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Von Grat zu Grat

Genussklettereien zu jeder Jahreszeit

von Wolfgang Keul

Oben auf der Gipfelplatte aus grauem Sandstein kalte Windböen. In der Ferne graue Wolkenschichten mit Schuler, Hohenstein und Krähenstein. Das gelbe und das rote Seil liegen auf der Platte, rutschen sachte in die Spalte zwischen Sandsteintafel und Konglomerat, wo einst Klettermax Csallners Karabiner auf Nimmerwiedersehen verschwand. Wir machen zwei „Gipfelfotos“ mit Dans Kamera. Darauf bereitet Dan das Seil zum Abseilen vor. Der Wind bläst kalt und in heftigen Stößen.

3 Uhr. Telefonweckdienst scheucht mich auf.
4 Uhr. Der Zug rattert in den finsteren kalten Morgen.
7 Uhr. Zwei alte Rucksäcke hängen in Bălans Sommerküche, sie enthalten Seil, Schlosserei, wetterverblichenen Anorak, Jeans und Kletterschuhe. Bălan ist die Familie in Buşteni, wo wir unsere Bleibe haben. Costică ist 70 und arbeitet im Forst. Veta ist 60 und versorgt das Haus. Es gibt noch weitere vier Bălans. Der jüngste ist 5 und hilft der Oma beim Hühnerfüttern.
8 Uhr. Auf geht’s durch das raschelnde Laub des Munticelu. Ende September beginnen die Bäume kahl zu werden.
Refugiul Coştila. Hier wird „top-rope-gebouldert“ (für Laien: mit Seilsicherung von oben an einem Felsblock geklettert, bis der Kletterer ins Seil stürzt). Wir alten Hasen lassen das junge Gemüse top-rope-bouldern und keuchen die Gălbenele- Schlucht empor. Seil, Karabiner, Trittleitern, Expressschlingen, Kletterschuhe – alles baumelt an uns herum. In der Tasche ein Apfel.
Den engen Kamin krabbeln wir spreizend und stemmend hinauf. Erschöpft sinken wir ins Gras. Noch ein Kraftaufwand, und wir sind hoch oben am Einstiegsband, rollen die Seile auf und binden uns ein. Die Schinderei hat ein Ende, das Klettern kann losgehn! Die ersten, die hier kletterten, waren Gheorghe Roşculeţ und Dinu Cunescu 1943. Auf ihren Spuren steigt Dan die Schrofen empor, auf allen vieren, sich an gewachsenem Fels, losen Steinbrocken und lockeren Grasbüscheln festhaltend, rudert durch ein Latschendickicht und hält an einer Felsstufe. „Stand! Nachkommen!“
Jetzt bin ich dran. Leicht überhängend, ein Haken. Kleinigkeit, bei einigem Training. Dann Trittleiter zu Hilfe, hoch oben ein griff und Zug, hopp, wir sind oben. Eine Terrasse mit Schotter und kümmerlichen Latschen nimmt uns auf. Dan steigt weiter, eine kleine Wand empor, Riss schräg links, sechs haken, breites Grasband.
Wieder steige ich vor: ein weiter Riss zwischen Wand und einem abgerundeten Pfeiler, großer Ringhaken links, der zweite tief versteckt im Riss, Stand auf kleiner Kanzel mit Felsnische. Hier entlud sich vor Jahren ein Hochgewitter über uns.
Dan spreizt die senkrechte, luftige Verschneidung empor, die so kühn aussieht und so wunderbare Griffe und Tritte hat, dass die 2 – 3 Haken eigentlich überflüssig sind. An ihrem oberen Ende sitzt man rittlings auf der schmalen Gratstufe, einen bombenfesten Standhaken im Rücken. Über dem Grat, der sich bald verbreitet, erreiche ich die Coman-Führe (Ion Coman und Oskar Schöbesch, 1940). Die nächste Seillänge führt auf den Schultergipfel – Umărul Gălbenele. Halb eingezwängt in einer Spalte zwischen Gipfelmassiv und einer riesigen, abgesprengten Schuppe robbt man zum tischplattenähnlichen, etwas schiefen Gipfel. Nun geht es hinab in die Scharte zwischen dem vorgeschobenen Schultergipfel und dem Bergmassiv. Coman machte mir eins vor, wie man sich hier durch einen engen Schlund hindurchquetschen kann. Wir ziehen jedoch diesmal das bequemere Abseilen vor. Dem gesund aussehenden Haken vertrauen wir unser Leben an, in der Hoffnung, dass er nicht ausgerechnet jetzt mit uns 'rausfliegt.
Die Scharte ist schmal und durch einen Klemmblock oben in ein Portal verwandelt, durch das es ganz gewaltig zieht. Wir klettern schnell weiter. Noch zwei Sicherungshaken, dann legt sich der Grat zurück – wir haben es geschafft. Radu Slăvoacă hat hier noch zwei Seillängen als Zugabe gefunden. Wir verzichten darauf, es ist zu kalt. Nun wird in die Südflanke gequert und seilfrei über Gras und wasserüberlaufene Felsplatten zum Großen Band aufgestiegen. Im Frühling blüht hier der Enzian, das blaue Veilchenvolk steht in Scharen herum und Pölsterchen mit rotem Steinpech überziehen die kahlen Felsen.
Hier oben, zwischen Hornul Coamei und Scoruşi-Mălin-Schlucht, ist der Blick frei zum Omul samt Gipfelblock, Hütte und Wetterwarte, Colţii Morarului, Colţul Mălinului, Dintele. Halb stolpernd, halb rutschend, immer auf der Hut vor einem endgültigen Absturz, beginnt der Abstieg.

Die Roşculeţ-Führe am Umărul Gălbenelelor ist als Genusskletterei eingestuft. Dem Ausdruck begegnete ich erstmals bei Walter Pause: „Der erfahrene Bergsteiger verbindet mit dem Begriff Genusskletterei die Vorstellung von besonders günstigen, wenn nicht idealen Umständen: etwa mittlere Schwierigkeitsgrade (II, III und IV), vor allem aber festen und gutgriffigen Fels, eine klare, von der Bergnatur vorgezeichnete Routenführung und relativ geringe objektive Gefahren.“
Solche Routen klettert man immer wieder, ohne ihrer überdrüssig zu werden: An besonders sonnigen Tagen im Frühling, wenn der Schnee dahin schmilzt und man ein Kribbeln in den Fingern spürt; im Sommer, wenn die Sonne unbarmherzig brennt und man sich auf ein Sonnenbad in der kühlen Brise am Grat freut; im Herbst, wenn die Fernsicht besonders klar ist und im Tal drunten ein Nebelmeer wogt; im Winter, wenn man plötzlich Lust zum Klettern verspürt und der Frühling noch weit ist.
An einem dieser goldenen Tage ist die Creasta Coştila-Gălbenele wieder einmal fällig. Erstbegangen wurde der Grat 1936 durch Nae Baticu, Dan Popescu, Toma Boerescu, Costache Conteş und andere vier Alpinisten, eigentlich viel zu viele für eine Seilschaft! Diesmal, bei meiner 27. Begehung, gibt es gleich zu Beginn eine Überraschung: Săndilă und ich steigen gerade die ausgesetzten Schrofen empor, da erscheint knapp 40 m über uns auf einem Absatz ein Bär! Als er merkt, dass sich die Entfernung zwischen ihm und uns bedenklich verringert, verschwindet er im Latschendickicht.
Die Höhe über dem Schluchtgrund wird immer größer. Erst eine Seillänge unter der Gratlinie – unter einem weit ausladenden Dach – steckt der erste Haken. In freier Kletterei erreichen wir den Grat. Tief unten, „fast senkrecht“ unter uns, liegt die Berghütte Refugiul Coştila, klein wie eine Zündholzschachtel. Noch tiefer unten Buşteni und jenseits des Tales die Gârbova- Berge, im Norden das unvermeidliche Panorama von Predeal und Tömösch-Tal zwischen Schuler und Hohenstein.
Aus der Gălbenele-Schlucht beobachten uns Leute, und auf dem benachbarten Grat Creasta Uriaşului (Creasta Vulturilor) klettert eine Seilschaft.
Die nächste Seillänge ist leicht prickelig, leicht überhängend. Tief krallt sich meine linke Hand in den mit schmieriger Erde gefüllten Riss, hoch angelt die rechte nach dem Haken, die Fußspitzen stehen gespreizt auf winzigen runden Steinchen. Endlich Stand! Auf einen kurzen, senkrechten Riss folgt eine weite Schotterterrasse. Stufenweise geht es höher zu einem Sandsteinband und links hinaus auf eine steile, frei kletterbare Rampe aus grasdurchsetztem Fels. So geht es munter weiter: Ein Latschenfeld, eine Rampe, ein langer Kamin mit 3 – 4 Zwischenhaken, ein Band, ein zweiter Kamin, Quergang links unter einem riesigen Dach, dann der freie offene Grat, über den der Wind streicht, rechts Gălbenele-Turm und –Schulter, links Valea-Albă-Grat, vor uns das Große Band und das Coştila- Gipfelplateau. Über die weiten Gras- und Latschenhänge flüchten Gämsen.
Dieses letzte Stück bis zum Großen Band nimmt uns buchstäblich den Atem. Wir keuchen und schnaufen, halten an, um Herz und Lunge zum Normalrhythmus zu verhelfen und keuchen wieder los. Endlich ist der höchste Punkt erreicht. Erschöpft fallen wir in das Edelweiß durchsetzte Gras.

(Verlag Neuer Weg, Bukarest - Komm Mit 85, S. 142 – 147)

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