Kleiner Hattert, Große Herden
von Herbert Hoffmann
Wenn man bei Sălişte von der Fernverkehrsstraße DN 1 (E 15) abbiegt und dem Fuhrweg
folgt, der durch das Tilişcuţa-Tal verläuft, um hierauf in engen Haarnadelkurven über grüne
Matten nach Rod empor zu klimmen, glaubt man sich in eine andere Welt versetzt. Um dich
her ein Blütenmeer, das Summen zahlloser Bienen und das Bim-Bam der Kuhglocken. Auf
der Wasserscheide angelangt, wandelt sich das Bild. Wohin man auch blicken mag, dehnen
sich die Wiesen, als letzte Ausläufer der Gebirgsalmen, die die mächtigen Rücken
urweltlicher Giganten bedecken und diesem Karpatenwinkel sein gastfreundliches Gepräge
verleihen, gleichzeitig aber auch den Vorspann für die spezifische Beschäftigung der
Einheimischen, die Schafhaltung, bilden.
Zwar übt und übte man immer schon den Ackerbau aus. Früh schon rodete der Mensch mit
Feuer und Axt den dichten Urwald, riss mit dem Pflug die Weichen der wenig steilen Kuppen
auf und schuf die bis heute das Landschaftsbild beherrschenden Terrassen. Doch erbrachte
die so der Natur abgetrotzte Krume nur kargen Lohn. Dazu kam, dass entlang des
immerwährenden Zyklus der Generationenfolge die Felder Jahrzehnt um Jahrzehnt an Breite
einbüßten, so dass sich die Geschwister vom väterlichen Erbe kaum noch zu ernähren
vermochten.
Allzu viel gab es hier ja sowieso nicht zu vererben, bloß sandig-steinigen Boden,
buschbestandene Lehnen und tief eingeschnittene Racheln. Und doch zogen die Jungen
nicht fort, weder in die Stadt, noch jenseits des Ozeans, wie so viele andere, denn etwas
hielt sie hier in diesem Bergland, das andere zur Verzweiflung getrieben hätte, auf diesen
Berglehnen, wo ein Pflugrad gerade doppelt so groß ist wie das andere, um die
abschüssigen Flächen bestellen zu können. Hier in Poiana, auf der kleinsten Gemarkung der
Gegend. Dieses Etwas, das sich vom Urgroßvater auf den Großvater und von hier weiter
ununterbrochen fortpflanzte, in nie abreißender Kette weitergereicht, ist der Fleiß und die
Ausdauer, der Wille, allen Gewalten zum Trotz auszuharren, zu überleben, hier, wo der
Boden so wertvoll ist, dass man nicht einmal richtige Höfe kennt. Vielmehr kleben die Häuser
manchmal wie die Schwalbennester neben- und übereinander, umgeben vom Netzwerk der
Umfriedungen und Tore, ineinander geschachtelt wie ein von Riesenhand vermischtes
Puzzlespiel. So stehen, hängen sie da, über uns, unter uns, von der niedrigen Hütte, über
die spitzgiebligen Hochparterrehäuser, bis zum protzigen Vierkanter.
Und obgleich jedes Gehöft ein großes Tor verschließt, ist Poiana eine Ortschaft der
Gastfreundschaft, denn wer aus Poiana stammt, war in aller Welt, aber nicht auf Lustreisen,
sondern mit dem knotigen Wanderstab des Hirten in der Hand; so weiß er, was es heißt, bei
steifem Wind eine heimelige Bleibe, bei klirrendem Frost einen dampfenden Trunk zu finden.
Und wer solche Dinge kennt, verschließt seine Türe auch bei Nacht nicht, denn „Omenie“
wird hier groß geschrieben und ein „om de omie“ bedeutet mehr als „Menschlichkeit“,
„Menschentum“ usw. Es bedeutet, dass man für andere auch ohne eigenes Interesse
einsteht, bereit ist, etwas herzugeben, das wertvoll, ja gar lebenswichtig ist. Man glaubt eben
an den Wert des Menschen im Menschen und lebt danach.
Engbrüstig erhebt sich der „Vlaşin“, eine der engen winkeligen Dorfgassen, ein tiefes Tal
trennt ihn vom „Ghilghiu“, einem vor rund hundert Jahren noch völlig kahlen Rücken, kaum
Weide, eher sandige Racheln, Gestrüpp, zutagetretender Stein. Heute bedeckt ihn ein
dichter Nadelwald, in dem Tanne um Tanne wieder und immer wieder nachgepflanzt wurde,
bis sich Tausende schwarzgrüner Gipfel in den Himmel reckten, hier auf dem Ghilghiu,
übrigens ein Name, der an ein samtäugiges Stierkalb gemahnt, das einen anguckt, als sei
man zwar merkwürdig, doch scheint’s recht unnütz. Und wahrhaftig, so fühlt man sich
zwischen all diesen rührigen Menschen, hier zwischen Frauen, Kindern, Halbwüchsigen,
Greisen... Alle sind emsig dabei, das „Feld“, den Garten zu bestellen, ein paar Handbreit
Ackerkrume und einige knorrige Obstbäume, etwas Roggen, Gerste, Kartoffeln, Pflaumen,
Äpfel... und Gras.
Zweimal pro Jahr läutet das Dengeln der Sensen die Heumahd ein, denn Heu ist hier harte
Währung. Man bringt es ein und verwahrt es in Schobern, unter dem Dach oder auf eigens
zugestutzten Bäumen, um es vor Rehen, Hasen und anderen ungebetenen Gästen zu
schützen. Heu gehört unmittelbar zum Schaf, und Schafe haben die Bauern von Poiana
mehr als jedes andere Dorf der „Mărginimea Sibiului“. Dabei begegnet man den wolligen
Vierbeinern im Ort, von wenigen Ausnahmen abgesehen, kaum. Das Grünfutter der
Almwiesen liegt weit, weit weg auf den weiten Matten des Ştefleşti, des Balu oder irgendwo
in den Westkarpaten, in der Dobrudscha, im Banat. Denn die zur Gemeinde gehörenden
Berge reichen längst nicht mehr aus, um die Herden zu ernähren. So pachtete man eben
Weiden benachbarter Dörfer, und als auch dieses nicht mehr reichte, zog man weiter und
weiter, bis in die Donauniederung oder gar bis in die Steppen der Krim, wo dazumal die
rumänischen Hirten eine eigene Zeitung besaßen, die sie über das Geschehen zu Hause
und in aller Welt auf dem laufenden hielt. Denn heim kehrte der Schafhalter nur selten. Meist
nur, wenn irgendein Ereignis ins Haus stand, eine Taufe, Hochzeit, eine
Erbschaftsahngelegenheit, die seine Anwesenheit erforderte. Und auch da vergewisserte er
sich zunächst, ob seine Herde in guter Obhut sei, genügend Winterfutter vorhanden, gute
Hirten...
Dann kehrte er ins Dorf zurück, wo inzwischen sein Weib, die Kinder und Alten nach dem
Rechten geschaut, die karge Ernte unter Dach und Fach gebracht und das Großvieh besorgt
haben. Da geht nun das Feiern an wie nirgendwo auf der Welt, denn schließlich, „man hat’s
ja!“ So wird also geschlachtet, gesotten, gebacken und gebraten, Wein aus dem nahen
Unterwald herbeigeschafft und der seltene Anlass tüchtig gefeiert, denn viele der
Eingetroffenen haben die Ihren seit einem Jahr nicht mehr zu Gesicht bekommen. Da gab es
Familienzuwachs. Nachbars Haus wurde durch einen Neubau ersetzt, mancher der Alten
fehlt nach Feierabend auf der Bank vor dem hohen geschnitzten Tor, in der patriarchalisch-
einfachen weiß-schwarzen Tracht, am kühlen Abend die kurze „bituşe“ um die Schultern.
Das Hemd aus hausgewebter Leinwand ziert der zarte „ciupag“ (Weste), wie die alten Stuben die
hoch aufgetürmte Mitgift der heiratsfähigen Töchter: die zottigen „straie“, der tuchartige „ţol“,
der als Umhang, Satteldecke oder Sitzunterlage dient, von dem sich ein Poianer nie trennt
und an dessen Webmuster man ihn unter Hunderten von Jahrmarktbesuchern zu erkennen
vermag, denn das Karomuster kennzeichnet ihn wie die schottischen „clans“.
Seine Tracht ergänzt, neben dem im Schluss gereihten Hemd, den engen weißen
Flaushosen und der schwarzen Weste, der beim Hutmacher Dădârlat in Sălişte erworbene
schmalkrempige Filzhut mit schwarzem Band. Winters trägt er auch einen von Babu Achim
Tănase angefertigten Brustpelz mit feinster schwarz-rot-grüner Baumwollstickerei, und im
breiten Ledergürtel steckt die aus Vaideeni in der Oltenia stammende messingbeschlagene
Hirtenflöte, die Meister Tărtăreanu mit prächtigem Dekor versah, als sei sie aus purem Gold
getrieben.
So zieht der „oier“ zu seinen Schafen, die im April aus der Heuwiesenzone auf die Alm
getrieben werden, nachdem man sie ihres Winterkleids entledigte, aus dem die beliebte
„Ţigaiawolle“ gesponnen wird. Früher taten das ausschließlich die Frauen der Schafhalter
während der langen Winterabende, wenn sich die Nachbarinnen zur Spinnstube
versammelten. Längst überschreitet die heimische Wollproduktion den Eigenbedarf, und
Poiana bildet einen der größten Rohwolllieferanten der Textilindustrie...
Doch wir plauschen hier gemütlich bei frischen Krapfen und Glühwein, während draußen und
vor allem weit unten in der Walachei, wo die Herden überwintern, der scharfe „crivăţ“ über
die Stoppelfelder fegt und Mensch und Tier sich schutzsuchend hinter die kleinste
Bodenerhebung verkriechen. Da hat das Hirtendasein wahrhaftig nichts Romantisches an
sich. Da heißt es Tag um Tag und Stunde um Stunde mit den Naturgewalten kämpfen, um
zu überleben. Man braucht Heu für mehr als 500 Schafe, Stroh zum Schutz der eben
geworfenen Lämmer, Proviant für die Hirten und Futter für die Hunde, für die es weder Rast
noch Ruhe gibt, denn selbst wenn die Wölfe im Aussterben sind, gibt es immer noch welche,
die der Hunger bis in die Nähe der verschneiten Ortschaften treibt.
Dann kommt der Föhn und bringt das weiße Schneekleid zum Schmelzen. Kaum erkennbare
Rinnsale verwandeln sich in tosende Wildbäche, zartes Grün sprießt zwischen Eis und Fels,
und hinauf geht’s in die Berge, hinauf zum Cindrel, zum Balindru, zur Guga Mare, von der
die Mär geht, sie sei der „Gogaion“, der von Herodot erwähnte heilige Berg der Daker, über
dem Zamolxes in den Wolken thront. Alle zwei Wochen wechseln sich die Senner oben auf
der Alm ab, soweit es sich nicht um einen der häufigen Familienverbände handelt, wo die
ganze Sippe von April bis September für den Betrieb der Sennhütte sorgt. Täglich wird
zweimal gemolken und heute vor allem der weiße „Telemeakäse“ hergestellt, den man in
Holzzubern zu Tal befördert. Doch stellt der „baci“, wie man den erfahrenen Käser nennt, für
Eigengebrauch auch jetzt noch den fetten gelblichweißen Brimsenkäse her, den man in
Schafbälge füllt und bis zum Herbst im „clear“, einem Nebenraum der Sennhütte, auf einem
Bett von Tannenreisig reifen lässt. Er gehört zu den Leckerbissen der Hirtenküche, vor allem
als „boţ“ oder „bulz“, d. h. in goldgelbe „mămăliga“ gehüllt und am offenen Kohlenfeuer
überbacken, bis der Käse im Inneren schmilzt und das Fett herauszuschwitzen beginnt.
So kommt über Nacht der Herbst, die Tage sind kürzer, die Nächte umso länger geworden.
Dunkle Wolkenbänke verhüllen die Sonne, und nicht endende Landregen weichen Wege und
Stege auf. Da denkt auch der Hirt an den Almabtrieb. „La sfânta Măria Mare merg toate oile
la vale, la sfânta Măria Mică nu mai rămâne nimica!“
(Am 15. August [Tag der heiligen Maria - der Großen] beginnen die Schafe ins Tal zu
ziehen, am 8. September [Tag der heiligen Maria - der Kleinen] sollte kein
einziges mehr in den Bergen sein!) heißt es im Volksmund, wenn die
Herden allmählich durch den Hochwald auf die tiefer gelegenen Heuwiesen ziehen, wo die
kleineren Herden überwintern, während die größeren ins Banat, in die Donauniederung oder
bis hinunter in die Dobrudscha ziehen, wo es noch Maisstoppeln, allerlei Gräser und
trockenes Laub, zu knabbern gibt, das die Schafe unter dem Schnee herausscharren.
Einige unter den Sennern können nun aufatmen, denn die Obhut der Herde liegt in der Hand
erfahrener Hirten, und so geht’s heim nach Poiana, per Bahn oder Autobus, je nachdem, wie
weit man von zu hause entfernt war. Die wenigsten benutzen noch Reit- und Packpferde, die
einst die wichtigsten Beförderungsmittel für Mensch, Wolle, Heu und andere Produkte
bildeten und heute auf der Alm selbst noch bilden.
Daheim ist die Ernte unter Dach und Fach, das neue Schuljahr begann für die Kleineren, für
die Größeren steht die Verlobung bevor. Dann gibt es junge Lämmer, die der Pflege
bedürfen. Dann kommt die Schafschur, der Almauftrieb, die Heumahd, und alles geht seinen
Lauf, Jahr für Jahr, Sommer um Sommer, oben im Gebirge, auf der Alm oder unten in
Poiana...
(Verlag Neuer Weg, Bukarest - Komm Mit 85, S. 109 – 115)
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