade
durchfurchen.
Eine reiche Vogelwelt, vom Steinadler bis zur bescheidenen Amsel, erfüllt die Lüfte mit ihrem
Flug oder Gesang, während die klaren Bergbäche noch Forellen und weiter unten Hecht,
und im Mureş selbst sogar Karpfen und Wels beherbergen, sehr zur Freude manchen
Anglers.
Sommers ist das Wandern kaum eingeschränkt und, von Regentagen abgesehen, sogar die
schweren Trassen durch die Cetatea Rădesei und die Cetăţile Ponorului ständig begehbar.
Winters dagegen beschränkt man sich besser auf die gut markierten Trassen um Stâna de
Vale, Leşu, Băişoara, Padiş, Moneasa, Vadu Crişului, die meist auch Skipisten zu bieten
haben.
Neben den steilen Kalksteinwänden entlang der Turda- und der Aiudklamm lockt den
Bergfreund jedoch gewiss am meisten die magisch-mystische Welt der Tiefen, die Welt der
Grotten, Höhlen und Galerien, an denen diese Berge sehr reich sind. Zwar lassen sich nur
die von Meziad, Vadu Crişului, Scărişoara und die „Bärenhöhle“ (428 m), die erst 1975
entdeckt wurde und deren 521 m langes Untergeschoss als Naturreservat deklariert wurde,
wie auch die Meziadhöhle und die in der Vadu-Crişului-Klamm gelegene „Windhöhle“, die
längste Höhle des Landes, begehen.
Obgleich die Natur hier so intensiv formte und die Landschaft auf den ersten Blick wild und
zerklüftet scheint, ist der Mensch doch allenthalben zugegen, und bis in eine Höhe von 1300
m begegnen wir an Hängen und in Talsohlen zahllosen kleineren Dörfern oder seit
undenklichen Zeiten bloß von einer Sippe bewohnten Weilern.
Eine längst vor geschichtlichen Zeiten stattgefundene Arbeitsteilung bestimmte das
Berufsprofil der Motzen und Mocani dieser Gebiete, die, an Schönheit so reich, nur einen
kargen Erlös nach einem Jahr mühevoller Arbeit boten. So suchten die Bauern und Hirten
schon früh nach ergiebigem Nebenerwerb und fanden ihn im Bergbau, im Waldschlag, als
Gelegenheitsarbeiter in anderen Landstrichen usw. Daneben aber spezialisierten sie sich in
allerlei Gewerben, durch die sich gewisse Ortschaften zu richtigen Zentren entfalteten, die
einen Großteil des Gesamtbedarfs ganzer Gebiete deckten. Dieses gilt für die Weißböttcher
von Vidra, Abrud und Lupşa, für die Webekammmacher aus Râşculiţa, Junc, aus dem
zahllose Flöten kamen, und Mărgău, aus dem noch heute ein Großteil der Glaser des
ganzen Landes stammt. Töpfersiedlungen waren Leleşti, Crişcior, Vadu Crişului, Obârşia,
Brad und Leheceni, Remetea, Lupşa, Vaşcău, Hălmăgel und Vărzari versorgten die
umliegenden Gebiete mit Schmiedeerzeugnissen aller Art, während man den Stein in Lunca,
Crişani, Floreşti und Curechi bearbeitete.
Das größte Gewicht fiel jedoch auf die Holzverarbeitung, der sich mehr als 51 Ortschaften
widmeten, davon 10 der Stellmacherei, 15 dem Zimmerwerk und der Anfertigung von
Ackergerät, 7 dem Schreinerhandwerk und 6 der Herstellung hölzerner Musikinstrumente.
Früher war diese Skala noch breiter, denn zu den erwähnten kamen noch Napfdrechsler,
Muldenschnitzer, Bocksbeutelmacher, Wiegenbauer, Radler und vor allem die überall
begehrten Schindelmacher, die Bauern- und Stadthäuser mit dem damals allgemein
verbreiteten Dachbelag versahen.
Heute noch aktiv sind die Weißböttcher aus Vidra, Albac, Gârda de Sus, denen man früher
nur auf den Jahrmärkten von Abrud, Brad oder Zlatna begegnete, wo sie ihre Ware feilboten.
Heute sind diese Künstler, die in Windeseile aus einem unansehnlichen Holzklotz ein
elfenbeinfarbenes Daubengefäß zaubern, zu Exporteuren geworden, die ihre Erzeugnisse
nach halb Europa verschicken. Und wir begegnen den bescheidenen Tönnchen, Eimern,
Butterfässern, Kufen und Schäffern auf anspruchsvollen Messen in Köln, München, Florenz,
Zagreb oder Poznan, wo sich das rumänische Kunstgewerbe zur Schau stellt.
Doch beschränkt sich das Schaffen nicht allein aufs Verarbeiten anderwärts kaum
verwertbaren Fallholzes. Vielmehr findet hier alljährlich ein nie ausgeschriebener
Wettbewerb zwischen den einstigen „fahrenden Böttchern“ statt, die nun nicht mehr darauf
angewiesen sind, ihre Ware mit der Hucke feilzubieten. In allen Tälern um Abrud und
Câmpeni, am Ampoi, an der Măgura oder Tarniţa, am Runcu oder am Arieş suchen ständig
viele Augenpaare auf den Böden verlassener Katen oder in den Stuben uralter Häuser nach
längstvergessenen Formen, Fragmenten, Verzierungen, wie sie einst die Hirten, Bergleute,
Goldwäscher oder Ackerbauern der Terrassenkulturen benutzten. Diese erlangen nun neue
Proportionen, Bestimmungen, Größen, werden, durch das Prisma modernen „Designs“
untersucht, wiederbelebt und auf den Markt gebracht, während bei ihrer Verzierung der
Kanon jahrtausendealter Überlieferung für Echtheit sorgt, wenn der Böttcher mit dem
rotglühenden Brennstempel seine Ornamente aufprägt.
Vor einiger Zeit erschien ein dünnes Büchlein mit dem Titel „Das Abenteuer des Holzes“. Der
Text ließ sich lesen, der Titel war genial gewählt. Denn was ist der vom Holzscheit aus dem
Waldschlag bis ins Regal des Händlers zurückgelegte Weg anders als ein großes
Abenteuer. Wer’s nicht glaubt, der begleite einmal einen Böttcher durch das dichte Unterholz
des Hochwaldes auf der Suche nach einem geeigneten Stamm, den Sturm oder Alter
geknickt haben. Ist der Stamm gefunden, beginnt sozusagen die Schöpfungsgeschichte
selbst, denn Mittel und Verfahren sind uralt, rudimentär und denkbar einfach. Was dann aber
nach ein paar Tagen vor uns steht, ist das Ergebnis eines Kulturakts, die Quintessenz
menschlichen Tuns an sich... ein Werk aus der Schmiede des grünen Goldes.
(Verlag Neuer Weg, Bukarest - Komm Mit 89, S. 94 – 100)
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97 | Die Freilichtbühne bei der Herberge „Sâmbra Oilor“. Im Mai findet hier das Hirtenfest statt. |
99 | Die Berglandschaft der Maramureş gehört zum Ausflugsziel vieler Rucksacktouristen. Im Hintergrund der Toroiaga-Gipfel. |