Erlebnisse einer Berglandtour zwischen Banat und Oltenien
von Horst Engelmann
Es regnet in Schnüren und man möchte am liebsten überhaupt nicht unter dem Hotel
„Roman“ heraus. Jawohl, der moderne Bau steht buchstäblich über der Straße und links in
der Tiefe rauscht die Cerna. Aber was man sich mal in den Kopf gesetzt hat... Und das war
mal wieder – nicht zum ersten Mal – die Durchwanderung des Cernatals bis hinauf zur
Quelle und dann womöglich noch den Kalkretezat, den „Weißen“, hinauf. Aber nicht
geradeaus durchs Tal sollte es diesmal gehen, sondern mit recht vielen Abstechern bis
hinauf zum Kamm des Mehedinţi-Gebirges.
Also rein in die Waschküche. Kilometer um Kilometer bleibt die Straße zurück, die „Sieben
heißen Quellen“ und das neue Strandbad im Tal, die Felskanzel... Weit vorne ragt die Wand
des Inălăţul Mic. Kurzer Abstecher ins Cociu-Tal, dessen Düsternis an einem solchen Tag
auch von den Silberfäden der kleinen Wasserfälle nicht aufgehellt wird, und dann geht’s
rechts von der Straße ab.
Steil steigt der mit blauem Dreieck markierte Weg durch den Wald an, dann wird die Gegend
freundlicher, Wiesen, Obstbäume, Hütten, doch einen Meute wilder Hunde, die offensichtlich
nicht nur zum Bellen, sondern auch zum Beißen aufgelegt sind, belehren einen, dass man
hier nichts zu suchen hat, wenn der Herr nicht zu Hause ist. Ein Glück, dass es genügend
Steine am Weg gibt, um sich seiner Haut zu wehren.
Dann allerdings werden es der Steine ein bisschen zu viel. Steil schlängelt sich der Pfad
unter der Felswand dahin und treibt einem den Schweiß trotz der Kälte aus den Poren. Die
Büsche sind kümmerlich, und nur noch hie und da krallt sich eine Kiefer ins Gestein. Tief
unten im Tal liegt die Baustelle des Cerna-Staudamms.
Hinunter geht’s in ein Karsttal jenseits des Inălăţ-Felsens, und durch noch einige kleinere
Poljen (Karsterscheinungen) entlang einer ungewöhnlichen Wegmarkierung: Alte
Grenzsteine, die nun schon seit mehr als sechzig Jahren ihre Bedeutung verloren haben.
Früher als gedacht erreiche ich das erste Etappenziel, die Poiana Balta Cerbului, die
„Hirschweiherwiese“, schon vier Stunden nach dem Aufbruch aus Herkulesbad. Es ist eine
ausgedehnte, echte Polje: Wasser spritzt im Gras unter den Profilgummisohlen auf,
verschwindet gurgelnd in der Tiefe zweier Ponore, pockennarbengleich übersähen Dolinen
das Tal.
Eigentlich wäre noch mehr als genug Zeit, um wie geplant durchs Ţesna-Tal wieder zur
Cerna abzusteigen. Aber es beginnt wieder zu regnen. Ein verlassener Stall mit noch leidlich
dichtem Dach lädt ein, warum also noch unten am Fluss einen unsicheren Zeltplatz suchen...
Eklig-kalt dringt der Nebel durch die Ritzen der Stallwand. Auf also! Der Weg, der bald
gefunden ist, wird wohl hinunter zur Cerna führen, auch wenn die Richtung nicht ganz
stimmt, aber... im Nebel ist jeder Weg besser als gar keiner, und als endlich die Wolken
weichen, ist es zu spät zur Umkehr: Unter dem Kalkplateau, auf dem ich stehe, dehnt sich
horizontweit ein sanft gewelltes Hügelland aus, weit hinten ein Dorf. Karte her und Kompass:
Gorneşti muss es sein. Oltenien! Die Fremde lockt, und rasch wird der Reiseplan geändert.
Warum nicht ein kleiner Trip durch diese Landschaft, die übrigens gar nicht so fremd ist:
Mehedinţi heißt dieser westoltenische Landstrich, und man muss nicht allzu beschlagen sein
in rumänischer Etymologie, um die Herleitung von Mehadia, das drüben, jenseits der Berge,
im heimatlichen Banat liegt, zu erkennen. Und umgekehrt, heißt die Banater Landschaft, in
der dieses Mehadia liegt und auch Herkulesbad und auch Karansebesch, nicht Severin? Es
muss eine starke und sehr alte Beziehung sein zwischen den Menschen von hüben und
drüben, die sie dazu brachte, die Namen der heimischen Gefilde gegenseitig
auszutauschen...
Es ist tatsächlich Gorneşti. Enges Tal, die Häuser klettern die Hänge hinauf und sie sehen
ganz anders aus als bei uns drüben im Banat: Fenster, hoher Steinunterbau, darüber das
eigentliche Wohngeschoss mit dem einladenden offenen Vorgang, alles wohl geborgen unter
dem breiten Schindeldach. Man begrüßt mich freundlich und bedauert, dass ich nicht einen
Tag früher gekommen sei. Gestern wäre nämlich das „Măsuratul oilor“ gewesen, das
„Schafmessen“, jenes uralte, an einen Brauch mit sehr praktisch-wirtschaftlichem Sinn
gebundene Volksfest vor dem Auftrieb der Schafe auf die Bergweiden, und da wären Gäste
immer willkommen. Freundlich weist man mir den Weg, den ich nehmen muss, um doch
noch ins obere Cerna-Tal zu gelangen, und dann geht’s sozusagen hopp-hopp: ein
Hügelrücken, ein Tal, ein Dorf, ein Hügelrücken, ein Tal, ein Dorf: Costeşti, Prejna und
schließlich Isverna. Und das will kein Ende nehmen. Schon über eine Stunde geht’s immer
nur die Dorfstraße entlang. In der „Valea Verde“, dem „Grünen Tal“, bietet sich ein guter
Lagerplatz. Also rein in den Schlafsack. Auf dem Zeltdach trommelt Regen.
Der Kaffee ist heiß, stark und aromatisch, viel besser, als ich ihn in der Gaststätte dieses
Dorfes, zu dem keine Eisenbahnlinie und keine Asphaltstraße führen, erwartet habe. Ein
Mann kommt herein, sieht sich um, kommt auf mich zu: „Sie haben das Zelt unten in der
Valea Verde stehen? Es wäre gut, wenn Sie mal schnell hingingen. Das Wasser steigt...“ Ich
muss wohl ein bisschen dumm dreingesehen haben, denn nea Goriţă wird energisch, kommt
selber mit, damit’s schneller geht, und tatsächlich, das hochgestiegene, wirbelnde Nass leckt
schon beinahe an den Zeltheringen. „So, und nun kommen Sie zu mir, im Zelt ist’s sowieso
nichts bei so einem Sauwetter.“
Eine dampfende, duftende Schüssel mit einer Art Paprikasch, Kartoffeln, Zwiebel, Speck,
dazu die goldgelbe Mamaliga und würziger Käse sind besser als das beste Büchsenfleisch
und ein blütenweiß überzogenes Bauernbett besser als der beste Schlafsack.
Erwachen bei Hühnergegacker, Schweinegequietsch, Kuhgemuh und Schafegeblök, mitten
in den Tag des Bergbauerndorfes hinein. Und doch liegt eine eigene Stimmung über allem.
Der sechzehnjährige Gheorghe und die zwölfjährige Anişoara – richtiger Anisoara, denn der
ş-(sch-)Laut scheint in der Mundart von Isverna unbekannt – sind anders gekleidet als
gestern, und die Großmutter hat ausnahmsweise nicht den Spinnrocken im Gürtel stecken.
Richtig, es ist ja Sonntag. Auf dem Herd dampft der Dragaver, eine Art Spinat, der
großblättrig im Garten hinter dem Haus wächst, mit großen Fleischklößen, und ich sehe mir
die Gemeinde an, dieses große Dorf, das sich da wohl so sechs-sieben Kilometer durchs
Coşuştea-Tal hinab- und noch ein paar Seitentäler hinaufzieht. Saubere Häuser, saubere
Zäune, teils aus Holz, teils nach „neuester Mode“ auch aus Eisen und ein sonderbarer
Kontrast zwischen den stattlichen Bauten in der Dorfmitte – stockhohe Schule, stockhohes
Kaufhaus – und dem uralten Holzkirchlein, das sich fast nur durch den auf hohen
Holzbeinen abseits stehenden Glockenturm und den halbverblassten Wandgemälden unter
dem Vordach von einem Bauernhaus unterscheidet.
Am Abend Hora auf dem Dorfanger: Geige, Bassgeige, Akkordeon und die Sängerin in der
Mitte, ringsum im offenen Kreis die Tanzenden.
Gheorghe ist schon zeitlich in der Früh mit anderen Burschen hinauf auf die Alm in der „Poiana Beletina“ unter dem 1466 Meter hohen „Vârful lui Stan“, denn bald ist auch in Isverna das „Schafemessen“, der Auftrieb, und da müssen die Unterstände für die Tiere in Ordnung sein; die Großmutter zieht mit den Schafen, die ja auch noch vor dem Auftrieb fressen müssen, auf die Dorfweide, die nie ruhende Spindel zwischen den Fingern, und Vater Goriţă hat schon den Elektromotor der Kreissäge angelassen, sägt Bretter aus einem Fichtenstamm, so wie es wohl schon sein Vater und sein Großvater getan haben, allerdings ohne Elektromotor. Man ist verlegen, weiß nicht richtig, was anzufangen mit dem Gast, und der tut das klügste, was er tun kann, beschäftigt sich selbst, um den Gastgebern nicht zur Last zu fallen. Es regnet zum Glück nicht mehr, man kann sich die Umgebung des Dorfes ansehen. Zunächst die imposante Felswand, die das Dorf fast in der ganzen Länge in Nordosten säumt, und an ihrem Fuß die berühmte Höhle von Isverna. „Unsere Höhle...“, sagen stolz die Dorfbewohner, „da kommen die Leute von nah und fern, sogar aus Deutschland waren schon welche da, sogar mit Taucheranzügen...“ Na, jetzt wäre jedenfalls nichts auszurichten, auch mit Taucheranzügen nicht, denn wer könnte gegen den von fast einwöchigem Regen angeschwollenen Bach, der sich gurgelnd und wirbeln aus dem Schlund ergießt, schon ankommen.
Auch bei Regen kann die Arbeit nicht ruhn und das Zuschauen ist nicht nur peinlich, sondern macht auch keinen Spaß. Und so packe ich mit an. Ein neuer Zaun wird um den Garten aufgestellt. Holzpfosten, Stacheldraht. Die Arbeit bringt uns einander noch näher.
Das Wetter bessert sich und mahnt zum Aufbruch. Die Frage nach der Schuldigkeit für die
vier Tage „Vollpension“ wird fast als Beleidigung aufgenommen, Gastfreundschaft ist in
Isverna nicht käuflich. Ein Bauernwagen rumpelt vorbei, das „Grüne Tal“ aufwärts, ich nehme
die Einladung an, denn es wird später noch genug Gelegenheit geben, den Rucksack, der in
Isverna nicht leichter geworden ist, zu schleppen.
Winzige Mühlen, wie sie mich eigentlich schon seit Corneşti begleitet haben, klappern im Tal,
und drüben in Godeanu, dem nächsten Dorf, finde ich dann den Anschluss an die Straße
zurück ins Cernatal – sie gehört zwar schon zur Kategorie der Landstraßen, ist aber vorläufig
noch recht schmal und holprig –, und der lange Marsch zurück beginnt. Zur Linken in stets
wechselnden Bildern die riesige Felswand des „Vârful lui Stan“, und von oben, von der
Wasserscheide zwischen Cerna und Schil, dann eine großartige Fernsicht: ganz, ganz weit
im Norden Gipfel an Gipfel, das Godeanu-Gebirge, Zweitausender in glitzernder Pracht.
Schnee, erstaunlich viel Schnee für Mitte Mai.
Dann wieder die reißende, schäumende Cerna. Ich habe Glück, ein Kleinbus nimmt mich mit
bis hinauf zum Stausee. Das Vorhaben, hinauf zur Quelle zu wandern, ist natürlich endgültig
gefallen, aber auch der Blick von der Dammkrone über den See, in dem sich nochmals die
Schneeriesen des Godeanu kopfstehend spiegeln, lohnt sich. Es geht wieder talabwärts. In
der Bauarbeiterkolonie gibt es einen Lebensmittelladen, doch ich kann, da mein Rucksack
dank Isverna noch fast voll ist, auf ihn verzichten. Dann liegt nach einer Wegkehre Cerna-Sat
tief unter mir. Vom Dorf geht’s dann nochmals ein Stückchen flussaufwärts zur Corocoaia,
der schaurig-düsteren Schlucht, die sich der vor dem Schwert Iovan Iorgovans fliehende
Drache durch die Felsen riss. Die Landschaft ist so grausig-schön, dass man wirklich an den
Drachen glauben muss, auch wenn man weiß, dass er Cerna heißt und sein rasendes Blut
Wasser ist.
Morgendliche Wanderung durch liebliche, taufrische Landschaft bei lieblichem,
sonnenkosendem Wetter. Doch bald treten wieder die Felswände hart ins Tal, und überall,
wo ein kleiner Bach sie im stürmenden Drängen zur Cerna zernagt hat, locken tiefe
Schluchten zu Abenteuern. Leider bin ich in Zeitnot!
Der Bobot. Eigentlich nicht allzu groß, dieser Felszacken, aber doch scheint er mit seiner
Wucht buchstäblich das Tal zu sperren und wild schäumt der Fluss auf, um sich dann
aufatmend wieder in sanftem Wiesental auszuruhen. Von drüben kommt die Straße, auf der
ich gestern von meiner Wanderung durch die oltenischen Dörfer zurückgekehrt bin.
Bauernhäuser liegen verstreut im Tal, bei der „Piatra Puşcată“ kreuze ich wieder den
Patrouillenweg der ehemaligen Grenze. Es folgt die engste Stelle des Tals, die Straße ist
manchmal buchstäblich als „Halbtunnel“ in die Felsen gesprengt, und es scheint fast
unmöglich, dass die Laster hier durchkommen. Und doch bringen es die Fahrer fertig.
Und dann wird ein Lagerplatz für die letzte Zeltnacht gesucht.
Ich stehe mit der Sonne auf. Doch das will ausnahmsweise nicht viel bedeuten, denn hier dringen ihre ersten Strahlen erst spät ins enge Tal. Obwohl ich eigentlich den letzten Talabschnitt, den ich eine Woche vorher bei strömendem Regen durchwandert habe, heute bei Sonnenschein richtig genießen wollte, tut nun Eile Not und ich bin froh, dass mich ein Laster mitnimmt. Zwei Kilometer weit begleitet uns die Felswand des Inălăţ – ich denke an die Nacht im alten Stall in der Polje hoch oben unter seinem Gipfel. Dann wieder die Baustelle im Tal, der Thermalstrand, der Räuberberg, das Hotel über der Straße, die ersten weißen Villen – Herkulesbad. Die Wanderung, die eigentlich ganz anders verlief als gedacht, war dennoch oder gerade deshalb einmalig.
(Verlag Neuer Weg, Bukarest - Komm Mit 85, S. 34 – 41)
Seite | Bildunterschrift |
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34 | Wuchtig überragt der Inălăţ das Tal. |
36 | Winzige Mühle bei Gorneşti. |
38 | Wohlbewachtes Zelt. |
41 | Eine der zahllosen Seitenschluchten des Tales. |