Von Oberwischau hinauf ins Wassertal. Märchenhaftes und echtes touristisches Erlebnis im Osten der Maramureş
von Ewalt Zweier
Malerisch gelegen sind die Weiler im Wassertal: Barthau, Balmental, Bottisol (Botizu), Klein- und Groß-Schulligulli (Şurigu), Fajnen (Făina), Lostun, Mackerlau, Nowetz, Sachsental, (Valea Sasului), Valea Babii. Wenn man andererseits von einem so engen Tal hört, in welchem es kein anderes Verkehrsmittel gibt als die Forstbahn, die uralte kleine Schmalspurbahn, kommt einem das merkwürdig vor. Als ich vor Jahren eine erste Einladung ins Wassertal erhielt, und zwar von einem Biologen, der seine Doktordissertation über den seltenen Huchen, eine unter Naturschutz gestellte Fischart, im oberen Wassertal dokumentierte, klang mir das unglaublich: 45 Kilometer fast ohne Straße und Weg; nur das Schmalspurgeleise, Spurweite 65 Zentimeter. „Wir fahren dann, wenn wir Glück haben, mit der Draisine hoch, bis Făina. Dort gibt’s eine kleine Siedlung und auch noch den Huchen im klaren Gebirgsbach...“
Das Tal ist stellenweise so eng, dass man für die Bahn Tunnels durch den Fels brechen
musste. Mit „zipserischem“ Lokalwitz werden diese auch Simplon und Sankt-Gotthard
genannt. Aber dann öffnet und weitet sich das lange Haupttal des Wasserflusses in
Abständen doch für eine prächtige Aue mit ein paar Häusern darin.
Traumlandschaft, märchenhaft. Zuweilen, etwa im Morgennebel, hat man als einer, der zum
ersten Mal im Wassertal weilt, per Zügle oder Draisine von Oberwischau losgefahren ist und
die Umgebung auf sich einwirken lässt, tatsächlich den Eindruck des Unwirklichen. Erst die
Begegnung mit der Arbeit, mit dem Hauptzweck der täglich, außer Sonntag, verkehrenden
Forstbahn, die Begegnung mit den verschiedenen Beschäftigungen der Leute im Wassertal
zeigt einem an, dass alles wahr und wirklich und organisch gewachsen ist.
Man braucht keine besonderen Beziehungen zu haben, um als Tourist die Forsteisenbahn
zu benützen. Um 6.30 Uhr bei der Endstation am Stadtrand von Oberwischau (Vişeul de
Sus), einer Stadt mit heute rund 22.000 Einwohnern im Osten des Kreises Maramureş, sein,
das ist immerhin ratsam. Dort meldet man dem Stationschef seine Präsenz. Um sicher zu
gehen, kann man sich am Vorabend bei UFET, der Einheit des Holzkombinats, nach dem
gültigen Fahrplan erkundigen. Es gehört gewiss mit zum Ausflugserlebnis, mit Waldarbeitern
auf der gemütlichen Fahrt ins Gespräch zu kommen, sei es auf einer offenen Plattform oder
im Abteil, denn auch die CFF (Forsteisenbahn) hat geschlossene Personenwaggons. (Bei
Regenwetter vorzuziehen.)
Wenn genügend Platz ist, nehmen einen auch Draisinen mit. Da gibt es die grünen von den
Forstleuten, graublaue von den Geologen und eine weiße Draisine des Sanitätspersonals,
ein Rettungswagen auf Schienen also. Die zugelassene Fahrtgeschwindigkeit beträgt 20
oder 25 Stundenkilometer. Mehr schafft die mit Holz und Kohle angetriebene kleine
Dampflokomotive talaufwärts nicht. Und auf der Heimfahrt, mit 40 – 50 mit Baumstämmen
schwer beladenen Waggons, haben die Bremser genug zu tun, um das Tempo zu drosseln.
Mitbenützer dieser so gar nicht mehr in unsere Zeit passen wollenden Verkehrsmodalität
sind im Wassertal auch die Ende Mai ins Gebirge ziehenden Schafherden mit
hochbepacktem Esel und mit Hunden. Nein, sie werden nicht einwaggoniert. Aber sie
„trampen“, wo es keinen Pfad neben dem Schienenstrang gibt regelrecht über die
Bahnschwellen. Im verspäteten Frühjahr '87 sind wir ihnen am 10. Juni begegnet. Wie das
klappt mit dem Ausweichen? Wieso es da kein Eisenbahnunglück gibt? Erstens ist der
Fahrplan den Ortsansässigen bekannt, dann sind ja die Stationen häufig und haben
Telefonverbindung. Das Schnaufen der Lok, das Geratter des Zügles ist zudem
unüberhörbar. Die Draisine hupt vor jeder Kurve, vor jedem Tunnel. Überall, in jeder Station,
ein Bahner oder meistens eine Bahnerin. Dem obligaten Stöckchen fehlt das gelbe Tuch.
Aber: Stöckchen hoch = Bahn frei. Erst wenn der Zug die nächste Haltestelle passiert hat,
darf ein anderes Fahrzeug ihm nach. Wir haben Zeit, hier muss man Zeit haben. Also fahren
wir mit der Draisine im Nachtrab, bis wir in einer größeren Station, wo der Zug ein
Abkoppelungsmanöver vornimmt, überholen dürfen.
Schwankende Hängebrücken nur für Menschen überqueren den Fluss. Manchmal auch
solider gebaute Holzbrücken, selten solche mit Steinsockel, wie etwa die von den Zipsern
„Elefantpruckn“ benannte.
Zipser werden heute alle in dieser Gegend wohnhaften Bürger deutscher Nationalität und
Muttersprache genannt, obwohl sie ganz verschiedener Herkunft sind. Vor über 200 Jahren
sind die ersten deutschen Ansiedler aus dem Gründler Land in der Zips (Slowakei) nach
Oberwischau und Umgebung eingewandert. Andere kamen aus dem österreichischen
Gemunden, Bad Ischl und Ebensee. Sie waren verarmte Flößer und Holzarbeiter. Einige
Goldwäscherfamilien stammten aus dem Böhmerwald, sind aber nicht lange im Wassertal
geblieben, weil ihr Gewerbe nicht ergiebig war. Ab 1790 wurden zur Erschließung anderer
Erzvorkommen wieder überwiegend deutsche Bergleute ins Land gebracht. Nach diesen
Einwanderern, die sich hauptsächlich am rechten Ufer des Wasserflusses angesiedelt
haben, wird der Stadtteil von Oberwischau auch heute die „Zipserei“ (eigentlich: Zipser Reih’)
genannt. Übrigens wird auch die geographische Bezeichnung des Wassertals (rumänisch:
Valea Vasărului) mit der Herkunft der Zipser Deutschen in Zusammenhang gebracht. Im
Zipser Bergland am Nordostende der Hohen Tatra gibt es einen Gebirgsfluss, das „Weiße
Wasser“ genannt, und aus jener Gegend stammen ja die Vorfahren einiger der deutschen
Waldarbeiter, denen man auch heute im Wischauer Wassertal begegnet.
Oben bei Mackerlau, etwa 35 Kilometer von der Ausgangsstation entfernt, kann einem
Rudolf Schießer, der Meister im Holzschlagrevier Fajnen-Lostun, zum Beispiel die noch gut
erhaltenen, wenn auch moosüberwachsenen steingemauerten Anlagen eines alten
Stauwehrs zeigen. 1780 begannen Zipser Einwanderer mit dem Bau des Dammes, den sie
vier Jahre später fertig gestellt haben. Von hier begann lange Zeit das Flößen der
Baumstämme auf dem Wasserfluss. 1790 haben deutsche und italienische Bauleute die
Talsperre bei Fajnen errichtet, wo es heute eine Forellen- und Äschenzucht gibt. Katarakte
für die Fische wurden schon seit langer Zeit am Flusslauf angelegt.
Nun gehört das Flößen schon längst der Vergangenheit an. Von hier aber, aus Fajnen,
einem der bedeutenderen Wassertaler Weiler, wenn man die Kleinsiedlungen der
Waldarbeiter und Förster so nennen will, oder von Mackerlau starten im Sommer oft die
Sportler-Touristen im Paddelboot, schnittige Kajaks, für Wildwasserfahrten gebaut und
geeignet. Manche kommen aus der ČSSR, andere aus der DDR. Und nicht zum ersten Mal,
zum Zeichen, dass es ihnen gefallen hat.
In der Mehrzahl sind freilich die Rucksacktouristen ohne Boot dabei. Man kann seinen ein-
oder mehrtägigen Aufenthalt in diesem malerischen Tal mit einer Tour durchs Rodnagebirge
verbinden, sozusagen zum Verschnaufen vor der Heimreise. Wer z. B. vom Pietrosu (2305
Meter hoch) oder von Puzdrele nach Borşa absteigt, kann aus diesem schönen Luftkurort
und Wintersportzentrum leicht per Autobus nach Oberwischau gelangen und anschließend
im Wassertal zelten. Ein Abstecher vorher (oder nachher) ins malerische Weintal
(rumänisch: Valea Vinului) ist ebenfalls zu empfehlen.
Doch verweilen wir noch ein wenig im Wassertal. Was es da zu sehen und zu erleben gibt,
selbst ohne links oder rechts auf die Höhen zu klettern? Hat man also Mackerlau als
Endstation gewählt, obwohl man noch gute 10 Kilometer bis Izvorul Boului weiterfahren
könnte, so befindet man sich, je nach der Jahreszeit und vorwiegender Witterung, in einem
Pilz- und Heidelbeerparadies. Die „Jafinassäson“, wie das Heidelbeerpflücken im Wischauer
Dialekt heißt (rumänisch: afine = Heidelbeeren), spielt im Wassertal ebenfalls eine wichtige
Rolle. Und in den Waldschneisen wuchern reich tragende Himbeerfelder.
Was ferner zum Naturreichtum gehört, das sind die Mineralquellen. Über 20 solche Quellen
kennt Ing. Martin Iuga, der Oberförster. Nur zehn oder zwölf davon seien bisher eingefasst
und zur Nutzung hergerichtet worden. Einige, vor allem jene bei Klein-Schulligulli, seien dank
der hervorragenden Qualität des Wassers gut bekannt und beliebt. Diese hätten Aussicht auf
eine ökonomische Verwertung in größerem Ausmaß durch eine Abfüllstation. So erfahren wir
davon, wie unlängst eine Jury gefoppt wurde, als sie über eine Wette zu entscheiden hatte,
welches Wasser nämlich, von welchem der beiden „Borcut“ (Mineralwasserquelle) das
bessere sei, von Kleinschulligulli oder von Großschulligulli. Am Ende, als den Leuten der
Schiedsspruch so schwer fiel, stellte sich heraus, dass beide Kostproben an derselben
Quelle in die Flaschen gefüllt worden waren...
Ein ausgehöhltes Fichtenstamm-Segment von riesigem Umfang wird uns am CFF-Bahnhof
Făina als künftiger Wasserbehälter für einen solchen „Borcut“ vorgestellt. Nutzungsdauer: 50
und mehr Jahre.
In Fajnen, oberhalb der Bahnstation und der Försterhäuser steht auch eine von Zipsern
errichtete und der Besichtigung werte, Kapelle. Übrigens: Făina/Fajnen – woher dieser
Name? Der Ortsname könnte daher kommen, dass hier seit jeher schon ein Lagerhaus
stand, woher die Waldarbeiter, die ja früher nur in großen Zeitabständen hinunter zu ihren
Familien fuhren, sich mit dem Maismehl für ihren Palukes versorgten. Das rumänische
„făina“ bedeutet bekanntlich deutsch „Mehl“. Den Maisgrießbrei rühren die Zipser
Hausfrauen allerdings gerne in einer Mischung mit gemahlenen oder zerdrückten Kartoffeln
an. Dies war jahrzehntelang neben Speck und Zwiebel sowie Schafkäse, mit dem auch
„Brinskulesch“, ein Käspalukes besonderer Art, zubereitet wird, ihre Hauptnahrung. Und ist
es heute noch.
So richtig ins Märchenland versetzt fühlen wir uns plötzlich bei Novicior, wo ein Seitental mit
mehreren kleineren Holzschlägen beginnt, in denen Desiderius Schießer, ein anderer
Einwohner der Zipser Reih’, der langjährige Meister ist. Bloß der „Schatzhäuser im grünen
Tannenwald“ und der „Kohlen-Munk-Peter“ aus Wilhelm Hauffs „Das kalte Herz“ fehlte uns
im Moment. Oder waren auch diese Märchengestalten, so wie wir sie aus dem
unvergesslichen DEFA-Film und aus der von Christian Maurer dramatisierten Inszenierung
an der Hermannstädter deutschen Bühne in Erinnerung haben, unbewusst doch dabei, in der
Atmosphäre, die den Kohlenmeiler umgab?
Jedenfalls, die nach „klassischer“ Art aus Rotbuchenscheiten geschichteten großen Meiler,
in denen dann das Holz binnen drei-vier Wochen schön langsam zu Kohle wird, gibt es hie
im Wassertal auch noch. Einige der fünf Köhlerequipen praktizieren außerdem auch die
moderneren Herstellungsverfahren mit Metalleimern, in denen je 300 – 400 Kilogramm Kohle
aus Kleinholz sogar binnen 24 Stunden fertig sind. Holzkohle aus dem Wassertal ist
gefragtes Exportgut und wird tonnenweise in großen und kleinen Abpackungen geliefert, z.
B. auch in Tüten zu einem Kilo, fertig für den Familiengrill.
Gleich nach den Köhlern begegneten wir dann einer anderen Glück bringenden Berufsgilde,
dem Schornsteinfeger. Im Laufe einer Woche klappert er per Bahn und Draisine sämtliche
Häuser und Rauchfänge im langen, dünnbesiedelten Tal ab.
Und in den Hütten oder, besser gesagt: Wohnheimen der Waldarbeiter, trifft man die
„Keimannitza“ an. Die Heimbetreuerin heißt sogar rumänisch „caimaniţă“, seit Frauen diesen
Dienst übernommen haben. Früher nämlich wurden die Hütten von einem Jungen besorgt,
den man „Keiman“ nannte, da er noch nicht 15 Jahre alt, also noch „kein Mann“ war. Diese
Bezeichnung wurde später auf die Frauen übertragen.
Mit wem immer man hier ins Gespräch kommt, bald merkt man, wie die Umgangssprache in
dieser Gegend, wo mehrere Muttersprachen nebeneinander lebendig gebraucht werden, ein
Ergebnis des Zusammenlebens der Rumänen aus der Maramureş mit den Zipsern,
Ukrainern, Ungarn und Juden ist. Die merkwürdigsten Wortbildungen sind dabei entstanden.
Ebenso auch besondere Essgewohnheiten, die die einen von den anderen übernehmen und
die man dem Besucher in einer für diese Gegend besonders kennzeichnenden Art der
Gastfreundschaft gerne vorführt. Wenn man zum Beispiel mit der ganzen Familie aus einer
großen Schüssel gestockte Milch löffelt, den fetten Joghurt, den die Rumänen hier
„sămătişă“ nennen. Oder wenn einem eine Zipserin in der Zipser Reih’ echte
„Goldhaluschken“, eine köstliche Teigspeise mit Nüssen und Zucker, serviert. Oberwischau
und das Wassertal sind ein ganz besonderes Reiseziel. Etwas von europäischem
Seltenheitswert.
(Verlag Neuer Weg, Bukarest - Komm Mit 88, S. 138 – 145)
Seite | Bildunterschrift |
---|---|
140 | Waldarbeiterhütte Mackerlau. Vom alten Wehr nebenan starten die Kajaks. |
141 | Manchmal weitet sich das enge Tal. Wie unberührt wirkt die Natur im Morgennebel. |
143 | Mit der Schmalspur-Forstbahn, einer der letzten im Land, 45 km aufwärts. Touristen werden mitgenommen. |