Das Musceler Land – ein Landstrich für vielseitig interessierte Wanderer
von Herbert Hoffmann
Der Versuch, eine Landschaft, Umwelt und Leute, Atmosphäre und Naturschönheit zu beschreiben, bildet ein müßiges Unterfangen. So etwas will erlebt, gesehen, beobachtet sein! Was vermögen da trockene Worte bei Tönungen wie sie nur ganz große Meister, ein Ruysdael, ein Monet oder Turner zustande bringen: das Mattgelb herbstlichen Birkenlaubs neben dem Tiefrot der Bärenklaue, durchsetzt mit samtenem Schwärzlichgrün nimmermüder Nadelbäume. Und dieses zu jeder Tageszeit anders getönt, mit Lichtfunken übersät oder vom Nebel nahen Winters silbrig laviert...
Und wenn das Obengesagte schon für eine Landschaft schlechthin gilt, umso mehr für jene,
der sich unser Augenmerk diesmal zuwendet, dem Muscelgebiet, einem Landstrich, der
tatsächlich mit allem aufzuwarten vermag.
Sucht jemand alte Zeugen der Vergangenheit: Klöster, Kirchen und Burgruinen erwarten ihn
hier. Steht landschaftliche Schönheit auf dem Wunschzettel, so reicht die Skala an
Sehenswürdigkeiten von den lauschigen Tälern voller Beschaulichkeit über die
sonnenbestrahlten, blumenübersäten Matten der Vorkarpaten, bis hinauf zu den felsigen
Graten der stolz-mürrischen Zweitausender, des Iezer (2462 m), des Roşu (2473 m) oder
der Păpuşa (2391 m), deren Kamm als riesiges Hufeisen das Muscelbecken, einer
unersteigbaren Felsbarre gleich, zu umschließen scheint.
Doch trügt das Bild, denn aus den in vielen Jahrtausenden vom ewigen Eis ausgehöhlten
Gletscherkaren entspringen die silbrigen Wässer der Valea Doamnei, des Râul Târgului oder
der Dâmboviţa und jeder dieser drei Flüsse meißelte spätere Straßen und Pässe in die
Weichen des noch so harten Gesteins aschgrauer Glimmerschiefer oder gelblichen
Muschelkalks. Diese Zugänge sind es, die aus einem Grenzland ein jahrtausendealtes
Bindeglied zwischen Süd und Nord, ja sozusagen zwischen Ostsee und Adria entstehen
ließen.
Doch durch ihren eigentümlichen terrassenförmigen Aufbau, die tief eingegrabenen, bis
unter den Urwald reichenden fruchtbaren Täler, bildete diese weite zwischenkarpatische
Senke, wie die Maramureş, das Hatzeger Land, ein Kernterritorium, das seit weit
zurückliegenden Zeiten den Einheimischen Schutz und Zuflucht bot und somit als eines jener
Bereiche angesprochen werden kann, in dem sich die dakisch-römische Verschmelzung, vor
den Unbilden der Geschichte bewahrt, auswirken und entfalten konnte. Es bot den
Bewohnern alle Garantien für deren Stabilität und Kontinuität und bürgte so auch später für
deren Freibauernstatus, von dem selbst heute, nach vielen Jahrhunderten ein stolzer,
aufrechter Bauernschlag mit ausgeprägtem anthropologischem Profil und ethnokultureller
Eigenart noch zeugt.
Dank der erwähnten Lage am Berührungspunkt der beiden rumänischen historischen
Provinzen, Walachei und Siebenbürgen, begegnen uns hier auf Schritt und Tritt echte
Zeugen alter Geschichte, wie Spuren des antiken „Limes transalutanus“, dessen Überreste
bereits 1691 Marsigli beeindruckten, der das Kastrum von Pescăreasa erwähnt, übrigens
eines der wenigen aus Steinmauerwerk errichteten Befestigungswerke, das hier die
römische Zivilisation bis zu den ersten Gotenstürmen zu schützen vermochte. Doch
begünstigte die durch den Rucăr-Bran-Korridor bestehende Verbindung nach dem
Nordosten auch eine frühe Besiedlung bereits seit der Bronzezeit (1700 – 1600 v. u. Z.) und
später das Auftreten entlang der Verkehrsader, als Handels- und Heerstraße, zahlreicher
stattlicher Ortschaften, deren Bewohner sich vorrangig der Viehhaltung, dem Acker- und
Obstbau, der Ausbeutung des dichten Waldbestandes und in letzter Zeit auch dem Bergbau
widmeten.
Das Anwachsen der Bevölkerung, die Entfaltung einer vielfältigen Handwerksproduktion und
die Möglichkeiten eines günstigen Warenaustauschs mit der Nachbarprovinz, aber auch mit
dem eigenen Hinterland bildeten eine der Voraussetzungen für die Herausbildung des
Marktfleckens Câmpulung, in dem sich, seiner günstigen Lage wegen, bereits in den ersten
Jahrzehnten des XIII. Jahrhunderts auch sächsische Handwerker und Kaufleute aus
Siebenbürgen niederließen, denen ein „Graev“ (Comes), wie etwa Lauretius von Longo
Campo, vorstand, dessen Grabplatte nicht nur die erste Erwähnung der heutigen Stadt,
sondern auch das älteste mittelalterliche epigraphische Denkmal der Walachei verkörpert.
Hinsichtlich der Stadtgründung gibt es verschiedene Versionen. Tatsache ist, dass nach der
Schlacht bei Possada (November 1330), in der der walachische Wojwode Basarab I. das
Ritterheer Roberts von Anjou besiegte, Câmpulung zur Residenz erklärt wurde und längere
Zeit eine wichtige Rolle spielte, und kein geringerer als Sebastian Münzer sie im Jahre 1544
für wert erachtet, als wichtiges Zentrum des Durchgangshandels in seine „Cosmographia“
aufzunehmen.
Zu den wichtigsten Veranstaltungen gehörte übrigens der Mitte Juli alljährlich stattfindende
traditionelle Markt des Hl. Elias. Antonio Maria del Chiaro, der Sekretär des Fürsten
Constantin Brâncoveanu, beschreibt ihn in seiner „Storia delle moderne rivoluzioni della
Valachia“, denn die hier anzutreffenden Kaufleute kamen nicht nur aus dem benachbarten
Kronstadt, sondern waren Griechen, Dalmatiner, Levantiner, Deutsche usw., die hier ihre
Waren gegen Fleisch, Käse, Honig, Bienenwachs, Wolle, Häute, Wein, Bauholz, Vieh und
Handwerkserzeugnisse eintauschten.
Doch beschränkten sich die gutnachbarlichen Beziehungen zur Nachbarprovinz nicht auf
den Handel. Vielmehr begünstigte der Übergang durch das Dâmboviţa-Tal und über die
Lehne des Mateiaş auch Gegenbewegungen, und so kamen in schweren Tagen, die damals
nicht selten waren, Heeressäulen aus Transsilvanien den Nachbarn zu Hilfe, so 1395, 1427,
aber auch im XVI. und XVII. Jahrhundert, wenn es hieß, den türkischen Einfällen einen
Riegel vorzuschieben. Von solch unsicheren Zeiten zeugt auch die bei Racoviţa gelegene,
1806 errichtete „cula“, ein im Erdgeschoss fensterloser Wehrbau und das mauerumzogene,
mit Türmen besetzte Schlösschen von Goleşti, das bereits 1654 Paul von Aleppo auf seiner
Fahrt durch die Balkanhalbinsel beeindruckte.
Übrigens sollte, wer aus Bukarest mit dem Auto kommt diese schönen Landstriche mit ihrer
einmaligen Pracht besucht, auf die Autobahn verzichten und die von urtümlichen Pappeln
bestandene alte Straße benutzen, die zwischen Wein- und Obstgärten, Feldern und Wiesen
hindurchführt, die die sanft ansteigenden Lehnen bedecken. Alles gemahnt hier an weit
zurückliegende Vergangenheit. Alte Kirchen zeigen Malereien des großen Pârvu Mutu (um
1657), hierzu zogen die Panduren Tudor-Vladimirescus und hier bei Corbi soll eine
Fürstentochter auf der Flucht vor den Tataren von einem Felsen (der Piatra Doamnei)
gestürzt und ertrunken sein.
Bei Valea Mare-Podgoria lenkt uns ein Wegweiser zum Liviu-Rebreanu-Gedenkhaus, dem
Aufenthalt der letzten Jahre des großen rumänischen Romanciers. Doch erinnert manches
auch an die Neuzeit. Das bereits erwähnte Goleşti beeindruckt nämlich nicht nur durch seine
alten Nussbäume und das heute darin untergebrachte Museum für Obst- und Weinbau,
sondern durch die Tatsache, dass der dortige Herrensitz zur Zeit Dinicu Golescus einen
Treffpunkt großer Geister der Revolutionsjahre bildete, die voll patriotischer Begeisterung
mutige Zukunftspläne schmiedeten.
Die Ortschaft Tiţeşti erinnert an eine kuriose Gestalt der Technikgeschichte, den Erfinder D.
Popescu, dem man neben dem Chiffrierschloss ein Steuersystem für Ballonluftschiffe
verdankt, das 1904 Furore machte. Das Becken von Schitu Goleşti erinnert mit seinen
Abraumhalden an den hier ausgeübten Kohleabbau und nicht weit, bei Colibaşi-Piteşti,
befindet sich die Geburtsstätte des Personenkraftwagens „Dacia“, dessen größere Brüder,
die ARO-Generation, in Câmpulung vom Fließband rollen.
Doch soweit wir schon auf dem Herweg die Natur bewundern konnten, erfasst einen
geradezu ein Taumel, wenn man die Schwelle des Mateiaş überschreitet. Hier ändert sich
nämlich das Bild brüsk. Vor uns öffnet sich der Nordwestwärts-Ausblick auf das Gebirge,
während links im Tal die Dâmboviţa als schäumender Wildbach über die Felsschwellen
schnellt und die Straße durch Rucăr ins Amphitheater von Podu Dâmboviţii hinaufklimmt.
„Für solche, die die Schönheiten dieses Landes nicht kennen, genügt dieser Weg, um sie
seelisch für immer in den Bann dieses Stücks Erde zu locken, das alles Erlebte an Schönheit
übertrifft...“, heißt es in den Schilderungen eines bekannten Reiseschriftstellers.
Jenseits der waldbedeckten Rücken ragt der schartige Kamm des „Königstein“ ins Azur
empor und gemahnt an die Vergänglichkeit alles Irdischen, an Ritterheere, Kumanen, an Karl
XII. von Schweden, der hier vorüberkam, an Reiche und Arme, die diesen Weg in beide
Richtungen benutzten, Fürsten, Hirten, Handwerksburschen. Alle mussten an der Zollmaud
von Dragoslavele vorbei, und wenn sie Glück hatten, gelangten sie wie wir nach Fundata,
einer der charmantesten Bergsiedlungen der Karpaten, einem ausgesprochenen
Freilichtmuseum voll überlieferter echter Bauernzivilisation, einer Kunst des Holzes
verbunden mit einer Kunst der Wollverarbeitung, die ihren Niederschlag vor allem im
Hausbau und in der Ausstattung der Bauernstube finden. Dabei gehört zu den verbreitetsten
Gehöftanlagen die sogenannte „Vierkanter“, d.h. das geschlossene und befestigte Gehöft,
wie es Streusiedlungen bereits in früher Vergangenheit eigen war. Die Bauernstube dagegen
ziert der entlang der lediglich innen verputzten Bohlenwände verlaufende Wandteppich, die
„zăvastă“, deren Ursprung (anderweitig heißt er „scoarţă“, d. i. Baumrinde) auf eine
Rindenschicht zurückgeht, die die mit Moos oder Lehm ausgefugten Wände bedeckte, ehe
man den Wandverputz kannte.
Hier stellt man aber auch den in Tannenrinde verpackten köstlichen Brimsenkäse und den
geräucherten Weichkäse her, denn Schafhaltung und Milchwirtschaft wird hier seit je groß
geschrieben, laden die ausgedehnten Almwiesen doch geradezu ein, das saftige Gras zu
nutzen, in dem gegen den Königstein hin eine Seltenheit unter den Wildpflanzen, d. h. eine
sozusagen nur hier auftretende Nelkenart (Dianthus callizonus), ist.
Fast einmalig erweist sich übrigens hier im geschützten Becken von Muscel das mit dem
Schweizer Luftkurort Davos wetteifernde Schonklima, das einen eigentümlichen
Pflanzenwuchs hervorbrachte, während in den angrenzenden dichten Wäldern der unter
Naturschutz befindliche Auerhahn und der Karpatenhirsch zu hören sind und die Gämse das
Reich der schartigen Felsgrate beherrscht. Naturschutzgebiete bilden übrigens auch die
Muschelkalkfelsen vor Albeşti und die Schiefervorkommen vom Marlauţberg, innerhalb derer
nicht weniger als 29 paläonthologisch interessante Abdrücke verschiedener Fischarten
gefunden wurden, die auf subtropische Klimaeinflüsse in diesem Gebiet hinweisen.
Ich behauptete eingangs, man müsse ein Gebiet „erleben“, also am besten per pedes
durchwandern und dabei die Augen und Ohren offen halten. Das heißt, alle Eile und Hektik
vergessen und sich ganz der Entspannung hingeben. Sucht jemand dies, so findet er in den
Tälern Muscels gewiss das Ersehnte.
(Verlag Neuer Weg, Bukarest - Komm Mit 87, S. 136 – 141)
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