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Zwischen Sage und Wirklichkeit

Wege im Wischauer Land

von Claus Stephani

Welt der Fabelwesen. In den Zipser Volkserzählungen heißt es dass das Wischauer Land – im Osten der Maramureş – einst von Riesen bewohnt war. Einige hausten oben im Gräbengebirge (Grebenul, 1400 m), andere wohnten vornehmer – in Holzburgen, unten in den Tälern. Schon damals gab es die kristallklaren Gebirgsflüsse und Bäche, in denen sich der müde Wanderer heute an heißen Sommertagen erfrischen kann (selbst wenn die Bäuerinnen einige Meter weiter Wäsche pracken): den Wasserfluss (Vasărul), die Wischau (Vişeul), die Kossau (Cosăul), den Mühlenbach (Râul Morii), den Fischtaler und den Weintaler Bach.
In alten Zeiten soll es hier auch Wassermandl gegeben haben, die die badenden Kinder, entfernten sie sich zu weit vom Ufer, in die Tiefe zogen: auch goldene Schlangen gab es, die als Schatzhüterinnen eine Rolle spielten, und große grüne Frösche, von denen es heißt, sie hätten manch fette Gans verschlungen, die ahnungslos das Riedgras rupfte.
Doch, kann man wissen? Vielleicht war es wie in jener berühmten Anekdote, wo zufällig auch ein armer hungriger Holzknecht vorbeikam...
Vor den Riesen lebten im Wischauer Land Drachen. Und vor den Drachen? War nichts! Nichts? Nichts! Sonst hätten ja die Drachen nicht soviel Unfug treiben können, sagen die alten Zipser.
Es gibt eine Welt der Fabelwesen und die Kosmogonie der Volkserzähler; beide spielen in der Denk- und Lebensweise der einfachen Bergbauern eine wichtige Rolle.
Kennt man Sagen und Märchen, lernt man Menschen und Landschaft aus einem ganz anderen Blickwinkel kennen – besonders als Wanderer, als Fremder, als Tourist.
Vor vielleicht tausend Jahren, heißt es in einer Zipser Sage, standen am Eingang zum Weintal, in der Nähe von Mittelwischau, zwei mächtige Hunde aus Stein, die von den Riesen dort als Wächter aufgestellt worden waren. Damals durfte kein Mensch das Tal betreten...

An alten Holhäusern vorbei. Heute kann man auf mehreren schönen Wanderwegen ins Weintal (Valea Vinului) gelangen – sogar bis ans Ende „zum Fels“, wo angeblich drei „Riesenmarl“ (Riesenmädchen) begraben sind.
Es ist eine besondere Landschaft, die sich dem Wanderer freundlich öffnet, eine eigenartige Welt, die den Fremden erwartet und mit phantastischen Wesen bekannt macht, so dass er meinen könnte, es gäbe sie tatsächlich: die Waldmandl und Waldweibl, die Kornmutter und Wettermacher und wie sie nun alle heißen.
Doch kehren wir zur Wirklichkeit zurück, obwohl die Welt der Folklore – wie schon Ovidiu Papadima 1941 schrieb – „bis auf das winzigste hin beseelt“ und jeder Bergbauer „Realist und Phantast zugleich“ ist.
Kommt man von Mittelwischau (Vişeul de Mijloc) hoch, so ist jene Stelle, wo einst die zwei steinernen Riesenhunde gestanden haben, insoweit „zu erkennen“, als es hier, oberhalb des Weintaler Baches, am Abhang des Auschberges (Aoşul, 668 m) ein kleines Plateau gibt. Von da bietet sich einem eine beeindruckende Aussicht: östlich zur Obtschina (1039 m), nördlich zum Maximgebirge (Maximu, 1220 m) und südlich, in Richtung Kleinbotschko (Bocicoel) zum Raschkaberg (Raşcu, 858 m).
Der Weg durchs Tal bis zum malerisch gelegenen gleichnamigen Weiler ist etwa 8 km lang; er führt an alten Holzhäusern vorbei, wo an Sommertagen farbenprächtige Stickereien „zum Lüften“ ausgehängt sind. Die meisten Gehöfte am Weintaler Bach könnten auch in einem Dorfmuseum stehen: es sind Kunstwerke der Volksarchitektur.
Verbringt man den Urlaub in Oberwischau (Vişeul de Sus), so kann man auf wenigstens drei Wegen aus dem Stadtteil „Zipserreih“ ins Weintal wandern: von der Mittelgasse (Str. 9 Mai), durch die Friedhofgasse (Cimitirului), den Gräntje (Rodnei) hinauf, über die Wiesen des Ersten Berges (Poduri). Dabei kommt man an schönen alten Zipser Siedlerhäusern vorbei, die aus behauenen Rundstämmen im vorigen Jahrhundert errichtet worden sind und ein typisches Vordach („Radl“) haben.

Zu „Ter Kaldi Kuchl“. Bei einem Brunnen am Ersten Berg, dort, wo „das haus im Eck“ steht, zweigt links ein Fußpfad ab, während der Hauptweg geradeaus, zwischen dem „Schlecherperg“ (Schlehdornberg) und dem „Tem Jurtschuk sein Perg“ (Jurtschuksberg) weiterführt. So gelangt man bald an eine Kreuzung: hier geht es rechts zum Weiler Fischtal (Valea Peştii) und links zum Weintal hinunter.
Man kann aber auch weiter geradeaus wandern, am Schlangenberg und am Pfaffenhügel (beide links) vorbei und erreicht das Weintal so durch „Tie Kaldi Kuchl“ (Kühle Küche), wie ein sehr schattiges Tal heißt.
Dieses ist der längste Weg, doch wird man für die Mühe durch die Landschaft reichlich entschädigt. Wer eine Kamera und Farbfilme mithat, sollte sparsam knipsen, denn Motive bieten sich auch im Weintal immer wieder an.
In „Ter Kaldi Kuchl“, berichtet eine Sage, haben früher die Riesen die Fleischfladen an den Bäumen aufgehängt; in der Kälte konnten sie nicht verderben. Unterhalb des Pfaffenhügels, auf „Ter Rundi Wiesn“ (Runde Wiese), feierten die Riesen ihre Feste. Hatten sie keinen Schnaps mehr, tranken sie frisches Quellwasser aus „Ter Riesin ihr Prindl“ (dem Brunnen der Riesin), das sich auf „Ter Nainti Wiesn“ (Neunte Wiese) befindet.
Phantastisches und Mythologisches verbirgt sich in dieser Landschaft, macht sie einmalig und liebenswert – auch für den fremden Wanderer.

(Verlag Neuer Weg, Bukarest - Komm Mit 84, S. 153 – 157)

Seite Bildunterschrift
 
153 Blumen und Farben „zum Lüften“ aufgehängt.
156 Zipser Holzhaus mit „Radl“ – Schmuckstück der Volksarchitektur.
157 Still und einsam im Land der Legenden: das Weintal.
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