Wege im Tal der Goldenen Bistritz
von Claus Stephani
Einsam und fast unbeachtet und immer noch fern vom heutigen Reisebetrieb ist das
Bergland am Osthang der rumänischen Waldkarpaten mit seinen vielen malerischen
Siedlungen am oberen Lauf der Goldenen Bistritz.
Wer gern wandert und die Initiative aufbringt, die Schnellstrecken des Massentourismus zu
verlassen, wird hier durch eine ungeahnte Fülle an landschaftlichen Schönheiten und
kulturgeschichtlichen Sehenswürdigkeiten dafür entschädigt, dass er kaum eine
Fahrgelegenheit hat und alle Wege zu Fuß zurücklegen muss. Auch gibt es hier keine
Hotels, doch findet man Unterkunft bei den Bergbauern – Rumänen, Zipser Sachsen und
Huzulen –, wo oft sogar schon ein Gästezimmer bereit steht, um Besucher aufzunehmen;
und wer mit der einheimischen Kost vorliebnimmt, ist auch sonst bestens versorgt.
Von Bukarest gelangt man in diesen vergessenen Winkel des südlichen Buchenlandes am
einfachsten mit dem Schnellzug nach Vatra Dornei, wenn man auf der Hinfahrt in Mestecăniş
aussteigt; von hier sind es noch 3 km bis zur Gemeinde Iacobeni (Jakobeny), dem Hauptort
der Umgebung. Bei der Rückfahrt muss man jedoch nicht mehr bis Mestecăniş laufen, denn
dann hält der Schnellzug auch in Jakobeny.
Diese Großgemeinde, zu der auch die weiter nördlich gelegenen Dörfer Ciocăneşti (7 km)
und Botuş (Botesch, 13 km) sowie eine Reihe von Weilern, wie Fundu Fieru (Eisenthal),
Ciotina (Schottergraben) u. a. gehören, ist etwa 16 km lang; hier leben außer Rumänen auch
heute noch Zipser Sachsen, deren Vorfahren ab 1784 einwanderten, als der Steiermarker
Großgrundbesitzer Karl Manz Ritter von Mariensee im Tal ein Eisenwerk eröffnete. Sowohl
die Rumänen als auch die Zipser sind äußerst gastfreundlich, und überall wird man gern
aufgenommen.
Von Jakobeny gibt es mehrere Ausflugsmöglichkeiten: z.B. in südlicher Richtung zum
Oalagebirge (1334 m) oder entlang der Goldenen Bistritz, flussaufwärts, nach Ciocăneşti und
Botesch, wo die berühmten Bauernhäuser stehen, deren Wände mit farbigen geometrischen
Stuckornamenten – ähnlich wie Webemuster – friesartig verziert sind. Jedes einzelne
Bauwerk ist ein Schmuckstück der Volksarchitektur, und wer Freude an Farbaufnahmen hat,
der findet hier unter dem azurblauen Sommerhimmel, den tiefgrünen Bergwäldern und
inmitten der üppigen Blumenbeete, die es in jedem Gehöft gibt, ein Angebot an Motiven, das
ihm die Wahl zur Qual macht.
Das Kolorit der Landschaft wird übrigens noch gesteigert durch die prächtigen rumänischen
und huzulischen Bauerntrachten mit floralen Motiven kunstvoll bestickt, die man an Sonn-
und Feiertagen überall bewundern kann.
Wandert man an der Goldenen Bistritz weiter, gelangt man – 6 km nach Botesch – zum
Zipser Weiler Valea Stânei (Hüttenthal), der etwas abseits, einige hundert Meter von der
Hauptstraße entfernt, liegt. Von hier führt ein schmaler Weg, zeitweilig am Hüttenthaler Bach
entlang, unterhalb des Großen Botesch (1472 m) zu den Huzulensiedlungen Obcina, Deluţ
und Botuşel; weiter geht es dann ins Moldawatal, nach Fundu Moldovei (Luisenthal, 8 km)
und Pojorâta (Poschoritta, 11 km).
Von der Abzweigung zum Weiler Hüttenthal sind es übrigens nur noch 4 km bis Cârlibaba,
von den Einheimischen „Kirlibaba“ genannt, eine Gemeinde, die durch die Vereinigung der
Dörfer Mariensee und Ludwigsdorf – in einem Zipser Lied besungen als „die Perlen im Tal“ –
entstanden ist. Hier leben außer Rumänen auch Deutsche, zum Teil sind es Zipser Sachsen,
und Huzulen.
Um die Herkunft des Ortsnamens Cârlibaba gibt es mehrere Sagen und
volksethymologische Deutungen. So heißt es z. B., dass hier am Kirlibababach einst ein
„Woldweibl“ oder „a schieche Hex“ gehaust habe; nach ihr erhielt der klare Gebirgsbach den
Namen Gârla Babii, woher dann später die Ortsbezeichnung abgeleitet wurde. Der
Sprachkundler Iorgu Iordan meint allerdings, dass Cârlibaba möglicherweise die
Verballhornung von „Karlsbach“ sei (nach dem erwähnten Großgrundbesitzer, dem einst das
ganze Tal gehört hatte, daher auch der Ortsname Mariensee). Der Volkskundler Leopold
Michael Hauser hat jedoch nachgesehen, dass dieser eigenartige Name türkisch-tatarischer
Herkunft ist, nachdem vor Jahrhunderten in dieser Gegend sich immer wieder Tataren
aufgehalten hatten; darauf verweisen auch eine Reihe von Berg-, Flur- und
Gewässernamen: Tatarka, Tatarschtschyna, Tatarenberg, Tatarenstein, Tatarenwiese,
Tatarenpass, Tatarenbach, Tatarenquelle usw.
Tatsache ist, dass Mariensee 1797 entstanden ist, als Ritter Manz hier ein Silber- und ein
Bleibergwerk in Betrieb setzen ließ und Facharbeiter aus der damaligen Zips (Slowakei)
herbeirief. Die Nachkommen der Zipser Bergleute sind heute zum Großteil im
Holzverarbeitungsbetrieb beschäftigt und als gute Fachkräfte allgemein geschätzt.
Bevor man die Umgebung von Mariensee zu erforschen beginnt, sollte man es nicht
versäumen, die alte rumänische Holzkirche (18. Jh.) und die beiden Zipser Kirchen – am
Kirlibababach und auf dem Ludwigsdorfer Kirchhügel – zu besichtigen. Baugeschichtlich
interessant ist besonders die erstgenannte mit ihrem barockartigen Zwiebeldach und dem
kunstvollen Schnitzwerk, das vor kurzem sorgfältig restauriert wurde.
Von Mariensee gibt es viele Wanderwege: bis auf den nahen Griechenhügel (Greaca), 1
Stunde, oder das Kirlibabatal hinauf, am huzulischen Waldweiler Edu (Jedt) vorbei zum
Lutschinaer Gestüt, etwa 6 Stunden.
Geht man in Mariensee die Bachstraße hinauf und lässt rechts den Dadu (1307 m) liegen, so
gelangt man bald, nach den letzten Gehöften, zum ersten Tatarenbach (Tatarca), der hier in
den Kirlibaba mündet. Wer Mut und Ausdauer hat, kann am Tatarenbach aufwärts bis zum
Obcioara-Tal (etwa 4 – 5 Stunden) wandern; von hier gelangt man in nördlicher Richtung,
nach weiteren vier Stunden, zum Gestüt von Lutschina. Vorher jedoch zweigt links ein
Wanderweg ins Tal des zweiten Tatarenbachs (Tatarca) ab, und von hier gelangt man
wieder zum Kirlibababach und hinunter ins Dorf.
Weiter oben im Kirlibabatal liegt, ebenfalls rechts, ein drittes „Tatarental“ (neben dem
Tatarkagebirge, 1448 m) mit einem gleichnamigen Gebirgsbach. Die Gegend hier ist schön
und „wild“, wie die Einheimischen sagen; vereinzelte Gehöfte – oft mit kinderreichen Familien
– bringen jedoch Leben in die Landschaft, denn sonst hätte man tatsächlich den Eindruck,
„am Ende der Welt“ zu sein. Für einen gestressten Großstädter ist diese Einsamkeit freilich
wohltuend, und wenn er länger so leben will, kann er sich bei einem der Bergbauern
einmieten. Die Menschen sind froh, wenn sie mit einem Ortsfremden sprechen können und
etwas von „der Welt draußen“ erfahren.
Wandert man vom Mariensee weiter in Richtung Prislop-Pass, der die Südbukowina mit der
Maramureş verbindet, kommt man bald zum Weiler Ţibău (Zibau, 4 km); nach weiteren 4 km
zweigt links ein Weg ab, der durch den Rotunda-Pass über das Suchard-Gebirge hinunter
ins Nösnerland führt – nach Şanţ (Neurodenau), Rodna (Altrodenau) und Maieru (Maierhöf).
Doch an der Goldenen Bistritz entlang gelangt man bald zu jener Stelle, wo links der
Lallabach aus dem gleichnamigen Tal in den Fluss mündet. Hier zweigt ein schmaler Weg
ab, der zur Holzfällersiedlung Valea Lalei (Lallathal) führt. Geht man am Lallabach aufwärts,
kommt man nach etwa 10 km zum Lallasee (Lacul Lala Mare), dessen kristallklares Wasser
sogar getrunken werden kann.
Um diese „Lacke“, wie die Zipser sagen, wurden im Laufe der Zeit zahlreiche Sagen
gesponnen. So heißt es, dass sich einst drei Jäger aus Mariensee her verirrt hatten. Als sie
sich dem Lallasee näherten, erblickten sie drei wunderschöne Mädchen, die hier badeten
und sangen. Es waren die Töchter der Waldfee. Einer der drei Männer ging näher und wollte
mitsingen. Als die Mädchen ihn bemerkten, wurde er in eine Steinsäule verwandelt. Nun
packte die beiden anderen die Angst und sie liefen zurück in den Wald. Als sie nach einigen
Tagen wieder nach Mariensee kamen, waren sie lange Zeit stumm; es hatte ihnen „die Red
verschlogen“. Die einzigen Laute, die sie hervorbringen konnten, waren La-la-la. Seither
heißen der See, das Tal, der Bach und die später gegründete Siedlung Lalla.
Was diese Landschaft einmalig und liebenswert macht, sind nicht nur die freundlichen
Menschen, sondern auch die „Waldweibl“, die guten und die bösen Feen, die „Mandl“ und
alle anderen phantastischen Gestalten des Volksglaubens, die hier in Mythen und Sagen
weiterleben.
(Verlag Neuer Weg, Bukarest - Komm Mit 86, S. 113 – 119)
Seite | Bildunterschrift |
---|---|
113 | Huzulische Bäuerin aus dem Bistritztal. |
114 | Rumänisches Bauernhaus mit Schindeldach und Reliefornamenten. |
115 | Wände und Fensterrahmen sind kunstvoll mit Reliefornamenten verziert. |
116 | Zipser Gehöft in der Marienseer Bach-Gasse. |
117 | Der „Stefani-Hof“ bei Poschoritta. |
119 | Hängebrücke über die Goldene Bistritz. |