Eine Urlaubsfahrt durch fünf Gebirgszüge
von Gerhard Bonfert
Unser Sommerreiseziel war diesmal der Gâlcescu-Gletschersee im Parâng-Gebirge. Es sollte eine Erlebnisfahrt werden, also wurde nicht die sonst übliche Route gewählt. Auch das Mühlbacher-, Şureanu- und Lotru-Gebirge gehörte in den Ferienplan – ihre schönsten Abschnitte sollten durchwandert werden.
Bei Tagesanbruch fuhren wir aus Sibiu/Hermannstadt auf der Europastraße E 68 (ehemals E
15 A) in westlicher Richtung nach Sebeş/Mühlbach, hielten uns einige Stunden im kleinen
Städtchen auf, um die Stadtpfarrkirche mit dem schönen Flügelaltar zu besichtigen.
Sebeş/Mühlbach ist nicht reich an Sehenswürdigkeiten. Für den Naturfreund ist aber der von
der Stadt keine drei Kilometer entfernte „Rote Berg“ (Râpa Roşie) mit seiner etwa 200 Meter
hohen und 300 Meter breiten Wand von großem Interesse. Bereits vor mehr als hundert
Jahren wurde der Rote Berg am rechten Ufer des Zekesch von Karl Fuss (1817 – 1874) als
eine „für den Lepidopterologen (Schmetterlingsforscher) und Botaniker reiche Localität“
bezeichnet. Regen und Witterung hatten zu Erdrutschen geführt und die unter dem Erdreich
von Eisenoxyd rot gefärbten Sandsteine bloßgelegt. Ihnen verdankt der Berg seinen Namen.
Schroffe, zackige Wände bieten sich dem Auge in ihrer ganzen Schönheit, besonders in der
Abenddämmerung, wenn die sinkende Sonne ihre letzten Strahlen auf den Berg wirft.
Wir verlassen Sebeş/Mühlbach in südlicher Richtung und fahren auf der DN 67 C, der
einstigen Königsstraße, die Siebenbürgen mit Oltenien verbindet, über die Südkarpaten,
durch Petreşti/Petersdorf, den immer näher rückenden Bergen entgegen. Ein Bergdorf folgt
dem anderen: Săsciori, Laz, Căpâlna, Mărtinie, Şugag und Dobra. An Sonn- und Feiertagen
kann man die rumänischen Bergbauern in ihren schönen Volkstrachten bewundern. Şugag,
die größte Siedlung, scheint endlos zu sein. Die Bergbauern befassen sich hauptsächlich mit
Schafzucht und Obstbau. Dieser Landstrich ist, wie allerorts, wo sich Berge und Felsen
türmen, von Sagen umwoben. In Căpâlna erzählt man sich von der schönen Ileana, der
Dorfrichter-Tochter, die von Andrei, dem Sohn einer armen Witwe, heiß geliebt wurde. Ein
Auge auf die schöne Ileana hatte aber auch der Teufel geworfen und entführte sie eines
Tages. Andrei, kräftig und mutig, nahm die Verfolgung auf und stellte den Entführer auf
einem felsigen Steg, der nach Jina führt. Wie der Kampf ausgegangen ist, weiß niemand.
Der Steg heißt im Volksmund Teufelspfad (Poteca dracului).
Die Asphaltstraße schlängelt sich 14 km entlang des Mühlbaches aufwärts zum Staudamm
Tău Bistra, einem der drei Staudämme im Mühlbachtal. Der zweite ist bei Oaşa und der dritte
wird bei Dobra gebaut. Über 50 Kilometer Stollen wurden bisher durch den Berg getrieben.
Der Bau der Wasserkraftwerke hat auch die Landschaft verändert. Die zahlreichen
Wassermühlen stehen still; auch die Mühlsteine der ältesten Mühle, jener des Moş Isac,
drehen sich nicht mehr. Das Wasser setzt nun Turbinenräder in Betrieb.
Vom Staudamm Tău Bistra bis zu jenem von Oaşa sind es 20 Kilometer (auch die letzten der
Asphaltstraße). Wir zweigen aber schon 2 km nach dem Staudamm Tău Bistra nach rechts
ins kleine Miraş-Tal ab und folgen einem Forstweg. Es geht bergauf bis zur Wasserscheide,
dem Miraş-Pass, dann in südlicher Richtung hinunter ins Tal des Râul Mare und bergauf
zum Preasca-Pass, einem breiten Bergrücken, auf dem wir eine späte Mittagsrast halten.
(Von Tău Bistra sind wir genau 25 km gefahren.)
Nun rollt der Wagen in SW-Richtung auf einem schwer befahrbaren Hohlweg (bei Regen
nicht zu empfehlen) und über zum Teil kahle Bergrücken. In einer kleinen Senke, in der
Schafherden weiden, ist Endstation für jedwelche Art von Kraftfahrzeugen. Der Wagen wird
abgestellt, und auf Schusters Rappen folgen wir einem Pfad durch dunklen Tannenwald steil
aufwärts, bis wir nach 30 Minuten die Şureanu-Berghütte (1734 m ü. d. M.) erreichen. Vor
dem alten einstöckigen Bau, dessen Gebälk und Schindeldach von Wind und Wetter
geschwärzt sind, steht ein langer Holztisch mit zwei ebenso langen Bänken und ladet zum
Rasten ein. Und wo ist der See? Nirgends ein Hinweis, obwohl See und Berghütte immer in
einem Zug genannt werden. Er sei auf einem Pfad zwischen dem Wirtschaftsgebäude und
der Berghütte in zwei Minuten zu erreichen, werden wir belehrt. Dann stehen wir vor ihm.
Links und rechts und im Hintergrund türmen sich hohe Uferwände, als ob dies alpine Kleinod
streng bewacht werden müsse, bloß eine der Seiten öffnet sich für den Abfluss. Von hier
kann man weit in das Land blicken. Weniger seine Größe, sondern vielmehr die Lage und
das kristallklare Wasser machen die Anziehungskraft dieses Meeresauges aus. 300 Meter
über uns erhebt sich majestätisch der Şureanu-Gipfel (2058 m). Zu seiner Besteigung
benötigt man etwa eine Stunde.
Abschied von See und Hütte, es geht zurück zu unserem Auto und zu unserer
Mittags-Raststätte, dem Presaca-Pass. Der Weg führt uns nun nach Süden hinunter.
Dem Weg entlang des Presaca-Bachs folgend, sind wir nach etwa 15 km im Mühlbachtal
(DN 67 C), unterhalb der zum Teil aufgelassenen Fetiţa-Arbeitersiedlung, da der Staudamm
für den Oaşa-See schon seit Jahren fertig ist. Der Stausee ist der größte (135 Millionen
Kubikmeter Wasser) und höchstgelegene (1255 m ü. d. M.) im Mühlbachtal. In diesem Teil
des Mühlbachtals hat auch der rumänische Schriftsteller Mihail Sadoveanu (1880 – 1961) so
manchen Sommer verbracht; das Frumoasa-Tal (Schöne Tal) kommt oft in seinen
Erzählungen vor. Auf der Dammkrone fahren wir ans rechte Seeufer, dann den See entlang
bis zur neuen Oaşa-Schutzhütte (1280 m), die eher ein kleines Berghotel ist. Am See-Ende
hört die Asphaltstraße auf. Nun geht es in langsamem Tempo auf einer Schotterstraße
bergaufwärts durch einen Tannenwald, vorbei am Forsthaus Tărtărău bis zum gleichnamigen
Pass (1665 m). Oben angelangt, genießt man einen schönen Ausblick auf das
Parâng-Gebirge. Nach der Pass-Höhe geht es erneut bergab, und vor Sonnenuntergang erreichen
wir die Schutzhütte Obârşia Lotrului (1340 m). Wir sind im Quellgebiet des Lotru.
Eigentlich liegt die Obârşia-Lotrului-Hütte an der Mündung des Pravăţ-Baches in den Lotru.
Hier, am Schnittpunkt des Lotru-, Şureanu-, Zibins- und Parâng-Gebirges, befindet sich auch
die höchstgelegene Straßenkreuzung. Wir sind aus dem Norden gekommen. Sollte die Reise
fortgesetzt werden, geht es im Süden über den Urdele-Pass (2228 m) auf der einst höchsten
Gebirgsstraße nach Novaci (Olteni); im Westen über den tiefer gelegenen
Groapa-Seacă-Pass (1598 m) und durch die wilde Jieţul-Klamm nach Petroşani in das Schil-Tal; ostwärts
führt die Straße bergab zum Vidra-Stausee nach Voineasa in das Alttal. Vorerst wird
gerastet.
Um schöne Zeltplätze muss man im Quellgebiet des Lotru-Bachs nicht bangen. (Wer kein
Zelt hat, findet ein Obdach in der Berghütte oder in einem der zahlreichen
Camping-Häuschen.) Sonnige Urlaubstage verbringen wir hier, mit kurzen Ausflügen in die
umliegenden Berge oder zum Vidra-See.
Der große Tag für uns ist der Aufstieg zum Gâlcescu-See im Parâng-Gebirge. Eigentlich sind
es mehrere Seen in Terrassen-Spuren eines ehemaligen Gletschers.
Um Zeit zu gewinnen, fahren wir südwärts auf der einstigen Königsstraße, durch die noch
breite Lotru-Au und zweigen nach etwa 4 km (bei der kleinen Brücke) nach rechts auf eine
Forststraße ab. Streckenweise geht es durch das Bachbett, dann wieder auf dem Forstweg
durch Wiesen und Wald an der Berglehne, am nun weniger Wasser führenden, aber
wilderen Bach entlang. Nach weiteren 4 km hat die Herrlichkeit ein Ende. Der Wagen wird
abgestellt, die Rucksäcke geschultert und der Markierung rotes Kreuz folgend, wandern wir
auf einem Pfad durch Fichtenwald, das Tosen des Wildbaches als ständigen Begleiter. Von
einer Lichtung aus ein schöner Ausblick auf die gegenüberliegenden Berge. Die
Verschnaufpause ist kurz, denn die Zeit drängt. Nahe beim Zusammenfluss von Iezer- und
Gâlcescu-Abfluss überqueren wir den Bergbach. Nach zehn Gehminuten lichtet sich der
Wald. Wir betreten das Reich der subalpinen Zone, in der sich die ersten, stark
abgerundeten Gletscherwellen abzeichnen. Schräg überqueren wir einen Bergrücken, dann
geht es steil zwischen Latschen und über Felssteine hoch hinauf. Noch ein Bergrücken und
Latschenfelder, und plötzlich liegt der Gâlcescu-See vor uns, eingebettet in einem
mehrstufigen Riesenkessel (1924 m ü. d. M.), einer durch Erosion entstandenen
Glazialwanne, flankiert vom Piatra-Tăiată- (2301 m) und vom Pleşcoaia-Gipfel (2339 m).
Glücklich schweift unser Blick über den etwa drei Hektar großen Wasserspiegel, der
Höhenwind fächelt über unsere geröteten Gesichter.
Gemächlich schreiten wir um den See, suchen eine gute Raststelle und packen die
Jausenbrote aus. Bald aber schon steigen wir rechter Hand einen Bergrücken hoch, an
kleinen, seichten Seen, deren Wasser wahrscheinlich vom letzten Regen stammt, und an
Alpenrosenfeldern vorbei. Doch die hohen Grate locken und locken. Wir können nicht
widerstehen und beginnen im Felsengewirr hochzuklettern. Die Vegetation ist spärlich,
versteckt lugen aus Felsspalten vereinzelte Gräser hervor.
Wir stehen 1987 m ü. d. M. vor dem kleinen Bruder des Gâlcescu-Sees, dem Vidale-See.
Dicht daneben, aber etwas höher der Pencu-See (1991 m ü. d. M.). Unsere Aufmerksamkeit
wird von einem munter zu Tal plätschernden Bächlein geweckt. Und da wir weiter hinauf
wollen, folgen wir seinem Lauf, umrunden einen Grat und erblicken, im Sattel angelangt, im
Schatten der Setea-Mare-Spitze (2365 m) mehrere kleine Seen, die Păsări (Vogel)-Seen
(2093 m ü. d. M.). Auf der rechten Seite, das Gesicht weiter dem mächtigen Parâng-Gipfel
zugewandt, befindet sich ein großer, trockener Kessel, in dem riesige Felsbrocken verstreut
wie von Riesenhand hingeworfen liegen. Von hier oben sieht man nun den ganzen
Stufenkomplex der Seen, der wohl einzigartig in seiner natürlichen Anlage sein dürfte.
Wenn die Sonne auf halbmast im Westen steht, der Parângul Mare (2519 m), der einzige
2500er zwischen Alt und Schil, einsame Spitze bleibt und auf der Ostseite die zackigen
Grate immer längere Schatten werfen, dann heißt es, an den Abstieg denken. Ein letzter
Blick auf den sich leicht kräuselnden Wasserspiegel des Gâlcescu-Sees und Abschied von
den Zweitausendern.
Es ist empfehlenswert, sich die Zeit so einzuteilen, dass auch Zeit für einen Seitensprung
vom Wanderweg übrigbleibt, um einen der Wasserfälle des Wildbachs zu besichtigen. Von
oben kommend, nahe an dem Aufstieg, erblickt man rechter Hand an einem klotzigen
Felsbrocken die Inschrift „Pârâul Petreasa“. Schreitet man von hier direkt ins Tal zum
Wildbach hinunter, stets dem Rauschen des Wildbachs folgend, so stößt man nach etwa 50
Meter auf einen tannenhohen wild tosenden und schäumenden Wasserfall. Die Flut stürzt
viele Meter tief, sprüht über Felsklippen, um schließlich ein natürliches Becken zu füllen und
dann erneut, wie ein fröhliches, ausgelassenes Kind wieder zu Tal zu hüpfen. Von hier sind
es nur noch zehn Minuten bis zum abgestellten Pkw.
Zwei Tage haben wir noch im Quellgebiet des Lotru verbracht, die wohltuende Ruhe dieser
Berglandschaft genossen. Die Heimfahrt erfolgte über den Tărtărău-Pass, vorbei am
gleichnamigen Forsthaus, wo wir auch das Mühlbachtal verlassen. Nun wird ins östliche
Frumoasa-Tal abgezweigt, auf einer Forststraße der Cindrel-Pass (1725 m) durchquert,
hinunter ins Zoodt-Tal (Sadu) bis zum Forsthaus Şerbănei gefahren, dann der Zoodt
überquert, um über den Muncel-Pass den höchstgelegenen Kurort Rumäniens, die Hohe
Rinne/Păltiniş (1440 m ü. d. M.), zu erreichen. Von hier sind es bis Sibiu/Hermannstadt auf
der Asphaltstraße nur noch 33 km. Als wir die Stadt am Zibin, unseren Ausgangspunkt,
erreichten, schickte die Abendsonne ihre letzten Strahlen über Türme und Zinnen.
(Verlag Neuer Weg, Bukarest - Komm Mit 87, S. 162 – 169)
Seite | Bildunterschrift |
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162 | Die Oaşa-Berghütte, willkommener Rastplatz nach ermüdenden Wanderstunden. |
164 | Der Pasării-See, eine einmalige Landschaft. |
165 | Neugierig betrachtet er den Neuangekommenen. |
166 | Über Stock und Stein – Kraftprobe für den Pkw im Şureanul-Gebiet. |
167 | Von weither muss manchmal das Wasser geschleppt werden. |
168 | Der Zeltplatz von Obârşia Lotrului ist im Sommer Treffpunkt begeisterter Wanderer. |