Eine Bootsfahrt auf dem Someş von Rodna bis Sathmar
von Helmut Paul (Dresden)
Donner reißt uns aus dem Schlaf, Regen trommelt aufs Zeltdach, es gießt, was der Himmel
hergibt. Keine Bange, unser Zelt ist sicher, da kommt kein Tropfen Regenwasser durch!
Nach jedem Donnerschlag verstärkt sich der Regen, und wenn man denkt, eine Steigerung
sei nun nicht mehr möglich, so wird Sekunden später der gegenteilige Beweis geliefert. Es ist
ein Inferno des Wassers. Der Zeltboden beginnt sich zu bewegen. Das Wasser fließt von
dem nur wenige Meter hohen Hang unter dem Zelt hindurch. Das kann ja heiter werden!
Eine winzige Pause im Toben der Elemente nutzend, ziehe ich einen Graben in den hang,
über den, in ganzer Breite, zentimeterhoch das Wasser fließt. Vom Talausgang her zieht die
zweite Gewitterfront heran. Wieder tost das Wasser vom Himmel, das man erstaunt ist,
zwischen den zu einer Einheit verschmelzenden Tropfen noch Luft zum Atmen zu finden.
Der Graben funktioniert, aber er kann die Wassermassen nicht fassen und wieder bewegt
sich der Zeltboden. Über uns ist nunmehr das Zentrum des Gewitters. Blitz und Donner
verschmelzen zu einer blendenden und krachenden Einheit.
Unten, in der Schlucht, in der sich unsere Waschstelle befindet, ist das unscheinbare Rinnsal
zu einem kaum noch überschreitbaren Sturzbach geworden. Der Someş ist in dieser kurzen
Zeit um einen viertel Meter gestiegen! Und noch immer ziehen von Westen her neue
Wolkenfronten heran. Rasch vertiefe ich den Graben – Vorsicht ist besser! – und schon
erfüllt ein Brausen des Regens erneut das Tal. Das ist kein Regen mehr, was da
herniederstürzt, auf unsere Zelte, auf die Hänge, auf die Berge ringsum, das ist ein
Wasserfall. Doch ebenso rasch wie er losbrach, versiegt dieser gewaltige Sturzbach, der
Himmel klart auf und die Gipfel des Rodna-Gebirges leuchten im Licht der aufgehenden
Sonne.
Zehn Zentimeter Wasser mehr hatten wir uns gestern gewünscht – jetzt haben wir
wenigstens einen halben Meter mehr im Fluss, und das Wasser steigt noch immer. Doch
zufrieden sind wir deshalb keineswegs – nun ist es uns zuviel.
Kakaobraun tobt das Wasser im Tal. Wir nutzen den Tag für einen Bummel durchs Dorf.
Eine Mühle steht am Fluss, die Wasserräder drehen sich, sie arbeitet. Säcke mit Korn
werden gebracht, das Mehl rinnt aus der mit Schnitzerei verzierten Öffnung des Mahlwerkes,
Mehlsäcke werden davongetragen. Ein zweihundertjähriges technisches Denkmal in voller
Funktion. Die Hausweberei wird gepflegt. Fast in jedem Haus entdecken wir einen Webstuhl,
und was da unter den Händen der fleißigen Frauen entsteht, lässt uns von einem Entzücken
ins andere fallen. Katrin wird von den liebenswürdigen Leuten mit einem prächtig bestickten
Kostüm zur Braut herausgeputzt. Auf der Dorfstraße begegnen uns Bergbauern in
traditioneller Tracht, alles farbig bestickt. Frauen, den Spinnwirtel in der Hand, ein Tragetuch
auf dem Rücken, kommen aus Gassen malerischer, schindelgedeckter Häuser. Land am
Someş. Wie lange wird es das alles noch geben? Schon tragen viele der Bauten den
Stempel der Neuzeit.
Der nächste Tag sieht uns in unseren Booten. Das große Wasser hat sich verlaufen, doch
für uns ist es noch immer genug. Brausende Stromschnellen wechseln mit ruhigeren Stellen,
Wald- und Felsufer mit Feldern und Wiesen. Die Stromschnelle der Ortsausfahrt von
Sângeorz-Băi liegt wie ein Alptraum vor uns. Werden dort alle Boote heil bleiben? Und dann
sind wir mitten drin, und dann ist es schwierig hindurchzukommen – doch mit jedem
geschafften Meter wächst die Zuversicht, und schließlich liegt Sângeorz hinter uns, und in
uns ist nur Freude und eine große, silberschäumende Erinnerung.
Schnell vergehen die Tage auf dem Fluss, jeder hat seinen Namen. Nicht Sonntag oder
Montag, wie bei anderen Leuten. Unsere Tage heißen Ilva Mică, Feldru oder Năsăud. Und
jeder dieser Namen lässt Bilder vor unseren Augen entstehen und die Melodie der Wellen in
unseren Ohren erklingen. Mühlen und Wehre, Felsstufen im Flussgrund, über die das
Wasser, Schwälle und Walzen bildend, hinwegbraust, nadelspitze Kirchtürme und Berge,
immer wieder Berge. Der Tag Năsăud steigt vor mir auf, wie unser Pechvogel Helmut in der
Kaskade vor der Straßenbrücke mit Mann und Maus untergeht. Der Tag von Dej, mit der
Schinderei im stehenden Wasser, der Einöde vor dem einzigen großen Wehr. Die
Regentage zwischen Căciulat und Ardusat, wo wir für das Wasser kaum noch Verwendung
hatten. Bauersfrauen tauchen aus der Erinnerung auf, die bereitwillig ihre Gärten für uns
plünderten.
Unser letzter Tag heißt Sathmar/Satu Mare. Im Dämmern legen wir an. Schnell sind die Zelte
aufgeschlagen, ist das Abendessen zubereitet. Seltsam still ist es um unsere Zelte – wo sind
nur die Kinder? Unbemerkt von den Großen hat sich die Kinderschar davongemacht, selbst
Kuddel, unser Kleinster, ist verschwunden. Hinter unseren Zelten liegt der Deich, der die
Stadt vor den oft verheerenden Fluten des Someş schützen soll. Was sich hinter ihm
verbirgt, wissen wir nicht. Da kommt Motte atemlos über die Deichkrone, und mit ihr löst sich
das Rätsel der verschwundenen Kinder. Hinter dem Deich liegt ein wunderschönes
Thermalbad, und in ihm liegen unsere Kinder und alsbald auch wir.
Anderntags verpacken wir die Boote. Es gilt Abschied zu nehmen vom Someş. Wir kommen
wieder, noch locken die brausenden Wasser zu neuer Fahrt.
(Verlag Neuer Weg, Bukarest - Komm Mit 86, S. 120 – 125)
Seite | Bildunterschrift |
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120 | Die Regentage zwischen Căciulat und Ardust machten die Bootsfahrt oft zur Qual. |
121 | Unsere Tage heißen Ilva Mică, Feldru oder Năsăud. Kartenskizze |
123 | Eine Mühle steht am Fluss. Aber kein Museumsstück. |
124 | Die Hausweberei wird noch in allen Ortschaften gepflegt. |