von Wilhelm Kugler
„Der Patron ist mit seinen beiden Adjutanten wieder mal im Blauen Riss unterwegs!“ Diesen
Satz bekam jeder zu hören, der in den vierziger und fünfziger Jahren am Wochenende zur
Coştila-Hütte im Bucegi-Gebirge (Südkarpaten) zum Klettern aufbrach.
Gemeint war der bekannte Alpinist Emilian Cristea, der mit seinen „Gehilfen“ Mircea
Crăciunescu und Paul Borănescu seit 1946 den Blauen Riss belagerte.
Mit Riesenrucksäcken, zwei dicken 40-m-Hanfseilen und ...zig Eisenstiften, Rohrhaken und
Strickleitern stiegen sie in die Wand ein, kletterten einige Seillängen, gaben auf, seilten sich
ab, kamen am nächsten Sonntag wieder, wurden vom Gewitter durchweicht, „schliefen“ auch
schon mal in der Wand im „Biwak I“. So ging das sieben Jahre lang, bis 1952 endlich
Cristeas neuer Seilgefährte Aurel Irimia die Schlüsselstelle, den engen Riss-Kamin „La
Tendor“, mittels eigens dafür ausgedachter und gebauter Rissklemmen („TENDOR“)
bezwang. Die Seilschaft übernachtete in der Höhle mitten in der senkrechten Wand, die sie
„Biwak II“ nannten, und meißelte ihre Namen samt Datum in den bröseligen Sandstein.
Die Schlusswand „Faţa Muştelor“ – so genannt, weil angeblich dort nur Fliegen
hinaufkrabbeln konnten – wurde zunächst mittels Seilzug von oben bezwungen und später
mit fixen Drahtseilen versehen.
Die Rissklemmen fielen schon im ersten Winter wegen der Wechseltemperaturen aus der
Wand, die Drahtseile rosteten durch, und wie das im Klettersport schon ist, erwiesen sich
später all diese künstlichen Hilfsmittel als überflüssig: es ging auch ohne.
Schon 1954 wiederholten Kronstädter Cristeas Führe und bemängelten deren
Unkonsequenz: Nur 40 m des gut 100 m hohen eigentlichen Blauen Risses waren
durchstiegen, dann wich die Führe rechts aus. Alexandru Floricioiu und Norbert Hiemesch
aus Braşov gelang dann der Direktdurchstieg über den gesamten Riss und die
Riesendächer, die ihn oben abriegelten, wobei sie in „Biwak III“ und „Biwak IV“
übernachteten. Rechts davon hatten Aurel Irimia und Ladislaus Karacsionyi schon vorher die
Lespezi-(„Platten“)-Führe durchstiegen. Eine Sensation war dann die erste
Winterdurchsteigung des Blauen Risses durch Igor Popovici und Robert Domneşteanu.
Dann war die „schwierigste Führe der Karpaten“ dran: „Traseul Speranţei“
(„Hoffnungsführe“). Mircea Opriş, Nicolae Jitaru und Gefährten schafften es. Auch diese
Führe wurde bald darauf im Winter durchklettert: vom Bergsteigerehepaar Coliban. Erstmals
also machte auch eine Frau mit.
Und weiter ging die Leistungssteigerung: Hoffnungsführe, Blauer Riss und Vielbegehrter
Riss, drei extrem schwierige Kletteranstiege (6 B) wurden durch eine Seilschaft an einem
Tag durchstiegen – Franzosen nennen das „Enchaînement“.
Für jede der drei Führen fanden sich auch Alleinbegeher.
Zwischen Blauem Riss und Plattenführe fällt eine eindrucksvolle, überhängende
Verschneidung auf. 20 Jahre nach der Blauen-Riss-Direttissima wurde sie durch Mihai
Pupeza angegangen. Obwohl der Ausstieg zum Grat erst einem anderen gelang, erhielt die
Verschneidung Pupezas Namen. Respektvoll sprachen Wiederholer von der neuen Führe,
die den Einsatz zeitgemäßer Klemmkeiltechnik erforderte.
Pupeza war es auch, der rechts des Blauen Risses einen weiteren Durchstieg versuchte.
Der Ausgang dieses Versuchs ist indessen noch unbekannt. Dafür kam 1985 überraschend
die Nachricht vom „Wassertropfen“, einer Führe des jüngeren Kletternachwuchses: Ion
Cojan aus Buşteni fand neue Möglichkeiten, die Wand zwischen Hoffnungsführe und Blauem
Riss zu bezwingen. Beim ersten Wiederholungsversuch stürzte Himalaya-Bergsteiger Marius
Mărcuş und holte sich Verletzungen.
„Der Wassertropfen“ wurde zur „Emilian-Cristea-Gedächtnisführe“ umbenannt. Cristea ist
1982 einem Fahrradunfall zum Opfer gefallen.
(Verlag Neuer Weg, Bukarest - Komm Mit 87, S. 64 – 66)
Seite | Bildunterschrift |
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64 | Kartenskizze: Peretele Văii Albe |
65 | Bis hierher können auch gewöhnliche Bergwanderer gelangen. Die „Lespezi-Platten“ werden aus der Ferne bewundert, sie sind das Gebiet der Alpinisten. |