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Hier spielte die Natur Bildhauer

Piatra Singuratică im Hăşmaşul-Mare-Massiv – Drei heiße Sommertage im Kältegebiet Rumäniens

von Gerhard Bonfert

Für viele meiner siebenbürgischen Landsleute, und nicht nur für sie, sind die Fogarascher, das Zibins- und Lauterbachgebirge der Inbegriff von Bergwelt überhaupt. Mit ihren Zweitausendern sind diese Berge ein stattlicher Anblick. Seit man motorisiert ist, sind aber auch die Westkarpaten näher gerückt. Das Karstgebiet, die zahlreichen Höhlen mit den unterirdischen, zum Teil verfolgbaren Wasserläufen, gehören längst zum Urlaubsziel in- und ausländischer Wanderfreunde.
Entlegener und weniger bekannt hingegen sind die Ostkarpaten. Man berührt sie hauptsächlich, wenn man durch ihre Pässe in die Moldau zu den geschichtsträchtigen Burgen und Fürstensitzen oder in das Klostergebiet der Bukowina fährt. Nur wenige schultern den Rucksack und greifen zum Wanderstab, um diese reizvolle Berglandschaft auf Schusters Rappen zu erleben.
Während unseres Zelturlaubs an der Schwarzmeerküste hatten wir, wie es so üblich ist, wenn man „Haus an Haus“ oder „Wand an Wand“ wohnt, Ferienfreundschaften geschlossen. Es waren Leute aus dem jungen Bergbaustädtchen Bălan (Kreis Harghita). An den langen Abenden, während wir vor dem Zelt saßen, dem Wellenschlag lauschten und Reiseerinnerungen austauschten, kam das Gespräch auch auf das Gebirge – am Meer träumt man von den kühlen Bergen, und im Gebirge vom heißen Meeresstrand –, ein jeder lobte seine engere Heimat, und um überzeugender zu wirken, wurde zu gegenseitigem Besuch eingeladen.
Ein verlängertes Wochenende stand vor der Tür – die beste Gelegenheit, der Einladung Folge zu leisten. Am frühen Morgen eines späten, aber schönen Sommertages starteten wir aus Sibiu in Richtung Bălăn. Um auf der Hinfahrt auch einige interessante Ortschaften mit kultur-historischen Bauwerken zu besichtigen, wurde die Reiseroute dementsprechend festgelegt.
Die Fahrt ging anfangs auf der DN 1, E 15 in Richtung Fogarasch. Bei Voila wurde nach links abgezweigt und auf der Straße, die nach Agnita/Agnetheln führt, bis Cincşor/Kleinschenk gefahren. Hier galt es, die Wehrkirche mit den Ringmauern, den Fruchtkästen (in Gefahrzeiten der Türkenangriffe wurden hier die Getreidevorräte aufbewahrt) und den zwei Türmen zu besichtigen, die von den Kleinschenkern noch heute als natürliche Kühlschränke (die landesweit bekannten sächsischen Specktürme) benützt werden. Weiter ging es auf einer Kreisstraße (Abzweigung nach rechts, kurz nach Cincşor) über Rotbach/Rotbav nach Şoars/Scharosch, Dacia/Stein, von wo ein Abstecher nach Deutschweißkirch/Viscri erfolgte.
In Deutschweißkirch gibt es eine der stattlichsten Wehrkirchen, die schon oft den Dekor für Abenteuerfilme mit historischem Hintergrund abgab. Ursprünglich im romanischen Stil erbaut, erfolgte um 1500 der Umbau zur Wehrkirche. Um diese Zeit wurde auch der mächtige Hauptturm gebaut. Die Ringmauer kam später (1630 und 1649) dazu. Für Kunstliebhaber sei erwähnt, dass sie hier eine der ältesten Schreinermalereien im Gestühl sehen können. Diese Wehrkirche steht wie so viele andere sächsische Wehrkirchen unter Denkmalschutz.
Dann rollte unser Wagen auf der DN 13, E 15 bis Rupea/Reps, wo die Burgruine von weitem die Landschaft beherrscht, und nach einer Abzweigung nach links gen Homorod/Hamruden. Für Caţa/Katzendorf und Drăuşeni/Draas reichte die Zeit leider nicht mehr. Die Sonne war im Untergehen, es dämmerte, auch wurde es merklich kühler, und dies nicht nur wegen der Abendstunde, als vielmehr wegen den Tannenwäldern, denn allmählich hatten wir das Hochland verlassen und fuhren auf unendlichen Serpentinen immer näher den Bergen zu.
Miercurea Ciuc, dem schönen, modernen Vorort des Kreises Harghita, widmeten wir nur einen kurzen Blick, denn es dunkelte bereits, und bis nach Bălan, unserem Ziel, waren noch 50 Kilometer zurückzulegen.
Am folgenden Tag zeigten uns unsere Freunde die nähere Umgebung. Bălan liegt in einem engen Tal, von hohen Bergen umgürtet, die zu kurzen Ausflügen auf stillen Waldwegen einladen. Im Nordosten erblickten wir auch unser nächstes Wanderziel: den Hăşmaşul-Mare- Gebirgszug (1792 m). In diesem Massiv entspringen der Mureş (Mieresch)-Fluss, die „Achse Siebenbürgens“, wie dieser Fluss noch genannt wird, da er das siebenbürgische Hochland in nahezu zwei gleiche Hälften teilt; der Olt/Alt, der sich den Weg nach Süden bahnt, und der Bicaz, der nach Osten durch die zerklüftete wildromantische Bicaz-Klamm fließt.
Der nächste Tag begann genauso schön wie die bisherigen. Wir schulterten unsere Rucksäcke und auf ging’s, den lockenden Bergen entgegen. Inmitten von Bălan, wo ein kleines Kirchlein steht, ging es schon in einem Nebengässchen bergauf. Wir folgten von da an der Markierung blaues Band, die uns nach etwa anderthalb Gehstunden zur Schutzhütte Piatra Singuratică (Einsamer Stein) – früher fälschlicherweise Piatra Unică genannt – führen sollte. Die Schutzhütte befindet sich am Fuße des Felsgebildes, dessen Namen sie trägt. Der Bildhauer dieser einsamen in den Himmel ragenden Gesteinsgruppe, von deren Spitze man einen weiten Blick in das Landesinnere hat, ist die Natur.
Doch nehmen wir nichts vorweg. Wir folgten also der Markierung blaues Band, verließen die letzten an Bergrücken gelehnten Häuser von Bălan, folgten für kurze Zeit einem kleinen Bachbett (Covaci), um dieses dann zu verlassen, da der Steg einen bewaldeten Bergrücken hochführt. Ab und zu gelangt man auf eine Lichtung, die, mal rechts, mal links, einen Ausblick in das weite Tal oder auf den felsigen Kamm gewährt. Etwa 15 Minuten vor dem Ziel labten wir uns an einer Quelle, deren kristallklares, eiskaltes Wasser unter einem vorspringenden Felsen sprudelt. Nach kurzer Rast ging es wieder einige hundert Meter steil bergauf. Immer wieder fesselte ein bizarres Felsgebilde unsere Aufmerksamkeit, immer wieder bot sich ein Ausblick auf den nahen Kamm, so dass wir es kaum merkten, wie rasch wir das Ziel erreichten. Plötzlich stand die Steingruppe Piatra Singuratică vor uns: eine erhobene Hand, die die Finger in das blaue Nichts streckt.
Von der am Fuße der Steinbrücke liegenden Schutzhütte führt ein ausgetretener Steg in die Felswand hoch. Von oben hat man einen weiten Ausblick in die Landschaft. Viel interessanter und auch nicht begangen erschien uns ein Aufstieg in das Felsgebilde von der anderen Seite über eine Geröllhalde (bei Schlechtwetter nicht begehbar).
Als sich nach dem Mittagessen dunkle Regenwolken zusammenballten, machten wir uns an den Abstieg, wählten aber hierfür den Weg über das Scaunului-Tal (Markierung rotes Dreieck). Die drohenden Wolken und der mit ihnen aufkommende kühle Wind erinnerten uns daran, dass wir uns eigentlich im Kältegebiet Rumäniens befinden. Im Kreis Miercurea Ciuc werden in unserem Land die größten Tiefstwerte im Jahr gemessen. Unsere Freunde meinten lachend, dass wir ihnen die drei heißesten Sommertage gebracht hätten.
Der Abstieg erfolgte über ein schwieriges, steil abfallendes Geröllfeld, dann, die Waldzone verlassend, über buckelige Almen, auf eine Forststraße, der wir abwärts, den Alt entlang, folgten. In etwa einer halben Stunde waren wir wieder in Bălan.

Ausflugsmöglichkeiten:

  1. Piatra Singuratică – Poiana Albă (Markierung rotes Band); Poiana Albă – Lacul Roşu (Markierung blaues Band). Gehweg etwa 4 – 5 Stunden.
  2. Piatra Singuratică – Vârful Naşcalat (1553 m) – Condra-Kreuz (Markierung rotes Band) – Lunca de Jos – Eisenbahnhaltestelle Tarcău (Markierung rotes Kreuz). Gehweg etwa 7 Stunden.
  3. Piatra Singuratică – Pârâul Scaunului – Culmea Lungă – Vârful Ascuţit (1567 m, heute auch Vârful Arbore genannt) – Gheorgheni (Markierung rotes Dreieck). Gehweg etwa 7 – 8 Stunden.

(Verlag Neuer Weg, Bukarest - Komm Mit 86, S. 11 – 16)

Seite Bildunterschrift
 
11 Das Hăşmaşul-Mare-Massiv.
12 Die Burg von Rotbach.
14 Das bizarre Felsgebilde der Piatra Singuratică.
15 Von hier bietet sich ein weiter Ausblick in die Landschaft.
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