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Hoch oben – welche Genugtuung

Klettergipfel im Bucegi-Gebirge und Königstein

von Werner Klein

Die meisten Kletterfahrten der Karpaten enden nicht auf einem Gipfel, sondern auf einem Grat oder einem Band wie zum Beispiel im Bucegi-Gebirge oder auf dem Königstein, oder ganz einfach im Wald, wie in der Bicaz-Klamm.
Ein ganz besonderes Hochgefühl überkommt einen, wenn man einen Gipfel betritt, der nur durch Kletterei erreicht werden kann, und auf dem man sich frei wie ein Vogel fühlt.
Das klassische Beispiel ist der Picătura-Gipfel (Caraiman). Eine lange Schinderei geht ihm voraus durch Dschungel, Brennnesseln, Himbeeren, durch eine von Baumstämmen und trockenem Krummholz verbarrikadierte Steilrinne, zuletzt durch ein ganz schmales Band zwischen Felswand und kratzigen Fichten und Latschen, bis man endlich eine Seillänge richtig klettern kann. Doch hoch oben – welche Genugtuung! Ringsum Luft. Die wilden Wände, Pfeiler und Rinnen der Valea Seacă. Die Tiefe der Valea Albă, die eindrucksvolle Wand dahinter. Gebirge soweit das Auge reicht. Hinunter kann man nur durch Abseilen. Dreimal bis in die Große-V-Scharte. Und noch viermal bis in die Seacă- oder Albă-Schlucht.
Dann ist da der Pintenul-Văii-Albe-Gipfel. Der ist schon viel anspruchsvoller. Man kann ihn natürlich auch auf leichterem Weg „von hinten“ besteigen, doch wer tut das schon. Die klassische Route führt durch den östlichen Riss, ist ein V und endet in der Pintenul-Văii-Albe- Scharte. Abschließend klettert man eine Seillänge frei zum Gipfel. Anders als auf der Picătura, fühlt man sich hier von der nahen Valea-Albă-Wand erdrückt, dagegen ist der Blick zum Tal frei. Abwechselnd am Seil oder in freier Kletterei geht es dann auf der Westseite hinunter.
Den „Kleinen Turm“, Ţancul Mic, besteigt man über die Răsucita- oder Însorita-Führe. Der Platz am Gipfel ist klein und abschüssig, absolut unbequem, doch nimmt man sich sicher die Zeit, die Umgebung zu bestaunen: Policandru-Wand, Coştila-Wand, all die bekannten Einzelheiten der Felsen um die Coştila-Hütte.
Ein Gipfel, wo man gern Anfänger hinaufführt, ist der „Gălbenele-Turm“ – Colţul Gălbenelelor. Aus der Scharte Strunga Colţilor führt ein Messerschneidegrat hin zu einer der eindrucksvollsten Aussichtswarten des Coştila-Klettergebietes, von dem man den besten Einblick in die Gălbenele-Wand, Gălbenele-Schulter und den dazwischen liegenden Kamin Hornul Coamei hat, der von hier aus senkrecht und unmöglich erscheint.
Das Gegenstück zum Colţul Gălbenele, symmetrisch dazu jenseits der Mălin-Schlucht aufgestellt, ist der Colţul Mălinului, vom „Großen Band“ – Brâna Mare – leicht, doch recht „luftig“ zugänglich. Kletterführen sind der Grat Creasta Mălinului und die Kamine Hornul Central – für versierte Bergsteiger – und Hornul Ascuns – für Anfänger, dazu auch noch der Südliche Riss der Armenier. Beide Türme – Gălbenele wie Mălin – bieten bequemen Platz zum Schauen und Rasten.
Die vier Morarul-Nadeln – Colţii Morarului gehören zu den selten besuchten, dabei eindrucksvollsten Kletterzielen. Die kühnste von ihnen wurde von unbekannten Erstbesteigern „Kronenturm“ getauft. Später erhielt die Nadel ein Kreuz zum Gedenken eines im Schneesturm umgekommenen Bergsteigers – fortan hieß sie Acul Crucii.
Vom „Großen Band“ – Brâna Mare a Morarului – kommend kann man alle vier Nadeln überschreiten. Die „Große Nadel“ – Acul Mare – wird an der Ostkante bestiegen, darauf folgen drei Seillängen am schartigen Dachfirst und abseilen in die Acul-Mare-Scharte. Die nächste Nadel ist der „Rote Finger“ – Degetul Roşu, eine schlanke Felssäule, von Süden her über ein Wändchen und eine Felsspalte zu besteigen. Vor wenigen Jahren gab es hier so etwas wie ein Gipfelbuch, ein Einzelfall in den rumänischen Karpaten, das Eintragungen beginnend mit den zwanziger Jahren enthielt. Zurück auf gleichem Weg und hinüber in die Scharte des „Roten Fingers“. Der Acul Crucii folgt, mit einem Aufstieg über die schmale Ost- und abseilen über die senkrechte Westkante in die oberste Scharte – Strunga Acului des Sus. Die letzte Nadel ist die „obere“ – Acul de Sus. An- und Abstieg sind problemlos.
In der parkartigen Zone Peştera-Horoaba-Padina im Ialomiţa-Tal stehen die beiden Klettertürme Turnul Seciului und Turnu-leţul. Sie sind der Mittelpunkt eines Klettergartens. Je drei – vier Kletteranstiege führen auf jeden Turm, hinab geht es abseilend ins Couloir zwischen den Türmen und der Bătrâna-Wand.
Nicht vergessen wollen wir auf der Bucegi-Nordseite das „Kirchl“ – Bisericuţa, auch Turnul Mălăieşti, in der Gletschertalszenerie vor Mălăieşti, zwischen Bucşoi, Podul Spintecăturilor und Padina Crucii mit ihren Steilabbrüchen.
Im Vergleich mit dem Bucegi-Gebirge ist der Königstein viel reicher an isoliert stehenden Felstürmen und –nadeln.
Die bekannteste davon ist gewiss der „Finger des Călineţ“ – „Degetul lui Călineţ“, meist über den Anstieg von FOMINO-KARGEL bestiegen. Drei Seillängen führen auf den Gipfel, wo unter einem Stein eine Glasphiole den Namen des Erstbesteigers Ion Coman und seiner Gefährten enthält. Ein Abseilhaken ermöglicht den Abstieg in die „Fingerscharte“.

(Verlag Neuer Weg, Bukarest - Komm Mit 85, S. 138 – 140)

Seite Bildunterschrift
 
139 Im Klettergebiet des Ţancul Mic.
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