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Plötzlich wurde der Wind zum Sturm

Erlebtes zwischen Surul- und Urleahütte

von Dr. Klaus-Peter Müller (Schleiz)

Gezeltet hatten wir noch nie und auch noch nie eine Kraxe getragen. Mit 38 und 45 Jahren sind wir ja auch nicht mehr die Jüngsten. Das Riesengebirge und die Hohe Tatra kannten wir von vielen Tagestouren mit „kleinem Gepäck“. Aber eine Kammwanderung im Fogarascher Gebirge mit schwerer Kraxe und Zelt war ein Abenteuer. Vorsichtshalber erprobten wir im Riesengebirge auf einer 3-Tagestour im Mai unser Vorhaben. Es klappte, und nichts konnte uns davon abbringen, Rumäniens Bergwelt hautnah zu erleben.
Ein strahlender August-Himmel. Nach dem Frühstück starten wir aus Sibiu mit dem Wagen in Richtung Sebeşu de Sus. Entlang des Moaşa-Sebeşului-Baches „Dacias“ und bunte Zelte, teilweise an den unzugänglichsten Stellen. Es sind meist Hermannstädter beim Wochenendpicknick. Am Ende des Forstweges verlassen wir das Auto und steigen durch dichten Wald mühsam bergaufwärts. Endlich, nach 2 Stunden, stehen wir vor der Suruhütte. Eine Rast muss sein. Die zwei Kraxen haben uns ganz schön ins Schwitzen gebracht. Da es die Sonne gut meint, beschließen wir, noch heute zum Kamm aufzusteigen. Unser Freund kehrt ins Tal zurück. Nun sind wir allein.
Mühsam keuchen wir den mit einem roten Dreieck gekennzeichneten Pfad empor. Unterwegs überholen wir tschechische Bergfreunde. In den nächsten 5 Tagen werden wir sie öfters wiedersehen. Im Găvanukessel wird kurz verschnauft. Noch liegen mehrere Serpentinen vor uns, ehe wir schließlich in den Surusattel (2110 m) einsteigen. Es ist merklich kühler geworden. Eine frische Brise kommt auf, und dunkle Wolken im Osten verheißen nichts Gutes. Jetzt folgen wir der Rotbandmarkierung, unserer Orientierungshilfe für die nächsten Tage. Wir queren den Budislavusattel, den Westhang des Berges und erkennen in der Ferne die Geröllhalden der Hohen Scharte.
Leicht einsetzender Regen überrascht uns. Den Frecker See vor Augen, halten wir nicht erst an, und lassen die Regenumhänge in der Kraxe. Beim Abstieg bietet sich uns ein seltenes Bild: im Vordergrund der dunkle See und am Ostufer auf einem Wall viele bunte Farbkleckse – Zelte. Nach 10 Minuten hört der Regen auf. Wir sind müde. Ein leichter Imbiss, etwas heißer Tee, Waschen an der Quelle und dann kriechen wir todmüde in unsere Schlafsäcke.
Stimmengewirr weckt uns am nächsten Morgen. Der Rücken schmerzt. Auf Bunametten liegt es sich halt schlechter als im weichen Bett. Einige Verwegene tummeln sich kurz im See. Wir schließen uns an. Das Wasser ist eisig kalt. Später wird gekocht. Plötzlich brennt unser Benzinkocher. Ein Zeltnachbar erstickt die Flammen. Einen Reservekocher besitzen wir nicht. Das nächste Mal wird uns so etwas nicht passieren. Ich hatte die Einfüllschraube nicht fest genug angezogen. Als letzte brechen wir auf. Wenn wir gewusst hätten, was uns dieser Tag für Strapazen bringen wird! Aber zunächst geht alles glatt.
Der wolkenlose Himmel und das kräftige Frühstück wirken belebend. Wir steigen den Serpentinenpfad am Nordwesthang der Hohen Scharte hinauf. Vom Westsattel der Gârbova (2140 m) schweift unser Blick nach Osten. An den Gegenhängen sehen wir zwei große Schafherden – anmutige, lebendige Bilder. Nach knapp 2 Stunden sind wir auf der Scara (2306 m). Unser Blick gleitet über das Fogarascher Gebirge. Negoi und Călţun ragen markant im Osten in den Himmel. Über den Puha (2177 m) gelangen wir in den Scarasattel. Wolken ziehen auf. Gegen Mittag überrascht uns im Şerbotasattel erneut der Regen. Wie viele andere suchen wir Schutz unter den Umhängen und kauern geschützt in einer Felsspalte, am Boden. Fast eine Stunde regnet es. Dann können wir weiter. Der Blick zum Himmel verrät, dass die nächsten Schauer nicht lange auf sich warten lassen werden. Schon auf der Şerbota (2331 m) ist es wieder soweit. Die ostwärts liegenden Gipfel sind von dicken Wolken umhangen. Vor uns liegt das „Kirchendach“ (Custura Sărăţii). Wir verlassen uns auf den Reiseführer. Das sollte sich rächen. Der Abstieg in den Lammkessel (Căldarea Mieilor) und biwakieren wäre besser gewesen.
Durch den Regen ist der Weg glitschig geworden. Von einem Weg oder Pfad kann man gar nicht mehr sprechen. Am ersten Kamin stockt der Verkehr. Bloß gut, dass ich ein 20-m-Seil mithabe. So können wir die Kraxen und uns abseilen. Eine Wandergruppe schließt sich uns an. Sie steigen dann aber doch in den Lammkessel ab. Es wird immer schwieriger. Wir überholen eine tschechische Gruppe, eine Frau und zwei Männer. Sie sitzen fest. Unser Seil wird wieder gebraucht. Der letzte Kamin hat es in sich. Ohne Seil wäre es unmöglich, mit unseren Kraxen abzusteigen. Dazu haben wir noch großes Glück. Ein rumänischer und ein tschechischer Bergführer helfen uns. Sie sind auf der Suche nach einem Vermissten (Wettkämpfe um den Negoi). Endlich sind wir am untersten Punkt des Grates.
Es ist spät geworden, Nebel kommt auf. Gegen 19 Uhr stehen wir auf dem Negoi (2535 m). Die Markierungen waren beim Aufstieg kaum zu sehen. Meine Frau ist fix und fertig. Der Wind pfeift ganz schön. Zu allem Unglück beginnt es zu hageln, taubeneigroße Körner. Eine knappe Viertelstunde dauert das Ganze. Wir müssen weiter zum Călţunsee. Die „Teufelsscharte“ kann ich meiner Frau nicht mehr zumuten. Wir nehmen einen anderen Abstieg. Das Wetter bessert sich vorübergehend. Gegen 21 Uhr erreichen wir endlich, am Ende unserer Kräfte, den Călţunsee. Ein hilfreicher tschechischer Bergfreund kümmert sich um uns, besorgt uns einen guten Zeltplatz und im Nu steht das Zelt. Es ist schon dunkel. Wir trinken etwas kalte Limonade und versuchen zu schlafen. Der Wind, der allmählich zum Sturm wird, rüttelt unser Zelt durch. Die feuchte Innenhaut flattert und peitscht uns Wassertropfen ins Gesicht. Jeden Augenblick kann das Zelt zerreißen. Nach Mitternacht flaut der Sturm ab. Das war unsere erste Bekanntschaft mit den „Fallwinden“, die böenartig in diese Gebirgskessel einfallen.
Am nächsten Tag scheint die Sonne. Die nassen Sachen werden ausgebreitet. Wir essen, trinken Kaffee – und sind glücklich. Das Bad im See hat uns wunderbar erfrischt. Wir bleiben noch bis Mittag. Nach der 11-Stunden-Tour von gestern lassen wir es heute gemütlicher angehen. 4 ½ Stunden später zelten wir schon am Gämsensee (Caprasee). Der Aufstieg zum Lăiţel (2397 m) war mühsam, anfangs dazu noch neblig. Später rasten wir an einem warmen, quellenreichen Kessel unterhalb des Paltinusattels. Immer wieder beeindruckend ist das Panorama des Bâleatales als wir den schmalen Grat (Fereastra Bâlei) queren. Die Transfogarascher Hochstraße windet sich als weithin sichtbare Schlange durch die Bergwelt.
Am Gämsensee treffen wir unsere tschechischen Freunde, die bereits früh aufgebrochen waren. Es herrscht Hochbetrieb. Wir schlagen unser Zelt im weichen Gras auf. Der nächste Tag ist ein Montag. Es ist kühl und stark bewölkt. Wir laufen los. Unterwegs kommt die Sonne des Öfteren zum Vorschein. Wir queren kleinere Schneefelder. Portiţa Arpaşului, „La trei paşi de moarte“ sind weitere markante Punkte. So gefährlich ist aber die letztgenannte Strecke nicht. Der Name ist eher irreführend, aber klingt gut. Es findet sich hier eine zusätzliche gute Sicherung mit Drahtseilen. Nach einer sechsstündigen Wanderung sind wir am Giurgiuluisee. Der Abstieg zum düster wirkenden See führt über einen geröllbedeckten Hang, ein richtiger „Sturzacker“, und erfordert deshalb einige Vorsicht. Uns gelingt es noch, einen Zeltplatz nahe dem See zu ergattern. Die später Ankommenden müssen weiter oben oder unten ihr Quartier aufschlagen. Gegen Abend besuchen uns zwei Hirtenhunde.
Am 5. Tag begrüßt uns erneut ein klarer Himmel. Heute wollen wir noch zum Urleasee. Die anderen haben es auch vor. Der Moldoveanu (2544 m) und die Viştea Mare (2527 m) grüßen uns. Als wir oben sind ist alles zugezogen. Deshalb beschließen wir, gleich weiterzugehen. Die Valea-Rea-Biwakschachtel bleibt rechts liegen. Etwa 1 ½ Stunden später rasten wir an einer spärlich sickernden Quelle. Dadurch hat man Gelegenheit, mit den hier wartenden Bergfreunden zu plauschen. Das Wetter hält. Nach insgesamt 9 ½ Stunden steigen wir zum Urleasee ab. Wir sehen kein einziges Zelt. Der See macht einen abweisenden Eindruck, verstärkt noch durch die hereinbrechende Dämmerung. An seinem Ufer schlagen wir das Zelt auf. Es war ein Fehler. In der ersten Nachthälfte beutelt erneut der fallwind unser Zelt. Wir durchleben bange Stunden. Als der Sturm sich gelegt hat, scharrt es am Zelt. Wir verhalten uns still. Es sind zwei umherstreunende Hirtenhunde. Früh ist alles vergessen, bis auf die Müdigkeit, die zurückbleibt.
Bei Sonnenschein wandern wir durchs Urleatal. Es gibt hier gut geschützte Zeltplätze und reichlich Quellwasser. Das nächste Mal wissen wir es. Später steigen wir links einen grasbewachsenen Hang hinauf. Der Pfad ist kaum zu erkennen. Über die Curmătura Zârnei gelangen wir schließlich zur Urleahütte. Der Abstieg ins Tal ist ermüdend und usnere Kniegelenke schmerzen. Wir haben unwahrscheinlich Glück. Ein „Aro“ nimmt uns bis nach Fogarasch zum Bahnhof mit. Im Wirtshausgarten trinken wir Bier. Müde und abgespannt, aber glücklich, steigen wir um 21 Uhr in Sibiu aus dem Zug. In zwei Tagen geht es ans Meer und ins Donaudelta.

(Verlag Neuer Weg, Bukarest - Komm Mit 88, S. 203 – 207)

Seite Bildunterschrift
 
204 Wahre Geröllhaufen bilden die Ciortea-Spitze (2422 m). Links im Bild der Mâzgavu.
205 Ein beeindruckendes Karstgebiet: die „Piatra Iorgovan“, 1997 m, im kleinen Retezat.
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